Der Vize-Gouverneur Ustrugow

Immer mehr zog sich über den Häuptern der Juden der Hass zusammen. Längst waren die Spuren des friedlichen Einvernehmens von ehedem verwischt. Von den Bauern auf dem Lande, vom Pöbel und den Kleinbürgern der Stadt, von den Kindern in der Schule bis hinauf in alle Kreise der gebildeteren Christen und der Beamtenschaft des Gouvernements war alles von einem fiebernden Judenhass erfüllt, der nur darauf wartete, sich zu entladen. Längst wurden die Juden als das angesehen und behandelt, was sie im übrigen Russland darstellen: als rechtlose, vogelfreie Menschen letzter Gattung, an denen sozusagen nach Recht und Gesetz jeder Christ auf der Gasse sein Mütchen kühlen darf. Es genügte jetzt den primitiven, judenfeindlichen Instinkten der Masse, die von jeher in ihr gelegen hatten, die aufreizende Konstruktion wirtschaftlicher Gefahren — die nie bestanden — die Proklamation eines Religionskrieges — für den sie innerlich gar kein Verständnis hatten — damit sich Hass, Aberglaube, Beschränktheit mit ihrer Auffassung von der Rechtlosigkeit und Minderwertigkeit der Juden zu einer einzigen furchtbaren antisemitischen Kraft vereinigten.

Wenn die ,,Intelligenz“ im „Bessarabetz“, der es gelungen war, die elementaren judenfeindlichen Triebe der Masse zu entfachen und bis aufs Höchste zu reizen, eine ebenso furchtbare Entladung veranlassen wollte, so erübrigte ihr noch eines: Sie musste die Masse zu einer felsenfesten Überzeugung davon bringen, dass die Juden rechtlos seien und dass die Christen nicht nur die heilige Pflicht, sondern auch das Recht hätten, die Juden an Leib und Gut zu züchtigen. Was geschehen konnte, damit diese ohnehin im Volke vorherrschende Meinung sich bis zur Unerschütterlichkeit festsetze, das besorgten Kruschewan und — die Regierungsorgane, Kruschewan durfte theoretisch unter Patronanz der Gouvernementszensur die Juden als vogelfrei proklamieren. Praktisch gaben die Beamten der Regierung dazu selbst die nötigen Kommentare. Die Beamten haben es dabei nicht schwer. Es gibt so viele Judengesetze, dass die Administration es in ihrer Macht hat, mit den Juden umzuspringen, wie sie will. Da war ein Kischenewer Beamter, der, wenn man ihn auf irgend eine unrechtmäßige, judenfeindliche Verfügung aufmerksam machte, einfach zur Antwort gab: „Was schert mich das Gesetz? Wenn ich will, dreh ich es nach rechts, wenn ich will, dreh ich es nach links.“ Der Vize-Gouverneur von Bessarabien, Ustrugow, der Zensor, Protektor und Mitarbeiter des „Bessarabetz“, der dort als „Dreizwanzig“ schrieb, hat in den letzten Jahren am meisten dazu beigetragen, dass in der Bevölkerung die Schutzlosigkeit der Juden als selbstverständlich betrachtet wurde. Hunderte jüdischer Familien hat er auf administrativem Wege dem Ruin zugeführt. Er oder seine Beamten pflegten durch Bessarabien zu reisen und von allen Juden, die nicht ganz buchstäblich-rechtlich in den Dörfern wohnten, verhältnismäßig ungeheure Summen Geldes zu fordern oder sie von der Scholle zu treiben. Von ihm werden einige besondere Grausamkeiten erzählt. Einmal kam er in ein Dorf, wo Juden schon jahrelang ein Bethaus hatten, ohne dass sie eine „gesetzliche“ Erlaubnis dazu besaßen. Anstatt das Bethaus etwa schließen zu lassen, wenn er schon die Strenge des Gesetzes geltend machen wollte, kam er an dem heiligsten Festtag der Juden ins Bethaus, lies die Thorarollen aus der Lade herausreißen und sie auf die Gasse schleppen. Dort trat er sie mit Füssen, lies sie dann in schmutzige Fetzen packen und befahl einigen Bauern, sie so in die Gemeindestube zu tragen. Ein anderesmal kam er vor das Haus eines jüdischen Pächters. Aus irgend einem Grunde lies er ihn mit Frau und Kind auf einen Wagen setzen und ordnete an, dass er im Etappenwege nach der Stadt gebracht werde. Das Haus und die Ställe, in denen sich Vieh befand, lies er schließen und die Türen versiegeln. „Wer die Türen öffnen wird, der wird auf das Strengste bestraft werden,“ drohte er den Bauern. Das Vieh starb in den Ställen, keiner wagte es, ihm Futter zu geben — und der Pächter wurde ein Bettler.


Es geschah, dass man gegen den Vize-Gouverneur beim Senat Klage erhob. Der Senat erkannte wohl, dass der Vize-Gouverneur zu unrecht gehandelt habe. Aber er tat weiter das Seine — und im Grunde störte ihn niemand.

Das war das Prinzip der Rechtsbehandlung der Juden, das „von oben“ gegeben wurde. In zahllosen Einzelfällen wiederholte sich die praktische Betätigung dieses Prinzips bei den niederen und niedrigsten Behörden.

Und es kam so, dass zur selben Zeit als im Volke die Aufreizungen zu Judenhetze und Judenmord die höchste Steigerung und den meisten Widerhall fanden, die Leute aus dem Volk zueinander sagten, genau so wie es der „Bessarabetz“ wollte und wie die Behörden es praktizierten: „Für Juden gibt es kein Gesetz, man kann mit ihnen tun was man will.“
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)