Der Prozess von Kischinew

Wohl nur in Russland konnte es geschehen, dass für einen Prozess wie den Kischinewer*), den die gesamte Kulturwelt gespannt erwartet hatte, der Ausschluss der Öffentlichkeit von oben herab dekretiert wurde. In jedem anderen Lande hätte man sich gescheut, die von den Besten des Volkes ersehnte Wahrheit zu verhüllen. Allein es war tatsächlich unmöglich, diese für Polizei und Verwaltung so blamablen Gerichtsverhandlungen vor aller Welt abzuhalten. Denn auch in diesem Segmente der Kischinewer Vorgänge — sollten doch dem ersten Prozess einundzwanzig andere folgen — hat es sich gezeigt, dass die gegen die russische Verwaltung in der europäischen Presse und teilweise selbst in den unter einem Damoklesschwert befindlichen russischen Zeitungen erhobenen Beschuldigungen keineswegs übertrieben, vielmehr von der Wirklichkeit überboten waren. So wurde es notorisch ei-wiesen, dass die Judenschinderei regelrecht vorbereitet worden war. In welchem Grade die Kischinewer Verwaltungsorgane an der Inszenierung der Exzesse sich beteiligt hatten, konnte und durfte natürlich ein an Händen und Füßen gebundener Gerichtshof in Bezug auf die einzelnen Personen nicht aufklären. Aber was selbst vor diesem Gericht zutage trat, lässt keinen Zweifel mehr aufkommen, dass die Kischinewer Brutalitäten vor allem dem Verhalten der Polizei zuzuschreiben, zum Teil ihr Werk sind.

*) Das nachfolgende zusammenfassende Bild des Prozesses von Kischinew wurde von uns seinerzeit auf Grund einer Fülle von Materialien, die uns zur Verfügung standen, in möglichst gedrängter Form entworfen und zum größeren Teil damals in der „Nation" veröffentlicht. Wir reproduzieren die damalige Analyse der Prozessergebnisse, die durch spätere Mitteilungen und Erfahrungen keineswegs beeinträchtigt worden ist. Wir haben unsere Ausführungen durch eine Reihe von Zusätzen ergänzt, mussten es uns aber aus Raummangel versagen, allzu große Ergänzungen vorzunehmen und auf den Prozess noch näher einzugehen, so interessant und belehrend auch die zahllosen Szenen vom sozialpsychologischen Standpunkt sein mögen.
Dagegen schien es uns nicht zweckentsprechend, solche Stellen, die ihrem Inhalte nach Angaben der vorangegangenen Monographie wiederholen, schon aus diesem Grunde zu streichen. Das Bild des Prozesses würde sonst verwischt werden. Sodann ist es gerade von Interesse, festzustellen, bis zu welchem Grade auch der Kischinewer Prozess die haarsträubenden Vorgänge zu beleuchten vermocht hat; denn alle Angaben, die in den Betrachtungen über den Prozess angeführt werden, sind eben diesem entnommen.


Sicher ist, dass Ustrugow, der damalige Vizegouverneur von Kischinew und Zensor, am blutdürstigen Hetzblatt ,,Bessarabetz" persönlich mitgearbeitet hat. Zeuge Bürgermeister a. D. Schmidt hat vor Gericht geschildert, welche intimen Beziehungen zwischen Kruschewan, dem Herausgeber des Hetzblattes, und Ustrugow, seinem Mitarbeiter und offiziellen Zensor, geherrscht haben. Dies ging so weit, dass Kruschewan selbst die von Ustrugow gestrichenen Stellen ruhig in seiner Zeitung veröffentlichen ließ, ohne die für jeden andern in einem solchen Fall unvermeidliche Inhibierung des Blattes befürchten zu müssen. Was dies zu bedeuten hat, kann nur der verstehen, der den „Bessarabetz" zur Zeit seiner stärksten Aktivität gelesen hat. Man denke sich, dass ein Pückler zu einer auf den niedrigsten Kulturstufen befindlichen Gesellschaftsschicht tagtäglich in spaltenlangen Artikeln, Notizen, Briefen, Antwortschreiben usw. unverhüllt und mit den rohesten Ausdrücken von der Notwendigkeit spricht, die Juden abzuschlachten, dass er Hunderte von Malen die Masse geradezu zum Judenmorde auffordert! Ja, dies gibt erst eine schwache Vorstellung von den wahnwitzigen Ausfällen des „Bessarabetz", der anstandslos einen Kreuzzug gegen die Juden predigte. Und dieses Blatt durfte unbehelligt erscheinen und genoss in solchem Masse den Schutz der Ortsverwaltung, dass sie das Gesuch um die Erlaubnis zur Herausgabe eines neuen Blattes mit anderer Tendenz nicht einmal an die höheren Instanzen abgeschickt hat.


Dass die Polizei nichts unternommen hatte, um die bevorstehenden Metzeleien zu verhindern, konnte sie trotz aller Heuchelei selbst nicht leugnen. Wochenlang wusste jedermann in Kischinew, dass an den Ostertagen blutige Judenkrawalle stattfinden würden. Die Polizei war zehn Tage vor den Exzessen, wie Polizeileutnantsgehilfe Dobrosselsky bekunden musste, gewarnt, der Gouverneur ebenfalls. Aber die sonst mit der äußersten Härte verfahrende Polizei Ließ ruhig die Verbreitung aufwieglerischer Proklamationen zu, die die Judenmetzelei zu Ostern ansagten und den Exzedenten Straflosigkeit zusicherten, während ein christliches Restaurant mit Plünderung bedroht wurde, falls die Proklamation nicht verlesen würde. Ruhig sah die Polizei mit an, wie vor dem Fest Leute in die Häuser gingen und genau notierten, wo ein Jude, wo ein Christ wohne. Dass die brutalen Ausbrüche des Hasses fast mit militärischer Disziplin organisiert worden waren, ist im Laufe des Prozesses mit der größten Bestimmtheit festgestellt worden. Es ist aber weiter erwiesen, dass Polizisten zum einfachen Volk vor Ostern gesagt haben, es sei ein Ukas des Zaren angelangt, die Juden drei Tage lang zu schlagen. Vor allem jedoch ist das geheimnisvolle Treiben des Baron v. Lövendal, des Vorstehers der Geheimpolizei, vor den Kischinewer Mord- und Raubtaten mit unheimlichem Lichte beleuchtet worden. Der Mann, der, aus Petersburg angelangt, einige Monate vor den Krawallen wie ein Meteor am Kischinewer Polizeihimmel aufgetaucht war und bald nach dem Exzess verschwunden ist, hatte in der unglücklichen Stadt viel zu tun. Von Zeugen und Anwälten wurde in fast unverhüllter Form gegen ihn die Beschuldigung erhoben, dass er der eigentliche Organisator der Schreckenstage gewesen sei. Agenten dieses Lövendal waren in der Menge und hetzten sie mit den Worten: ,,Schlaget die Juden!" Wie der politische Gefangene Kretschmar dem Petersburger Schriftsteller und Mitarbeiter der Zeitschrift „Obrasowanie" Ascheschow erzählt hat, befanden sich unter den Verhafteten anfangs drei Agenten Lövendals, die jedoch bald freigelassen wurden. Selbst Freynat, der Hauptuntersuchungsrichter während der Voruntersuchung, hat einem Freunde dieses Ascheschow erzählt, dass Lövendal wie dessen Agenten an den Ausschreitungen teilgenommen haben. Von ihm hing es ab, wann die Exzesse ein Ende nehmen sollten. Als der Gouverneur auf die Bitten der Juden hin endlich am zweiten Schreckenstage sich anschickte, eine Rundfahrt durch die Stadt zu machen, um mittels strenger Maßnahmen die Krawalle zu unterdrücken, da war es wiederum Baron Lövendal, der durch eine kurze Unterredung den Gouverneur umstimmte, und das Gemetzel dauerte fort.

