Die Auswanderung der Juden

Der jüngere, energischere und gesündere Teil der Proletariermasse sucht auszuwandern. Nach Amerika hat sich ein ununterbrochener Zug jüdischer Auswanderer gewendet, der seit den 80er Jahren andauert und heute schon über eine Million Juden zählt. Immer in den Jahren besonderer Katastrophen steigt die Wellenlinie der Auswanderung bis zu den höchsten Punkten — eine Situation, die beispielsweise nach Kischinew zweifellos in noch unerhörter Weise eintreten wird. Der Jude, der übers Meer geht, sucht jetzt nicht nur Brot, Freiheit und Menschenwürde, sondern die einfache Sicherheit für Leib und Leben.

Das zweite aber bedeutend geringfügigere aktive Element ist in den Reihen der Revolution zu treffen. Durch die ökonomische Not vor allem aufgerüttelt, glauben sie die Judenfrage mit der Klassenfrage und politischen Frage Russlands zugleich lösen zu können. Es steckt in dieser Theorie der große Fehler aller, die die Judenfrage nicht als ein jüdisches Volksproblem betrachten. Wie wenig die Konstitution die Juden vor Feindseligkeiten bewahrt, das zeigt Westeuropa zur Genüge. Will man mehr als das Gesamtbeispiel Österreichs, gar zur Demonstration ad oculos den Exzess der letzten Zeit gegen die Juden von Uhnow in Galizien, von dem man gewiss viel mehr gesprochen hätte, obgleich es nur einen Toten gab, wenn nicht der Kischinewer Jammer alles so furchtbar überboten hätte?


Über die Verquickung der russisch-jüdischen Frage mit den Klassenkämpfen ist eigentlich noch weniger zu sagen. Man kann da von jeder theoretischen Polemik umso eher absehen, als die furchtbare Judennot einfach physisch nicht mehr im Stande ist, eine Jahrzehnte oder Jahrhunderte lange, soziale Entwicklung abwarten und auf ihrem Rücken austragen lassen zu können.*) Was übrigens die Sicherheit der Klassenpolitik in Bezug auf die Aufhebung des Antisemitismus betrifft so ließe sich dagegen sehr viel einwenden. Dazu ist hier nicht der Ort. Will man aber an einem handgreiflichen Beispiel die Haltung christlicher Sozialdemokraten während des sozialen Entwicklungs-Prozesses den Juden gegenüber charakterisieren, so muss man nicht gerade auf die erwähnte Proklamation der russischen Revolutionäre zurückgehen. Man muss nur die Haltung beobachten, die Sozialdemokraten in einem Lande einnehmen, wo sie die von Judenhass infizierte Masse doch zu sich ziehen wollen. Wie konnivent beispielsweise die österreichische Sozialdemokratie dem Urwiener Antisemitismus gegenüber ist, beweist mehr als hundert Argumente die Art, wie sich die sozialdemokratische „Volkstribüne“ der ersten Meldung von Kischinew gegenüber stellte. Das Blatt schreibt: „Die offizielle Depesche besagt, dass die Unruhen von Arbeitern ausgingen.

*) Mit Recht wird auch darauf hingewiesen, dass während Tausende von Juden nicht für die jüdische Befreiung, sondern für die russische Konstitution ihr Alles hergeben, sich allmählich die russische Judenfrage durch die Auswanderung von 30 — 100.000 Juden jährlich auf die Emigrierenden oder die unmittelbar zur Emigration Gezwungenen zu verschieben beginnt.

Sollte dies wahr sein, dann müssten diesen die Kischinewer Juden jedenfalls Anlass zu den Ausschreitungen gegeben haben.“ Dieses „ jedenfalls“ enthält für den primitiven Psychologen in politischen Dingen eine ganze Anschauung: Dass im sozialen Kampf der Arbeiter immer recht, der Jude immer unrecht hat oder besser gesagt haben muss, wenn die Theorie, die nicht so grausam ist, wie die Menschen und das Leben, volle Geltung haben soll. Das dritte aktive Element umfasst ungefähr l00.000 Zionisten, die die russisch-jüdische Frage im Zusammenhang mit der allgemeinen Judenfrage durch die Kolonisierung der Juden in einer gesicherten Heimstätte, in Palästina, lösen will. Auch hier wollen wir darauf verzichten, in die theoretischen Grundlagen einzudringen. Tatsache aber ist, dass die Judennot, die sich nicht nur in Russland, sondern auch in Rumänien und Galizien in einer planlosen, massenhaften Emigration entlädt, eine planmäßige Kolonisierung als das einzige vernünftige und radikale Mittel erheischt. Die bisherige regellose Emigration hat in London und Amerika von neuem ein furchtbar elendes jüdisches Proletariat geschaffen, ohne dass die Not in den Geburtsländern wesentlich gemildert wurde, während andererseits die neuen Länder sich dagegen zu wehren anfangen, einen endlosen Zufluss an jüdischem Proletariat aufzunehmen. Nur eine gesicherte jüdische Heimstätte, dieses Kalkül des Zionismus ist einwandfrei, kann mit Hilfe einer planmäßigen Kolonisierung, wirklich, weil sie die antisemitischen Reibungen vermeidet, Millionen von Juden in einem jüdischen Milieu aufnehmen und sich gesund entwickeln lassen. Wird diese Heimstätte nicht geschaffen werden, dann stehen hunderttausende von Juden, die in ihren Geburtsländern durch ökonomische Not, durch Staat und Volk, ja sogar durch Mordgesellen bis zur Verzweiflung bedroht sind, vor der Gefahr, diesem katastrophalen Zustand unbarmherzig zum Opfer zu fallen, wenn sie aus ihrem Lande nicht mehr heraus können, weil die letzten Ventile — der Abfluss nach England und Amerika — sich versperrt haben.

Danach stellt das zionistische Element in Russland, das immer mehr erstarkt, wirklich den positivsten Teil dar, dessen äußeres Anwachsen schon darauf schließen lässt, dass ihm die Zukunft gehört.

Wir wissen nicht, ob der Plan des Kischinewer Hilfskomitees, 20.000 Juden allmählich im Orient anzusiedeln mit dem Zionismus zusammenhängt, er zeugt jedenfalls dafür, dass die Tatsachen, die sie selbst gedrängt haben, den Propagatoren einer jüdischen Großkolonisation Recht geben.

Und auch wir können, ohne dass wir uns weiter mit dem Zionismus auseinandersetzen wollen, eine wirkliche Hilfsaktion für die Kischinewer Juden in nichts anderem sehen, als dass man es diesen armen, gehetzten Menschen ermöglicht, in jüdischen Kolonien im Orient eine Heimat zu finden, wo sie in Ruhe durch menschenwürdige Arbeit sich und ihre Familien ernähren können.

Und an dasselbe wird man denken müssen — man mag die Sache wenden, wie man will — wenn man allmählich Millionen Juden aus furchtbarer Erniedrigung und Not retten will.

Vielleicht wird das den Zionisten gelingen, vielleicht werden die wahrhaften Menschen Europas dabei helfen, vielleicht wird die Not noch stark genug sein, selbst diese Lösung zu erzwingen, das lässt sich hier nicht entscheiden.

Eines aber ist sicher: Die Lösung der jüdischen Frage kann nur eine große radikale und allgemeine sein, und sie muss bald erfolgen, denn diese Not hat nicht mehr Zeit zu warten.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)