Die nächtliche Organisationsarbeit

Während die Juden in fiebernder Angst und zitternder Hoffnung wachten, gab es auch Christen, die in dieser Nacht wach waren, von einem anderen Fieber erfasst. Von 11 bis 3 Uhr nachts waren die Organisatoren der Exzesse daran, alles vorzubereiten für eine furchtbare Metzelei, die an den Juden vorgenommen werden sollte. Wer waren diese Organisatoren? Der Notar Pissarschewsky, Semigradow, Sinodino, Bolinsky, Popow und der Untersuchungsrichter Dawidowitsch (der, wie bereits erwähnt, jetzt die Untersuchung gegen die Mörder leitet) — alles Leute in angesehenster Stellung, meistens Beamte, die „Beschützer der russischen Gesetze“. Nicht vergessen darf man den Vize-Gouverneur Ustrugow, von dessen Antisemitismus der Tat wir bereits Proben gegeben haben. Über die Rolle, die Ustrugow im Organisationskomitee gespielt hat, ist man noch nicht ganz im klaren. Mit einem verblüffenden Geschick wusste er die Drähte zu ziehen und sich im Dunkeln zu halten. Wenn die intellektuellen Leiter der Kischinewer Metzelei gezwungen werden könnten, zu reden, wenn es dort Gericht und Gesetz gäbe, es müsste ihm wohl bange zu Mute werden. Im selben Dunkel hielt sich auch Kruschewan. Er hatte keine Veranlassung mehr, da Tausende in seinem Namen die Arbeit besorgten, sich noch in den Vordergrund zu rücken. Die anderen aber, Pissarschewska, Sinodino und Semigradow waren die tatsächlichen Leiter, die ohne Scheu die Führung der Mordbanden vor aller Öffentlichkeit besorgten.

Was dort die „Organisatoren“ um Mitternacht aussannen und taten, davon ist nicht viel in die Öffentlichkeit gedrungen. Aber wir wissen es und konnten es wissen.


Dieses war die Arbeit der Inspiratoren von Banditen und Mordbuben:

Zunächst wurden die Banden mit Waffen versehen, vor allem jene jungen Männer vom Lande, die abends nach Kischenew gekommen waren. Alle Waffen waren gleichartig: Äxte und eiserne Stangen und Keulen, mit denen auf einen Stoß Türen und Läden zerbrochen wurden und die sogar stark genug waren, eiserne Schränke und Kassen zu sprengen. Auch die Tracht, in die man die Banden kleidete, war gleich artig: Die bereits erwähnten Arbeiterhemden wurden vom Pöbel aller Art angelegt, von Bauern, Arbeitern, Kleinbürgern, Beamten, Studenten, Seminaristen, Polizisten, von Soldaten und sogar von Offizieren. Die zweite planmäßige Arbeit des Organisationskomitees war die Markierung jüdischer Häuser. Schon am ersten Tage hatten Pissarschewsky und Sinodino den Räubern die jüdischen Häuser angezeigt. Da aber noch nicht alles exakt organisiert war, waren die erwähnten kleinen Irrtümer unterlaufen. Das durfte jetzt nicht mehr vorkommen. Die Organisatoren wussten: Wenn nur einem einzigen Christen ein Haar gekrümmt würde, — und sei es auch aus Versehen — dann würde der Gouverneur sofort Polizei und Militär zur Beendigung der Exzesse aufgeboten haben. (Nebenbei sei bemerkt, dass wirklich die Organisation und der Informationsdienst später so klappten, dass nicht ein einziger Christ geplündert wurde.) Die Markierung durch das Komitee erfolgte derart, dass in dieser Nacht alle jüdischen Läden und Wohnungen mit weißer Kreide angestrichen wurden. Dann wurde der permanente Aufklärungs-, Nachrichten- und Verbindungsdienst der Banden organisiert. Für diesen Dienst bediente man sich mehrerer Radfahrergruppen, die in der Folge eine ungemein wichtige Rolle spielten. Die Radfahrer waren Gymnasiasten, geistliche Studenten (Seminaristen) und Beamte. Aber die Organisation beschränkte sich nicht auf die Stadt allein. Man schickte Sendboten in die nächst gelegenen Dörfer und lies die Bauern einladen: Sie mögen in die Stadt kommen, die Juden ausplündern helfen, und sie sollten große Säcke mitbringen. Von den Bauern, die dieser Einladung folgten, werden wir noch hören.

Gegen 3 Uhr morgens waren die Vorbereitungen beendet, und in diesem Moment wurde das Signal zum Losgehen gegeben.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)