Zwei Tage lang wurde geplündert und gemordet, ohne dass es, wie es schien, in Kischinew möglich war, diesen ,,Ausbruch der Volksleidenschaft" einzudämmen. Dann aber wurde es plötzlich still, ganz still, so dass man bei dieser Ruhe kaum glauben konnte, dort sei tagelang Blut geflossen. Wodurch wurde diese auffallende Beruhigung erreicht? Schon durch die Nachricht, dass das Militär zugunsten der Juden eingreifen würde, war das feige Mordgesindel hinweggefegt worden. Wie General Bäckmann vor Gericht ausgesagt hat, war kaum das Militär gegen sechs bis sieben Uhr des zweiten Exzesstages in den verschiedenen Stadtteilen aufgestellt, als um acht Uhr, ohne dass ein Schuss gefallen wäre, bereits Ruhe eintrat. Um elf Uhr abends sei die Stadt wie ausgestorben gewesen. Niemand hat während des Prozesses auch nur eine Erklärung abgeben können, warum die 5.000 Soldaten, die in Kischinew sich aufhielten, nicht früher zum Schutze der Gemordeten herangezogen wurden, warum auf Veranlassung von Lövendal ein großer Teil des Militärs zu „geheimen Zwecken" untätig im Gouvernementshof verbleiben musste. In Kischinew klappte überhaupt alles: Nachdem der Gouverneur endlich nach langem Zögern am zweiten Exzesstage um 12 Uhr mittags das Militär zum Einschreiten aufgefordert hatte, da war „schon um sechs bis sieben Uhr abends das Militär über die Stadtbezirke verteilt", um die Worte des Generals Bäckmann, Vorstehers der Kischinewer Garnison, wiederzugeben. So verspottet sich, ohne es zu wollen, der General selbst.

Und wo war die Polizei während dieser furchtbaren Mordtage? Sie waren alle, Polizisten wie Soldaten, auf den Beinen, haben jedoch, wie jetzt nicht mehr zu leugnen ist, fast ausnahmslos nur zugeschaut oder direkt ,,mitgearbeitet". Zahlreiche christliche Zeugen, darunter Advokat Schmitow, Dr. Sizinsky (Bürgermeister und Hauptarzt des Semstwokrankenhauses), Guriew (Verwalter der fremdkonfessionellen Klöster Bessarabiens) u. a. haben bekundet, dass die Ausschreitungen vor den Augen der Polizei stattgefunden haben. Wir greifen einige Einzelfälle aus den Aussagen heraus. So bekundete Stabsarzt Eduard Müller: ,,In der Puschkinskaja plünderten etwa fünfundzwanzig Personen in Gegenwart von drei Polizisten und fünfundzwanzig Soldaten. Als ich die Soldaten fragte, warum sie untätig seien, wurde mir die Antwort zuteil: „Dazu muss die Polizei die Erlaubnis geben."" Oberstleutnant Tarnowsky erzählte: „Um 12 Uhr mittags ging ich mit einer Kompagnie Soldaten in die Stadt. Als ich fragte, ob ich nicht Exzedenten verhaften sollte, die an meiner Patrouille vorübergingen und das Volk aufhetzten, indem sie ihnen erzählten, sie hätten einen geschlachteten Christen aus einer Tonne herausgezogen, wurde mir geantwortet, dass es noch nicht nötig sei." Guriew: ,, Während des Exzesses wandte ich mich an einen mir bekannten Rittmeister einer Streifwache mit den Worten: ,,Was, Sie spazieren herum?" Mit Unwillen erwiderte er: ,,Ja, wir spazieren, da uns nichts anderes befohlen ist." Als ich einen jüdischen Laden zu retten suchte, erscholl eine Stimme aus der Menge: ,,er rettet ein jüdisches Haus, wir wollen ihm dafür die Fenster einschlagen!" Ich bat nun den Polizeimeister um vier Soldaten, er lehnte es jedoch ab. „So werde ich — sagte ich — nach der ersten eingeschlagenen Scheibe schießen." ,,Schießen Sie, ich werde froh sein", antwortete er spöttisch und wandte sich ab." In einem anderen Falle wandte sich ein Christ Ostan an einen Unteroffizier, der mit 15 Soldaten untätig dastand, mit der Bitte, er möchte doch die Überfallenen schützen, er erhielt aber eine ablehnende Antwort. Während einer der schrecklichsten Abschlachtungen, bei der die Brutalität alle Grenzen überschritt, so dass die Exzedenten die Menschen wie Rasende herumhetzten, über ihre Opfer wie Raubtiere herfielen und die empfindlichsten Qualen für sie ersannen, im Hof der Gostinnaja Nr. 33, tat die Polizei, die mit dem Polizeileutnant Solowkin an der Spitze in der nächsten Nähe des Tatorts sich befand, nichts und benahm sich selbst außerordentlich zynisch.

