Menschliche Bestien

Wovon soll man zu erzählen beginnen, was soll man erzählen und was verschweigen? Denn es gibt auch eine Menge von Tatsachen aus jenen Schreckensstunden, die von so scheußlicher Unsittlichkeit sind, dass man es nicht über sich bringt, von ihnen zu reden und andere sie sehen zu lassen.

Von Montag 3 Uhr nachts bis 8 Uhr nachmittags rasten Horden inmitten von Trümmern und Schutt, die sie selbst gehäuft hatten, plünderten, raubten, zerstörten sie jüdisches Eigentum, stahlen, brandschatzten und vernichteten, und sie jagten, erschlugen, schändeten und marterten Juden. Fanatismus, Habgier, Grausamkeit, tierische Lüsternheit und teuflische Bosheit feierten im Dunkel der Nacht und am hellen Tage ihre schändlichen Orgien. Und bei diesen Orgien waren alle dabei: Gouverneur und Vize-Gouverneur, Soldaten und Polizei, Beamte und Priester, Kinder und Frauen, Bauern, Arbeiter und Strolche.


Alle jüdischen Häuser in den Straßen Gostinaja, Charlampjewskaja, Nikolajewskaja, Sennaja waren auf einmal von dem furchtbaren Gebrüll der Mörder und dem herzzerreißenden Geschrei der unglücklichen Opfer erfüllt. Fast überall wurde von den Banden, die aus 10 bis 20 Personen bestanden, sich aber manchmal bis zu 80 und 100 Personen vermehrten, nach demselben System verfahren. Die Magazine und Läden wurden wie am vorhergehenden Tage bis auf den letzten Rest ausgeraubt. Was man nicht wegtragen konnte, wurde zerstückelt oder mit Petroleum begossen und verbrannt. In die Wohnungen der Juden drangen die Banditen mit mörderischem Gebrüll ein, man solle ihnen alles Geld und alle Kostbarkeiten ausliefern. Taten das die Juden, so begnügten sich in der aller ersten Zeit die Räuber damit, ihren Opfern wuchtige Hiebe auszuteilen, um Nachfolgenden das Feld zu überlassen. Hatten aber die Juden nichts zum Ausliefern oder ging es nicht schnell genug, oder hatten die Mörder andere Launen, dann wurden die Männer niedergeschlagen, schwer verwundet oder getötet. Frauen wurden vor den Augen der Männer und Kinder der Reihe nach von den Mördern vergewaltigt. Kindern wurden Ärmchen und Beine ausgerissen oder gebrochen, einzelne wurden aus unteren Stockwerken in die oberen geschleppt und hinabgeworfen. Manchmal ergriff man ein Kind und schlug es mit dem Köpfchen an die Wand, dass das Gehirn ausrann.

Unter den Juden herrschte die unbeschreiblichste Panik: ein wildes Flüchten in Keller, Höfe, auf die Dächer, von Haus zu Haus, von Straße zu Straße. Kein Polizist, kein Soldat rührte sich für sie.

Unsägliche Schrecken, viele Morde, Verwundungen und Verstümmelungen, maßlose Zerstörung und Verwüstung füllten diese Nacht aus.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)