Die Gräuel, die am 30. Juli 1905 in Bialystok verübt wurden

Hatte doch die Regierung in einem summarischen Communique über die Vorgänge in verschiedenen Städten den Sachverhalt so geschildert, als ob es in Bialystok „ein Zusammenstoß einer Menge Juden mit dem Militär" gewesen wäre. Am Sonnabend hätten sich nämlich — hieß es darin — 300 junge Juden auf der Straße versammelt und einen auf dem Posten stehenden Soldaten in so drohender Weise bedrängt, dass er einen Schuss abfeuerte und einen Juden verwundete. Eine Kompagnie Soldaten sei nebst einem Offizier auf die Straße, in der die Ansammlung der Juden stattgefunden, geeilt, worauf eine Bombe sich entladen und drei Gemeine getroffen hätte. Wie auf ein Signal hin hätten nunmehr die Juden aus den Fenstern, von den Dächern, aus den Durchgangshöfen die Militärpatrouille aus Revolvern zu beschießen begonnen. Nunmehr seien die Soldaten gezwungen worden, die Straße zu beschießen; im Resultate hätte es 35 Erschossene — darunter vier Christen — und 25 Verwundete, darunter drei Christen, gegeben.

In einer späteren Mitteilung suchte die Regierung ihre offiziellen Lügen etwas abzuschwächen. Aus 300 versammelten Juden wurden 200, die Zahl der Toten und Verwundeten stieg bereits auf 38 (darunter drei Christen) bezw. 39 (darunter drei Christen), ja es wird schon, zugestanden, dass es noch mehr Betroffene gegeben haben mag, da sich nicht alle haben registrieren lassen, und dergleichen mehr. Im großen und ganzen wollte natürlich die russische offizielle Welt, die noch niemals ein Interesse an der Wahrheit oder Gerechtigkeit gezeigt hat, ihre eigenen Angaben nicht zurücknehmen, obwohl sie durch einen Bericht der „Frankfurter Zeitung" dazu gedrängt wurde. Allein eine Öffentlichkeit wie zur Zeit der ersten Duma gab es nicht, und Versuche, durch die Stadtverwaltung die Vorfälle genau feststellen zu lassen, waren unmöglich. So blieb denn auch der Protest der Bialystoker Juden, deren sich nach der offiziellen Veröffentlichung eine unbeschreibliche Entrüstung bemächtigt hatte, völlig unbekannt.


Wir geben auch dieses Schriftstück wieder, obwohl das oben mitgeteilte, auf Grund genauester Untersuchungen abgefasste Memorandum weit mehr Tatsachen enthält. Allein in diesem Schmerzensruf kommt die damalige Stimmung der Appelle an das russische Volk in charakteristischer Weise zum Ausdruck. Trauer und Hoffnung, Zorn und die Zuversicht eines baldigen Sieges sind in diesem Proteste gepaart. Er hat folgenden Wortlaut:

„Protest der Juden der Stadt Bialystok gegen das Communique des Polizeidepartements über die Vorgänge des 30. Juli 1905.

Mit dem Gefühl unaussprechlichen Entsetzens und grenzenloser Entrüstung haben wir das Communique des Polizeidepartements über die am 30. Juli in Bialystok stattgehabten Ereignisse gelesen. Gegen die Wehklagen und Beschwerden der zur Verzweiflung getriebenen jüdischen Bevölkerung, unter völliger Ignorierung der Stimmen der Ortsbewohner, hat sich das Ministerium des Innern mit der ihm eigenen Leichtfertigkeit und Tendenziösität bewusst unwahre Nachrichten über die Bialystoker Vorgänge zukommen lassen und ihnen eine Beleuchtung gegeben, die eine unerhörte Verhöhnung der Leiden der Verletzten und des Andenkens der Umgekommenen bedeutet. Wie gewöhnlich wälzt das Polizeidepartement die ganze Schuld auf die Juden ab. Tief empört und in unseren heiligsten Gefühlen gekränkt, halten wir es für unsere Pflicht gegen die russische Gesellschaft, die vom Polizeidepartement verbreitete Lüge aufzudecken und wahrheitsgetreu zu schildern, was sich an jenem verhängnisvollen 30. Juli in Bialystok zugetragen hat.