War es nicht logisch, wenn die Menge glaubte, die Polizei und das Militär seien dazu da, um die Exzedenten vor jeder Notwehr seitens der Geplünderten zu schützen? So erzählt Zeuge Advokat Schmitow: ,,Ich habe einen plündernden Bauern gefragt, wie es nur möglich sei, solche Exzesse in Gegenwart des Militärs zu begehen, worauf ich die Antwort erhielt: Das Militär ist gekommen, um uns vor den Juden Schutz zu gewähren." Die Exzedenten mussten, wie Schmitow sich ausdrückte, als sie die Straflosigkeit ihrer Handlungen sahen, zur Überzeugung kommen, dass sie ganz und gar nach dem Gesetze verführen. Einen charakteristischen Fall erzählte Dr. Sitzinsky aus dem Semstwokrankenhause. Da lagen nach den Exzessen verwundete Christen und Juden beisammen. Man las einen Aufsatz des ,,Bessarabetz", in welchem die ausdrückliche Aufforderung enthalten war, die Juden totzuschlagen. Als nun die Juden sagten, dieses Blatt sei ein lügnerisches, beriefen sich die Christen zum Beweis der Wahrheit darauf, dass die Regierung es zu drucken gestattet habe. „Die Regierung hat es erlaubt", also schwirrte es fortwährend in der Luft während der Exzesse, und gar viele waren fest überzeugt, die Regierung habe es befohlen. Warum würde sonst Polizei und Militär allen denen, die sie um Schutz anflehten, antworten, es sei noch kein Befehl erlassen worden, gegen die Exzedenten vorzugehen? Was sollten die Plünderer sonst denken, wenn sie z. B. folgende typische Szene sahen, die Zeuge Fischman vor Gericht bezeugt hat? „Bei der Plünderung meines Hauses", erzählte er, ,,war eine Patrouille zugegen. Der Offizier kommandierte den Soldaten ,,fünf Schritt zurück!", gleichsam, um der Menge der Exzedenten freieren Spielraum zu schaffen. Flehentlich wandte ich mich an Polizei und Militär, aber die Soldaten schlugen mich mit den Kolben."

Geradezu kläglich ist die Aussage des ehemaligen Vizegouverneurs Ustrugow während der Voruntersuchung. Am ersten Tage habe er gegen halb elf Uhr abends vom Wächter des Gouvernementsverwaltungsgebäudes erfahren, dass in einigen Häusern Fenster eingeschlagen worden wären. Am zweiten Tage habe er gleichfalls nur zufällig von der Erneuerung der Ausschreitungen gehört, und um fünf Uhr abends sei er zum Gouverneur gerufen worden, um eine Rundfahrt zu machen und die Plünderer zur Vernunft zu bringen. Ohne selbst an einen Erfolg zu glauben, habe er mit drei Dragonern den Versuch gemacht; so oft er jedoch sich einem Orte der Krawalle genähert habe, seien die Exzedenten fortgelaufen, so dass er nur mit klagenden Juden habe sprechen können. Zweimal habe er den Versuch gemacht, das Militär zu Hilfe zu rufen, um durch eine Umzingelung von beiden Seiten die Flucht der Exzedenten zu hemmen und wenigstens einen Teil derselben zu verhaften, aber beide Male sei ihm eine Absage zuteil geworden. Man vergegenwärtige sich, wie lächerlich der Vizegouverneur sich selbst hinstellt: von den Exzessen, welche eine Welt entrüstet haben, erfuhr er ,,zufällig", und gegen die Exzedenten konnte er nichts ausrichten, da sie ihm stets das Nachsehen gelassen hätten. Der ehrenwerte Hetzapostel wollte besonders schlau seine Taten unter dem Mantel der Lächerlichkeit verbergen, offenbarte jedoch die ganze Heuchelei der Polizei. Mit kühnen Worten charakterisierte ein Verteidiger der Angeklagten, Schdanow, das Verhältnis zwischen Polizei und Exzedenten etwa folgendermaßen: Es sei absolut ausgeschlossen, dass die Plünderermassen einzig und allein aus eigenem Antrieb losgegangen seien. Er wisse nicht, woher ihnen dieser Befehl gekommen sei, wer sie gezwungen habe, die Juden zu schlagen, aber er wisse wohl, dass ,,die Polizei sich ihnen nicht habe widersetzen können. Der Polizeileutnant Solowkin konnte selbst nichts tun und wandte sich deshalb an den Polizeimeister, der Polizeimeister an den Gouverneur, der Gouverneur an Baron Lövendal. Ich weiß nicht, was sie alle am Einschreiten verhindert hat, ich weiß nur, dass die Metzelei erst dann ein Ende nahm, als von oben die nötige Weisung eingetroffen war."

Allein nicht nur das passive Verhalten der Polizei gegenüber den Exzedenten trat durch den Prozess klar zutage. Wie festgestellt wurde, beschränkte sich die Polizei nicht auf diese bescheidene Rolle. Namentlich niedere Polizeiorgane nahmen an den Ausschreitungen teil, viele Schutzleute hetzten die Plünderer zur energischen Arbeit auf. So große Mühe nachher auch darauf verwandt wurde, die Angeklagten durch Zusicherung milderer Strafen von Aussagen abzuhalten, welche die Polizei kompromittieren könnten, — nicht immer gelang dieses Treiben. So sagte der Angeklagte Theodor folgendermaßen aus: ,,Ich bekenne mich schuldig, ich habe geplündert. Ich hatte einen Knüttel, Baifun ein Brecheisen. Die Polizei sagte nur: „schlage die Juden!", worauf ich anfing, Fenster und Türen einzuschlagen. Ein Schutzmann zeigte uns, wo die besten jüdischen Läden sind. Balfun rief mich und den Kameraden Wakar und sagte: ,,Es ist ein Recht vorhanden, die Juden zu schlagen." Die Polizei war die ganze Zeit während der Exzesse in der Puschkinskaja hinter den Plünderern und sprach: „Weiter, weiter!" Der Polizeileutnantsgehilfe Makedon nahm mich am Arm, verhaftete mich und versprach, mich nach zwei Tagen freizulassen. Der Offizier und die Streifwache stürzten mit Geschrei auf die Juden." Zeuge Guriew hörte selber am 7. April einen Schutzmann den Exzedenten zurufen: ,,Schlaget nicht hier, dort ist ein jüdisches Haus!" Um nicht mit den weiteren gleichartigen Aussagen zu ermüden, sei nur noch die allgemeine Äußerung des Dr. Sitzinsky erwähnt. Während der Exzesse sagten die Behörden: „Es schadet nicht, diese Frucht zu schütteln."

