Die Judenpogrome in Russland. Band 2. Einzeldarstellungen. Bialystok

Herausgegeben im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London von der zur Erforschung der Pogrome eingesetzten Kommission.
Autor: Redaktion A. Linden, Erscheinungsjahr: 1910
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Ostjuden, Einwanderung, Einwanderer, Deutschland, Russland, Polen, Progrome, Gewalt, Krieg, Vertreibung, Wohnungsnot, Gründe, Not, Elend, Arbeitsplätze, Flüchtlinge, Solidarität, Glaubensfreiheit, Religion, Nächstenliebe, Wahrheitsliebe, Berichterstattung, Medien, Wahrheit, Öffentlichkeit, Kultur, Parteien, Gerechtigkeit, Kischinew, Gewalttaten, Gräueltaten, Ermordung, Schändung, Vergewaltigung, Plünderung, Totschlag, Exzesse, Duldung, Entsetzlichkeit, Grausamkeiten
Bialystok, Gouv. Grodno
Gesamtbevölkerung (1897) 65.871, Juden 4.903.
Sommer 1905.

Was die herrschenden Gewalten in Bialystok zu leisten vermögen, hat die Welt erst im Sommer 1906 erfahren. Seitdem gehört Bialystok der Geschichte jener Barbarei an, über die selbst abgestumpfte Naturen ein Gefühl des Entsetzens empfinden. Ein glücklicher Umstand hat es gefügt, dass aus der Fülle der gleichartigen grauenhaften Exzesse gegen die Juden gerade dieser jüdische Martyrolog dank der damals tagenden russischen Reichsduma in gründlicher und nicht zu widerlegender Weise vor der europäischen Öffentlichkeit entrollt werden konnte. Alle Lügen, die gewöhnlich die Schuldigen bei Gelegenheit von Judenverfolgungen verbreiten, um die Tatsachen auf den Kopf zu stellen und zur physischen und materiellen Marter der Betroffenen noch die seelische hinzuzufügen, mussten diesmal an der Aufzählung der Belege, die von drei speziell entsandten Dumamitgliedern und einer Menge von Berichterstattern nach frischer Tat erbracht wurden, elendiglich abprallen.

Von welcher Bedeutung indes zur Enthüllung der Grausamkeiten, die die Herrschsüchtigen in Russland mit maßloser Brutalität namentlich gegenüber den jedes Schutzes baren Juden zu begehen vermögen, die Öffentlichkeit wird, beweist eine Gegenüberstellung des Sommers 1906 mit dem ihm vorangegangenen. Bialystok kennt nämlich Judengemetzel nicht erst seit der Dumazeit, sondern schon seit dem Sommer 1906, Gemetzel, die gar nicht so weit von den klassischen des Juni 1906 abstehen, aber fast völlig unbekannt geblieben sind. Auch damals, gleich nach den ersten Schreckensszenen vom Juni 1905, denen offenbar weitere folgen sollten, ist durch eine Spezialeingabe einer Anzahl Bialystoker Bürger der Versuch gemacht worden, die blutigen, gegen revolutionäre wie harmlose — im wesentlichen gerade gegen unbeteiligte — Juden gerichteten Militärausschreitungen vor ein mehr oder minder öffentliches Forum, vor die Tribüne der Stadtverwaltung, zwecks einer sachgemäßen Besprechung zu bringen; diese Versuche der Geplagten scheiterten jedoch an der telegraphischen Anweisung des Grodnoer Gouverneurs, dem Bialystok ja zu „gehorchen" hat, dass die Verhandlung über den heiklen Gegenstand von der Tagesordnung abzusetzen sei, womit es ihm auch tatsächlich gelungen ist, zu verhüten, dass gelegentlich der Debatten in einer autoritativen Institution auch nur eine beschränkte Öffentlichkeit die wirklichen Zustände in ihrer Nacktheit kennen lernte.

Die Wogen des Freiheitskampfes verschlangen dann ganz und gar die Bialystoker Vorkommnisse, die wegen ihres militärischen Charakters nur als eine der blutigen Erscheinungen der Revolution aufgefasst wurden, wie sie damals hintereinander die Welt erschütterten, die in Wirklichkeit aber schon den Kampf der russischen Bureaukratie gegen die Juden als Gesamtheit entsprungen sind.

Bereits seit längerer Zeit war Bialystok zur Zielscheibe der herrschenden Gewalten geworden. Die lokalen Obrigkeiten hatten sowohl über die Stadt als über sich selbst jegliche Macht eingebüßt. Denn Bialystok gehörte zu den Brennpunkten mannigfaltiger proletarischer und anarchistischer Parteien und war zum heftigen Tummelplatz revolutionärer Kundgebungen geworden. Neben den mehr oder minder friedlichen Straßendemonstrationen von Sozialisten gab es auch häufig terroristische Akte: bald krachte ein Schuss, bald flog eine Bombe, gegen den einen oder anderen Polizeibeamten gerichtet, der sich durch Scharfmacherei ausgezeichnet hatte. Die Stadt war in ständiger Aufregung ob der zahlreichen Anschläge und häufigen Erpressungen. Da überlegten die Behörden, wie den Parteien des Umsturzes, die alle in einen Topf geworfen wurden, beizukommen sei. Gibt es da, sagten sie sich, ein besseres Mittel als das Schießen und nochmalige Schießen ohne Ende, gibt es sodann ein geeigneteres Objekt, als die Juden samt und sonders? Dass in den Reihen der Juden, soweit sie sogar an der Freiheitsbewegung teilnahmen, keineswegs Einmütigkeit über die Kampfmethoden, die gegen das knechtende Regime anzuwenden wären, herrschte, dass ein gewaltiger Teil von ihnen über die sich häufenden terroristischen Akte und erpresserischen Ausschreitungen, von denen die letzteren namentlich gegen Private sich richteten und das Leben zum Stillstand brachten, selber Klage führte, was lag der russischen Bureaukratie daran? So schlimm es nun die jüdische Bourgeoisie bei den ewigen Erpressungen und Maßregelungen hatte, die von Anarchisten oder als solche sich ausgebenden Leuten gegen sie ausgeübt wurden, so lieferte ihr die Bureaukratie durch ihre Unmenschlichkeiten den Beweis, dass sich jedenfalls noch eher mit den Expropriateuren als mit den nur von einem niedrigen Rachegelüste beherrschten Obrigkeitsvertretern leben lasse. Denn nie begingen die Expropriateure so sinnlose Missetaten, wie die Schützer der Ordnung, denen das Niederschießen von nichtsahnenden Greisen, Frauen und Kindern einen direkten Genuss bereitete.

Russland 011. Schlitten

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Russland 018. Nordrussisches Mädchen aus Archangelsk

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Russland 018. Kleinrussisches Mädchen aus Tschemigow

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Russland 029. Junge aus dem Gouvernement Twer

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Russland 023. Industriearbeiter aus Jaroslaw

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Russland 076. Jüdische Hühnerverkäuferin in Odessa

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Russland 076. Das Grab des Baal-Schem, Der Baal-Schem war der Begründer des Chassidismus einer jüdischen Sekte, deren Anhänger zu seinem Grabe wallfahren

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Russland 077. Ein Cheder (Judenschule) in Wolhynien

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Russland 079. Die Ältesten einer jüdischen Dorfgemeinde in Wolhynien

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Russland 079. Jüdischer Dorfladen in Podolien

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Russland 066. Die Küste der Krim bei Alupka

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