Der 30. Juli war ein Sabbath, und die ganze, in der Surashskaja und ihren Nebengassen eng zusammengepfercht wohnende jüdische Arbeiterschaft war aus den Häusern geströmt. Schutzleute und doppelt so viele zu ihrer Sicherheit aufgestellte Wachtposten belästigten die auf der Straße stehenden Juden, indem sie sie mit den gemeinsten Schimpfworten überschütteten und ihnen mit den Gewehrkolben drohten. Um Zusammenstöße zu vermeiden, gingen die Juden fort. Da versetzte aber einer der Wachtposten dem Juden Feinstein einen Kolbenschlag, Feinstein protestierte heftig gegen diesen Gewaltakt und drohte dem Posten mit dem Spazierstocke. Lediglich aus diesem Anlass erschoss der Posten den sich Bereits entfernenden Feinstein . . . Es ist unwahr, dass die Menge in drohender Haltung auf den Posten einstürmte, unwahr, dass der Soldat gezwungen war, sich zu verteidigen . . .

Eine Stunde nach dem Morde Feinsteins wurde von irgendjemand eine Bombe geschleudert, die einige Juden tötete und viele Juden sowie drei Soldaten verwundete. Es war, als ob die Explosion der Bombe als Signal zum Niederschießen der Juden gedient hätte. Hunderte von Zeugen, sowohl Juden wie Christen, können bestätigen, dass nach dem Bombenattentat auch nicht ein einziger Schuss von jüdischer Seite abgegeben wurde, und dass den Soldaten und Schutzleuten von keiner Seite irgendwelche Gefahr drohte. Im Gegenteil. Alle Juden liefen in panischem Schreck auseinander, und einige Minuten nach der Explosion waren die jüdischen Stadtteile wie ausgestorben. Die Juden versteckten sich in Häusern, Kellern und auf Dachböden. Aber die Soldaten veranstalteten unter der Führung von Schutzleuten eine richtige Jagd auf die Juden . . . Sie gingen durch die menschenleeren Gassen von einem Haus zum anderen und spähten nach ihren Opfern aus . . . Mit verblüffender Kaltblütigkeit, oft auf Knien zielend, schössen sie in Fenster und Türen der Häuser, in Keller und obere Stockwerke, durch geschlossene Türen und Fensterladen. Sie zielten direkt ins Herz und streckten am Betpulte sitzende Greise und im Winkel der Hütte kauernde Kinder nieder. Da half kein Flehen und Bitten um Schonung; sie schossen auf ihre Opfer aus nächster Nähe, auf zwei bis drei Schritt Entfernung. Dabei handelte es sich hauptsächlich um Frauen und Kinder. Ein systematisches Morden ging in fast allen Teilen der Stadt vor sich, als ob Schutzleute und Soldaten auf vorherige Verabredung handelten, und das Blutbad dauerte von 3 ½ Uhr nachmittags bis 8 Uhr abends. Viele Opfer wurden nach der Ermordung auf der Stelle von Soldaten beraubt. Die Obrigkeit hatte sich aus dem Staube gemacht, und nicht ein einziger ihrer Vertreter war da, der gerufen hätte: „Mörder, haltet ein!" Zu den Schwerverwundeten wurden keine Ärzte zugelassen; nicht nur Soldaten, sondern auch einige Offiziere drohten, die Ärzte, die versuchen wollten, zu den Verwundeten in die Häuser zu dringen, zu erschießen, und viele Verwundete mussten verbluten, da sie ohne ärztliche Hilfe gelassen wurden . . .

Das ist die Wahrheit über die Bialystoker Ereignisse des 30. Juli. Die menschliche Grausamkeit erreichte hier ihren Höhepunkt, Menschen übertrafen in ihrer Wut die blutigsten Bestien . . . Und diese Menschen waren Vertreter der administrativen und militärischen Gewalt . . .

An den frischen Gräbern der unschuldig Zugrundegegangenen, angesichts der vor Schreck und Gram dem Wahnsinn nahe gebrachten jüdischen Bevölkerung rufen wir die russische Gesellschaft, rufen wir ganz Russland um Schutz, um Beistand an.

Wie lange werden diese Gräuel ungestraft fortgesetzt werden? Die Wächter der Ordnung, die gegen revolutionäre Ausbrüche mit Erschießen von Greisen und Kindern in ihren Wohnungen kämpfen, haben aufgehört, solche zu sein und sich in schwere Verbrecher verwandelt; sie gehören nicht in die Reihen der mit Machtbefugnis ausgestatteten Leute, sondern auf die Anklagebank . . .

Wir rufen das ganze Russland um Gerechtigkeit an. Ein zivilisiertes Land kann es nicht dulden, dass in seinem Namen und quasi in seinem Interesse so unerhörte Missetaten vollführt werden. Es darf fordern, dass die Verbrecher, die sich an dem wertvollsten Gut des Volkes, am Leben unschuldiger Bürger vergangen haben, dem Gerichte übergeben und ohne Ansehen der Person streng gerichtet werden . . . Es darf und muss das fordern."

Ein Jahr später, in den ersten Junitagen 1906, hat die russische Regierung den Protest in ihrer Weise beantwortet . . .