Und sie ,,schüttelten" gehörig mit, Soldaten und Polizisten plünderten und stahlen, und ein großer Teil der geraubten Sachen ist bei den Gesetzeshütern geblieben, trotzdem der Polizeimeister, als der Taumel vorüber war, an die Polizeiorgane die Aufforderung richtete, die ,,auf bewahrten" Sachen schleunigst abzugeben, falls sie sich nicht einer gerichtlichen Verfolgung aussetzen wollten. Wie weit die Anteilnahme des Militärs an den Krawallen ging, zeigt die Aussage des Revieraufsehers Blagoi hinsichtlich des Punktes, an welchem er die Aufsicht hatte: ,,Gegen 200 Soldaten plünderten die Waren. Ich konnte keine Soldaten festnehmen, weil drei mir bekannte Feldwebel, die dabei standen, die Verhaftung von Soldaten nicht zuließen. Bei diesen wurde eine Menge geraubter Gegenstände gefunden."

Die meisten Polizeibeamten hatten völlig das Bewusstsein der ihnen im Namen ihres Amtes zustehenden Aufgaben eingebüßt. Der Polizeileutnant Solowkin nahm einzelne Wöchnerinnen unter seinen Schutz — für den Preis von je fünf Rubeln pro Kopf. Nicht weniger interessant ist die Bekundung des Anwaltes Portugeis: ,,In unserem Stadtteil wurde einzig und allein mein Haus geplündert, was mir der Polizeileutnantsgehilfe Sadoroschny versprochen hatte, weil er unwillig geworden war, als ich ihn um Hilfe bat." War schon die Bitte eines Juden um Hilfe vor der Zerstörungswut in den Augen der Polizei eine Sünde, so wurden die Versuche der Juden, sich den Exzedenten entgegenzustellen, mit allen möglichen Mitteln, bald mit lügenhaften Beruhigungen und Schutzversprechungen, bald mit Gewalt, niedergehalten. Sich wehrende Juden wurden von Soldaten geschlagen, und die Polizei verfuhr hierbei mit der größten Energie. Der Polizeileutnant Dobrosselsky hat, wie er selber bezeugte, nicht nur einer Anzahl Juden die Stöcke abgenommen, sondern acht von ihnen inhaftiert, weil sie im Augenblick der Exzesse ihre Pässe nicht vorzuzeigen vermochten. Woran nur eine Kischinewer Polizeiseele beim Anblick fließenden Blutes und tobender Raserei zu denken vermochte! Ihn überbot allerdings ein anderer Gemütsmensch, Polizeileutnant Solowkin, der, als er während des Blutbades in der Gostinnajastrasse 33 auf den Schauplatz der Morde hinkam und von Baranowitsch auf die Leiche seines erschlagenen sechzehnjährigen Sohnes hingewiesen wurde, nichts anderes zu tun hatte, als seine Schuhe zu beschauen, ob sie nicht mit Blut bespritzt seien.

Nicht genug, dass die Polizei die Selbstverteidigung der Juden auch in den äußersten Fällen nicht geduldet hatte, sie suchte noch obendrein daraus tückische Waffen gegen die Misshandelten zu schmieden. Die Tatsache, dass am zweiten Exzesstage ca. 300 Juden des Morgens auf dem Weinplatze sich versammelt hatten, um sich gemeinschaftlich zu wehren, ist bekanntlich in dem in vielen Stücken widerlegten Ministerialbericht so entstellt widergegeben worden, dass die antisemitischen Zeitungen sich nicht schämten, den Spieß umzudrehen und in unerhört verlogener Weise von Exzessen seitens der Juden in Kischinew zu sprechen. Wie es sich in Wahrheit zugetragen hat, lehrt die Aussage des Revieraufsehers Borowitzky, der die betreffenden Juden entwaffnet hat. „Am. 7./20. April (zweiter Exzesstag) sah ich auf dem Weinplatze um sieben Uhr morgens eine große Menge mit Stangen, Säbeln, Gewehren bewaffneter Juden, Es waren gegen 300 Personen. Auf dem Platze war schon eine Anzahl jüdischer Buden zertrümmert. Die Juden liefen auf mich zu, beleidigten mich jedoch nicht, und auf meine Aufforderung, sich zu zerstreuen, antworteten sie: ,,Wenn wir uns zerstreuen werden, wird man uns schlagen, wie es gestern geschehen ist." Die Streifwache kam, und auf unseren Befehl hin gingen die Juden auseinander." Während der ganzen Zeit hatte er, wie er weiter aussagte, nur eine einzige Schramme gesehen, welche Juden einem Christen beigebracht hätten. Hatte doch die Polizei überall dafür gesorgt, dass die Überfallenen nicht einmal in der Lage sein sollten, sich ihrer Haut wehren zu können. Die gegenteiligen Behauptungen einzelner interessierter Zeugen trugen geradezu den Stempel der Lüge. So sagte ein bekannter Kischinewer Hetzer, Pronin, folgendes aus: ,,Nach sorgfältiger Untersuchung habe ich mich überzeugt, dass die Juden selbst an den Krawallen schuld gewesen sind, dass sie früher die christlichen Häuser zu überfallen begannen und damit den Anlass gegeben hatten." Das war doch eine radikale Bekundung, die geeignet wäre, die ganze öffentliche Meinung umzustimmen. Wo aber waren die geplünderten Christen, warum schwiegen sie? Mit einem Schlage konnte ja die Ehre der Exzedenten, der Polizei, des Militärs wenigstens bis zu einem gewissen Grade gerettet werden. Herr Pronin behauptete auch anfangs, eine Menge Beweise für seine Behauptung in den Händen zu haben. Aber in die Enge getrieben, sagte er, dass er keine Namen auswendig kenne, sie seien in einem Notizbüchlein verzeichnet, das er am nächsten Tage dem Gerichtshofe zur Verfügung stellen würde. Und als der nächste Tag, der Entscheidungstag, kam und die Advokaten in den Mann drängten, er solle das welterschütternde Notizbuch nun vorzeigen, da war es ,,gestohlen, vom Dienstmädchen gestohlen". Also sprach Herr Pronin, aber der Gerichtshof brach in ein homerisches Gelächter über die „gestohlenen" Beweise aus. Dieser Herr Pronin hätte gewiss die verschiedensten Mittel angewendet, um Beweise zu schaffen, gewiss auch solche, die nicht ,,gestohlen" werden konnten. Denn eine Woche vor dem Prozesse hatte er zu Polizeileutnant Lutschinsky, wie dieser bezeugte, gesagt: „Für uns ist es notwendig, nachzuweisen, dass die Juden zuerst christliche Häuser zu überfallen begonnen haben." „Für uns"? für wen denn? Und warum ,,notwendig"? Allerdings wird es verständlich, wenn man die Verhetzungskünste und Leistungen der Pronin und Genossen, wie sie im Verlaufe des Prozesses ans Tageslicht kamen, kennen lernt. Man versteht es dann, warum ein Verteidiger der Angeklagten, Ssacharow, als das siebenstündige Kreuzverhör des Pronin zu Ende war, diesem zurief: „Auf dieser Anklagebank müssen nicht jene Leute, sondern Sie sitzen!"

Allein Pronin konnte sich leicht trösten. Er wusste, dass noch viele andere auf die Anklagebank hingehörten, die frei herumliefen und auch weiter hetzen, er wusste, dass von den „Richtigen" niemand im Anklagezustande sich befinde. Da war ein Student Malai, der während der Exzesse durch die Straßen sauste und den Plünderern Befehle austeilte, der immer wieder kam und die Menge mit den Worten: „Kinder, lustiger!" anfeuerte. Da war ein Seminarist Stratilewsky, der mit einem Brecheisen zu den Krawallen sich einfand, da waren Notar Pissarschewsky (der, als die Schande ruchbar wurde, sich das Leben nahm) und ein gewisser, noch jetzt im öffentlichen Leben stehender Sinadino, auf welche die Menge der Exzedenten sich berufen konnte. Vor dem Kleiderladen Fischmans rief Pissarschewsky den Plünderern zu: ,,Was steht ihr, gehet hinein und ziehet euch um!", und ebenso hetzte er gemeinsam mit Sinadino die Plünderer auf die Bank der zweiten Gesellschaft gegenseitigen Kredits: ,,Zerstöret die Judenbank!" Sie und verschiedene andere Leute aus den intelligenten und halbgebildeten Kreisen wiegelten immer mehr die entfesselten Menschenmassen auf, manche von ihnen leiteten geradezu die nummerierten Plünderergruppen, die, wie Rechtsanwalt Königschatz bezeugte, also angerufen zu werden pflegten: ,,Eh, ihr Siebenten! Eh, ihr Sechsten!" Alle die Führer und Leiter der Krawalle sind der Verfolgung entschlüpft, obgleich auf verschiedene von ihnen direkt mit Fingern gezeigt wurde. Denn es war allgemeiner Grundsatz, dass nur die Marionetten, die blinden Werkzeuge, zur Buße herangezogen werden sollten. Kann es doch nicht wundernehmen, dass dort, wo das Menschenleben und das Menschlichkeitsgefühl wertlos waren, das Recht mit Füssen getreten wurde. Die Untersuchungsrichter rekrutierten sich aus denselben antisemitischen Kreisen, welche während, der Exzesse gejauchzt und Bravo gerufen hatten. Wer mit Bewusstsein gehandelt hatte, war frei, und nur die von den Aufwieglern und der Polizei halb betrogenen Plünderer wurden verhaftet. Oberleutnant Tarnowsky erzählte: ,,Als die Verhaftungen schon begonnen hatten, wandte sich ein älterer gebildeter Herr an mich mit den Worten: „Sie spaßen wohl, Herr!" und rief dann der Menge laut zu: ,,Schlaget los, Kinder!" Dieser Mann wiegelte die Masse auf und feuerte sie durch seine Autorität an. Ich habe ihn dann verhaftet, aber er wurde freigelassen." Solche und noch schlimmere Beispiele ließen sich aus den Verhandlungen vielfach anführen. Allein, da sich viele Leute aus der Gesellschaft, aus Polizei- und Militärkreisen zu arg kompromittiert, manche es nicht einmal verstanden hatten, sich rechtzeitig zurückzuziehen, so galt es für die Beteiligten und die Voruntersuchung, die Angeklagten und Zeugenaussagen in bestimmter Richtung zu beeinflussen, umzumodeln, teilweise aus der Welt zu schaffen. Besonders planmäßig ging der aufs höchste bloßgestellte, oben erwähnte Pronin vor. Er suchte alle Kreise zu bearbeiten, schrieb den berüchtigten Artikel „Wer ist schuld?", kam oft ins Gefängnis und bat den Gehilfen des Gefängnisverwalters (wie dieser bezeugt hat), die Verhafteten mit dem Inhalt seines Aufrufs bekannt zu machen. *)

Schlimmer noch als Privatpersonen verfuhren die Untersuchungsrichter, die nicht nur, wie erwähnt, Personen, die ihnen direkt als Täter angegeben waren, nicht festnahmen, sondern auch Verhaftete (z. B. die Agenten des Barons Lövendal) freiließen. Auf die Zeugen übten sie einen geradezu strafbaren Einfluss aus, die Aussagen korrigierten sie nach Gutdünken. So erzählte der ehemalige Arzt des Semstwokrankenhauses, Dr. Doroschewsky, wie der Hauptuntersuchungsrichter Freynat sein Zeugnis korrigiert und Stellen ausgelassen, die er für ,,unnötig" gehalten habe, z. B. die Namen derer zu verzeichnen, welche die Tatsache der in die Nasenlöcher der ermordeten Fonarji eingeschlagenen eisernen Nägel bezeugen könnten. Ein anderes Beispiel: Als Simon Baranowitsch, dessen Sohn, ein sechzehnjähriger Realschüler, in fürchterlicher Weise erschlagen wurde, dessen andere Kinder nur mit der größten Not dem Tode entronnen sind, der selber von tobenden Exzedenten verwundet und herumgehetzt wurde, dessen Frau in Wahnsinn verfiel, als dieser Baranowitsch dem Untersuchungsrichter Misso über das eigentümliche Verhalten der Streifwache, des Polizeileutnants Solowkin und des Revieraufsehers Trofimow, welche das schauerliche Morden in dem Hofe Gostinaja 33 ruhig zuließen, nähere Mitteilungen machte, da begann Misso zu schreien und drohte mit Festnahme. Auch bei der zweiten Vernehmung lehnte er es ab, diese die Polizei kompromittierenden Angaben zu protokollieren. Am schärfsten ging Freynat selber den Zeugen zu Leibe. Als der ehemalige Ladeninhaber Fischman, dessen Kleidergeschäft im Werte von 35.000 Rubel völlig ausgeplündert wurde, vor einem Vertreter Freynats verschiedene Aussagen über das Treiben Pissarschewskys, Sinadinos, des Militärs und der Polizei und zwar auf Grund zahlreicher Beobachtungen machte, da wollte jener diese Angaben nicht niederschreiben und ging zu Freynat ins Nebenzimmer. Nun kam dieser mit einer Peitsche in der Hand und begann dem Fischman mit Gefängnis und Zuchthaus zu drohen. Dieser schickte ihm sodann die Aussagen per Post zu, erhielt sie jedoch zurück.

*) „Besonders interessant", schreibt Urussow in seinen neuerdings erschienenen Memoiren, „war das Verhör Pronins, den die Zivilkläger der Reihe nach auf glühende Kohlen wälzten, indem sie alle Bemühungen darauf richteten, ihn aus einem Zeugen in einen Angeklagten zu verwandeln. Pronin wurde überführt, die aufhetzenden Aufrufe verfasst, die für die Juden gefährlichen lügnerischen Gerüchte verbreitet zu haben. Man hatte sich überzeugt, dass von ihm die Artikel in dem „Snamja" stammten, welche beweisen sollten, dass die Juden selber den Pogrom veranstaltet hätten; man suchte dabei herauszubringen, wer ihm diese Aufsätze korrigiert hatte. Er wurde zum Geständnis genötigt, dass er zum Priester Johann von Kronstadt in Beziehung stand und sich mit dem bekannten „zweiten Sendschreiben" versehen hatte. — — —
Gegen die ersten Personen, die halb Zeugen, halb Angeklagte waren, richtete sich der kühle Sarkasmus von Karabtschewsky, der nervöse Jähzorn von Sarudny, die feine Logik von Grusenberg, die gleich schweren Hammerschlägen unerbittlichen Schlussfolgerungen von Kalmanowitsch. Später, als das ursprüngliche Feuer der Zivilkläger in der Wüste des Verhandlungssaales verbraucht war, begannen die Verhöre der jüdischen Zeugen. Nun wurde es schon klar, dass zur Bestimmung des Schuldgrades der hinter dem Gitter sitzenden Angeklagten die Gabe des Hellsehens erforderlich ist."
Gerade diese Leute waren es aber, die das Verbrechen von Kischinew nachher zu büßen hatten. Die Schuldigen laufen bis auf den heutigen Tag in Freiheit umher und streben mit allen Mitteln, deren sie fähig sind, das Rad der russischen Geschichte nach rückwärts zu drehen. Zu jeder Zeit kann man abermaligen Anstiftungen von Pogromen — und zwar nicht in Kischinew allein — ihrerseits gewärtig sein, da sie ihr Netz über das ganze Reich ausgebreitet haben und bei den entscheidenden Machtstellen von Erfolg zu Erfolg schreiten.

Ein anderes Verhalten hatte man vom Gericht selber erwartet, und die jüdische Bevölkerung hoffte, dass sie hier ihr Recht finden würde. Denn zur Ehre des russischen Volkes muss es gesagt werden, dass die Justiz in Russland, politische Prozesse ausgenommen, im allgemeinen auf einer viel höheren Stufe steht, als die Verwaltungsorgane. Die Erwartungen waren um so berechtigter, als der Gerichtshof sich nicht, wie die Untersuchungsrichter, aus lokalen Richtern zusammensetzte, sondern aus der Kulturstadt Odessa designiert wurde. Studiert man die langen Verhandlungen des Prozesses, so lässt sich zwar nicht sagen, dass der Gerichtshof besondere antisemitische Anwandlungen an den Tag gelegt; speziell der Vorsitzende scheint von solchen frei gewesen zu sein. Aber die Personen, die in einer so wichtigen Sache zu Gerichte saßen, waren sehr schwache Menschen, die allen Forderungen von oben ohne weiteres nachkamen. Es hat sich gezeigt, dass der Kischinewer Gerichtshof nur ein kleines Rädchen in der großen russischen Maschine war. Der Maschinenlenker aber hatte den Weg dieses Rädchens vorgezeichnet, und der von speziellen Beamten kontrollierte Gerichtshof wagte nicht, diese Schranken zu überschreiten. Aufs strengste war dem Gerichtshof untersagt, nach der Entstehung der Krawalle zu forschen. Dieserhalb kam es schon zu Anfang zu einem Zusammenstoß zwischen dem Präsidenten und dem Vertreter der Zivilkläger, Karabtschewsky. Als ein Zeuge von den Heldentaten des Pissarschewsky zu erzählen begann, Ließ ihn der Vorsitzende nicht weiterreden, da derartiges nicht zur Sache gehöre. Vergebens forderte der Advokat Karabtschewsky, dass der Untersuchungsrahmen erweitert würde, so dass die Zeugen über alle Wahrnehmungen während der Exzesse vernommen werden könnten, vergebens schlossen sich diesem Antrag die Verteidiger der Angeklagten an; der Gerichtshof lehnte diesen Antrag rundweg ab.

Trotz aller Einschränkungen kamen doch im Laufe des Prozesses ungemein wichtige Tatsachen und Enthüllungen an den Tag, die allmählich in fast allen Anwälten die Annahme einer Organisation der Judenexzesse zur Gewissheit reifen Ließen. Deshalb stellten sie den Antrag, der Gerichtshof möge beschließen, dass eine Ergänzungsuntersuchung notwendig sei, um den Spuren der Organisation nachzugehen und die Organisatoren zur Verantwortung zu ziehen. Nicht um die Zahl der Angeklagten zu vermehren, führte Rechtsanwalt Kalmanowitsch aus, sei es den Antragstellern zu tun, sondern um die wahren Schuldigen herauszufinden. Darum ermahnte er die Richter, vor keiner Person Halt zu machen, wie hoch auch die von ihr eingenommene Stellung sei. Der Gerichtshof, der in seinen Beschlüssen so gebunden war, dass der Präsident einmal betreffs eines Protestes der Zivilkläger nach Beratung verkündete: „Obgleich der Protest der Zivilkläger berechtigt ist, hat der Gerichtshof doch beschlossen, ihm nicht stattzugeben" — dieser Gerichtshof lehnte natürlich den Antrag einer Ergänzungsuntersuchung ab. Da begab sich jene denkwürdige Szene, dass fast sämtliche Vertreter der Geschädigten und Verteidiger der Angeklagten demonstrativ den Saal verließen und sich von ihren Verpflichtungen lossagten. Von dem großen Stabe der Anwälte (etwa 30 Personen) waren schließlich nur noch der berüchtigte Antisemit Schmakow und ein Kollege verblieben.

Mit hinreißender Beredsamkeit erklärte der große russische Advokat Karabtschewsky diesen Exodus: „Wir haben," sagte er, ,,zu wiederholten Malen die größte Kraftanstrengung aufgewendet, um unsere innere Erregung zu bemeistern und den Ausdruck zurückzuhalten, der sich uns auf die Lippen drängte: „Das ist doch keine Justiz, und hier ist nicht der Tempel der Gerechtigkeit." Dies geschah namentlich so oft, als durch die Zeugenaussagen bekannt wurde, dass die gegenwärtigen Angeklagten nur missbrauchte Werkzeuge seien, zufällig herbeigeführte Leute, welche nicht einmal verstehen, wovon die Zeugen reden und wen sie meinen, indem sie Anzeichen einer bestandenen Organisation und planmäßigen Vorbereitung der grässlichen Bluttaten klarlegten. ,,Wir haben unsererseits das neue Material gewissenhaft zur Kenntnis genommen und uns bei jeder Einzelheit gefreut, welche statt unbestimmter Vermutungen greifbare Beweise zu bieten geeignet war; nun sind, derartige neue Tatsachen mehr als genügend vorhanden, aber wir befinden uns vor einer Mauer, die es uns unmöglich macht, weiter vorwärts zu schreiten. Wir sehen jetzt klar und deutlich das Faktum einer Organisation vor uns; um jedoch uns von diesem Faktum volle Rechenschaft geben zu können, müssten der Staatsanwalt und der Untersuchungsrichter mit ganzer Energie die Spuren der Beteiligung an dieser verbrecherischen Organisation weiter verfolgen."

Karabtschewsky zog dann in seiner groß angelegten Rede zum Vergleich die neutestamentliche Erzählung von der auf Befehl des Königs Herodes ausgeführten Ermordung aller neugeborenen jüdischen Kinder männlichen Geschlechts heran, wie ein Strom von Mördern, unter denen manche gedungene, manche überzeugte freiwillige Fanatiker seien, sich über die Stadt ergieße, wie sie die jüdischen Häuser überfallen, Gewalttätigkeiten begehen, kleine Kinder ihren Müttern entreißen und die Knäblein erdrosseln. „Es war ja einfach die Ausführung eines verbrecherischen, höheren Ortes ausgegebenen Befehls!"

„Nun erinnern Sie sich," meinte er weiter, „was viele Zeugen ausgesagt haben, dass mehrere Leute aus dem Volke einige Tage vor Ostern die Juden neckten und ihnen zuriefen: „Wozu schmückt ihr denn eure Wohnungen zum bevorstehenden Feste, es ist ja ein Befehl herabgelangt, euch alle insgesamt totzuschlagen!" Diese Überzeugung war eine allgemeine." Die Aufgabe des Kischinewer Gerichts sei, alle Mittel zur Erforschung der Wahrheit zu erschöpfen und vor allem festzustellen, wer der eigentliche Entrepreneur, der Urheber der erlogenen Gerüchte von einem kaiserlichen Befehle, die Juden totzuschlagen, gewesen sei, wer diese Version wie eine Brandfackel in die Volksmenge geschleudert habe. Man müsse ferner erfahren, mit welchem magischen Worte Baron Lövendal, der während der Exzesse gewiss eine traurige Rolle gespielt, es vermocht habe, den Gouverneur von Raaben von energischen Schritten während der Krawalle zurückzuhalten.

Karabtschewsky ist sich aber dessen voll und ganz bewusst, dass die Forderungen, die er im Namen des gesamten Privatkläger Stabes an den Gerichtshof stellt, vor einem russischen Tribunal zur Zeit des Plehweregimes ungehört verhallen werden. Denn mit einer gewissen Resignation fährt er also fort: „Im Gegensatze zu den von einigen Verteidigern geäußerten Hoffnungen bin ich in Bezug auf den schwebenden Prozess kein Optimist; ich glaube kaum, dass es gelingen wird, alle wirklich Schuldigen zu überführen und zu bestrafen. Es gibt historische Momente, in welchen man die volle Wahrheit nicht enthüllen kann, und ich glaube, wir befinden uns jetzt in einem solchen Zeitpunkt, allein das darf den Richter nicht verhindern, seiner Pflicht bis zum Ende nachzukommen; er muss alle Mittel erschöpfen, die ihm das Gesetz an die Hand gibt. Ich will genau angeben, in welchen Tatsachen und Umständen ich die Anzeichen einer Organisation und Vorbereitung zu den Exzessen finde. Es sind eben diejenigen Tatsachen, welche seitens der Voruntersuchung nicht nur nicht genügend beleuchtet, sondern geradezu sorgfältig verschwiegen wurden. Vor allem bitte ich Sie, Ihre Aufmerksamkeit auf das äußere Bild der Vorgänge des 20. April zu lenken; in der Stadt war eine mehr als außerordentlich starke Militärmacht, die zur Unterdrückung ausreichend gewesen wäre; die Regimenter standen in Bereitschaft, in Erwartung der Befehle und inzwischen gänzlich untätig. Die Juden hatte man entwaffnet, man gestattete ihnen nicht, sich zu sammeln und sich zu verteidigen. Dann geschieht, wie auf ein gegebenes Signal, etwas Entsetzliches: Es zerstreuen sich kleine Banden in den Straßen, zu gleicher Zeit entstehen an unzähligen Orten, an allen Ecken und Enden der Stadt gleichmäßig verlaufende Ausschreitungen."

„Auf Grund verbürgter Tatsachen" — ruft er aus — ,,muss man sagen, dass ganz Kischinew während der Exzesse gleichsam in einen gigantischen römischen Zirkus des Altertums verwandelt war, wo vor den Augen des vergnügt dreinschauenden Militärs, der festlich applaudierenden Menge in der Tiefe der Arena sich das entsetzliche blutige Schauspiel entwickelt, dass von der einen Seite wehrlose Opfer hereingejagt, von der andern wütend gemachte Bestien gegen sie losgelassen werden ; auf ein gegebenes Zeichen heißt es: „Schluss!", und das grauenhafte Schauspiel endet plötzlich. Ich behaupte, dass die äußeren Merkmale der Vorgänge die besten Beweise für ihren inneren Zusammenhang und ihre Organisation sind."

Karabtschewsky deutet noch auf die Zwecke hin, die Lövendal mit der Inszenierung der Krawalle gehabt haben konnte. Es hatte sich nämlich herausgestellt, dass für die Zeit der Exzesse eine regierungsfeindliche Demonstration erwartet wurde. Da nun ein beträchtlicher Teil der jüdischen Jugend an den allgemeinen sozialistischen Kundgebungen teilnimmt, so hatte offenbar der Judenkrawall den Zweck, diese Demonstration unmöglich zu machen und, was noch wichtiger war, überhaupt auf die jüdischen Sozialisten abschreckend zu wirken. Deswegen war eine vollständige Untersuchung der Entstehung dieser Tendenzexzesse von solcher Bedeutung für die gesamte jüdische Bevölkerung Russlands. Die bloße Verurteilung der unwissenden Angeklagten, sagte Karabtschewsky, biete den Juden keine Garantie für die Zukunft. Wir müssen ihnen sagen: ,,Gehet in eure Häuser, lasst euch feste Schl?sser an Fenstern und Türen machen und wisset, wenn irgendwo unter euch Revolutionäre auftauchen sollten, wird man mit euch gleichfalls abrechnen!"

Der Gerichtshof, dem von der Geschichte die ehrenvolle Aufgabe gestellt wurde, das grandiose Verbrechen von Kischinew aufzuhellen und damit die Ehre der russischen Justiz nach Möglichkeit zu retten, vermochte sich nicht zu dieser Höhe zu erheben. Von Plehwe, dessen Name zwar niemals genannt, aber bei allen brandmarkenden Beschuldigungen der Verteidiger von allen im Saale stets hinzugedacht wurde, durch Spezialabgesandte überwacht und, wo es ihm nötig schien, z. B. bei der Frage der Öffentlichkeit der Verhandlungen, gehemmt, überschritt das Gericht die Grenzen, die der russischen Bureaukratie aller Sphären gezogen sind, auch in Kischinew nicht. Zwar sank es nicht zu dem von reaktionärer Gesinnung eingegebenen Verfahren des Homeler Richterkollegiums, das ein Hohn auf die Rechtsprechung war, es gewährte sogar den am Prozesse beteiligten hervorragenden Rechtsanwälten eine Zeitlang einen gewissen Grad von Freiheit bei der Erforschung der Wahrheit, machte aber trotz aller überzeugenden Worte und trotz dringender Mahnrufe der gesamten Welt vor dem wichtigsten Schritt, vor der Notwendigkeit, gegen die am stärksten in den Verdacht der Mitschuld, ja der Hauptschuld Geratenen eine neue Untersuchung einzuleiten, Halt. Vergebens hatte alles, was menschlich denkt und fühlt, an die Türen der russischen Justiz gepocht und den Männern, die über den Kischinewer Prozess zu entscheiden hatten, zugerufen, dass sie sich auf ein höheres Niveau, auf das Niveau eines gewissen Heroismus erheben und, allen Gefahren zum Trotz, der Gerechtigkeit, der Menschlichkeit und der Freiheit zum Siege verhelfen möchten. Für diese Richter gab es eine Gelegenheit, sich und ihren Stand mit dem Ruhm der Unerschrockenheit und Opferfähigkeit zu bedecken und ihrem Vaterlande einen unvergesslichen Dienst zu erweisen, aber sie verschmähten das Heldentum und gingen den Weg der Philister; sie luden keine Schmach, wie jene in Homel, auf ihre Häupter, suchten nicht die Betroffenen und Schwergeprüften zu Schuldigen zu stempeln, ließen aber die Spuren der schweren Verbrecher versanden, lehnten jenen Vorschlag, der einzig Sinn hatte, ab und verurteilten eine Reihe Exzedenten aus der Masse zu verschiedenen, einige sogar zu härteren Strafen. Unter ihnen befand sich aber niemand von den Leitern des durch seine Brutalitäten erschreckenden und für die Beurteilung der menschlichen Natur so deprimierenden Pogroms.

Gerade aber die Weigerung des Gerichts, eine Ergänzungsuntersuchung für notwendig zu erklären, beweist am stärksten, dass in Kischinew eine Mord- und Rauborganisation gehaust hat. Wäre nichts zu befürchten gewesen, so hätte der Gerichtshof nachgegeben. Und warum ersehnte nicht Lövendal, der als Arrangeur der Ausschreitungen fortwährend bezeichnet wurde, von dessen Agenten gesagt wurde, dass sie Anführer von Plündererbanden gewesen seien, warum ersehnte er nicht eine weitere Untersuchung, um sich zu rehabilitieren? Warum ferner ließen die anderen Personen, die als Organisatoren und Leiter bezeichnet wurden, diesen schrecklichen Verdacht auf sich sitzen und verlangten nicht die völlige gerichtliche Aufklärung? Gewiss hatten sie gute Gründe für diese Bescheidenheit.

Das Bild der Schreckenstage von Kischinew konnte in diesem Prozess nur bruchstückweise hervortreten. Um den Gesamteindruck zu vermeiden, wurden von vornherein die Vorgänge auf 22 Prozesse verteilt. Die Szenen z. B., welche Korolenko in seiner erschütternden Schilderung ,,Haus Nr. 13" wiedergegeben hat, waren in diesem ersten Prozess noch nicht zur Sprache gelangt. Aber schon da wurden die meisten Berichte über Kischinew bestätigt. Selbst der Staatsanwalt, der die Schrecken abzuschwächen sich bemüht hat, musste zugeben, dass am zweiten Exzesstage über 1.500 Häuser demoliert, das jüdische Eigentum vernichtet, 38 Juden ermordet und über 300 Juden verwundet worden sind. Es ist aber auch bestätigt worden, dass Frauen vergewaltigt (Aussage des Rabbiners Ettinger), dass schwangere Weiber auf den Bauch geschlagen, Augen geblendet, Nasen mit Nägeln durchbohrt, Ohren abgehackt, Lippen abgeschnitten, Arme verrenkt wurden usw. (Aussage des ehemaligen Arztes des Semstwokrankenhauses, Doroschewsky). Die Exzedenten waren so grausam und blutdürstig geworden, dass sie förmlich ihrer Sinne nicht mächtig waren und Martern erfanden. Ein Exzedent z. B. lief nach einer Säge, um einem Burschen, dem er oben auf dem Balken nicht beikommen konnte, die Beine abzusägen, und nur durch einen Zufall entrann der Ärmste dem Schicksal eines anderen Märtyrers, eines Tischlers, dem die Mörder mit dessen eigener Säge einen Arm abgesägt haben. Und wir erfahren wirklich, dass Offiziere, Kaufleute, Beamte usw. an diesen Torturen sich so geweidet haben, dass sie sich vor Freude nicht halten konnten. Wahrlich, man weiß nicht, wen man mehr bedauern soll, die Gefolterten oder die Folterer.