In den Spitälern

Die Verwundeten, die teils in Spitälern, teils in Privathäusern untergebracht wurden, bieten einen erschütternden Anblick. Jammervoll ist insbesondere der Zustand der Frauen und Kinder. Unter den Verwundeten gibt es Geblendete, viele mit verrenkten, verstümmelten oder verkrüppelten Gliedmassen und auch einzelne Wahnsinnige.

Ein junger Berliner Arzt, der, auf einer Studienreise durch Südrussland begriffen, in Odessa die Kunde von den Massacres in Kischinew erhielt und sofort dahin abreiste, um sich der Hospitalverwaltung zur Verfügung zu stellen, berichtete: am 27. Mai folgende entsetzliche Einzelheiten:


... ,,D a liegt eine junge, kaum 18jährige Frau, der die Unmenschen die rechte Brust abgeschnitten haben; ihr kleines, einjähriges Kind ruht in ihren Armen; man hat es, wie sie selbst erzählt, vor ihren Augen mit glühendem Eisen geblendet. Sie habe sich auf die Unmenschen gestürzt, doch sofort sei sie von der entmenschten Rotte niedergeworfen und geschändet worden. Als ihr Mann, gerade dazu kam, von seinem Revolver Gebrauch machen wollte, habe man ihn gebunden und gezwungen, mit anzusehen, wie seiner Frau die Brust abgeschnitten wurde.

Neben dieser Unglücklichen, aus deren tränenlosen Augen der entsetzliche Seelenschmerz dringt, sitzt aufrecht in ihrem Bett eine alte gramgebeugte Frau. Sie trägt eine Binde um den Kopf, der von einem Säbelhieb gespalten ist. Auf die Frage, warum sie nicht liege, antwortet sie, sie könne nicht liegen, der Rücken sei ihr mit Ruten zerfleischt worden. Warum? Sie hatte, als die wilde Rotte eindrang, ihre Enkelkinder im Keller versteckt; die Kinder wurden, als man sie fand, vor ihren Augen abgeschlachtet, sie selbst ausgezogen und mit Geißeln gezüchtigt. Nebenan jammert ein sechsjähriges Mädchen, es windet sich in furchtbaren Zuckungen, will den Verband, den man ihm um den Kopf gelegt hat, abreißen, die Wärterinnen halten es an den Händen fest; da plötzlich streckt die Kleine sich lang hin, sie gibt keinen Laut mehr von sich — sie hat ausgelitten.

Noch schrecklichere Szenen spielen sich in dem Männersaale ab. Da befindet sich ein Greis, der sich, schrecklich verstümmelt, den Tod herbeiwünscht, denn er hat sein Weib, seine Söhne und Töchter an dem Schreckenstage umkommen sehen und hofft nun, bald mit ihnen vereinigt zu sein. Da sieht man einen Mann, dem man die Füße abgesägt, einen Jüngling, dem man die Brust gespalten, ein Kind, dem man sämtliche Zähne ausgerissen, kurz, es ist in unbeschreibliches Elend!“

Diese schauerlichen Mitteilungen ließen sich nach anderen Berichten noch ergänzen, wenn nicht dieses Wenige schon erschütternd genug wäre.

Nur zwei Wahnsinnsfälle sollen besonders festgehalten werden:

Eine alte Frau liegt da und wiederholt im Wahnsinn die Schimpfwörter und Flüche, unter denen sie von den Banditen gemartert wurde. Die grässliche Marter bestand darin, dass man ihr mit Bettpfosten Löcher in den Körper schlug.

Ein anderer Irrsinniger ist in Wien in Pflege. Er heißt Tobias, ist Händler, jung, groß und von normaler Intelligenz, bis er zeitweise vom Verfolgungswahn ergriffen wird. Minutenlang starrt er vor sich hin, nickt heftig und sieht sich ängstlich um, will dann fortlaufen und sinkt gleich darauf ermattet in einen Stuhl. Er war in geschäftlichen Angelegenheiten nach Cherson über Odessa. Dort verbreitete sich zu den griechischen Ostern das Gerücht, in Kischinew habe sich etwas Schreckliches ereignet, weshalb er heimkehrte. Als er ankam, erkannte er seine Heimatstadt nicht, aber alles war schon ruhig. Sein Geschäft zu ebener Erde war ausgebrannt und roch nach Petroleum; seine Wohnung war leer und wüst. Tobias meinte, Frau und Kinder hätten sich geflüchtet. Man sagte ihm, sie seien schon begraben. Die Frau wollte, die Kinder hinter sich haltend, das Geschäft verteidigen. Man schlug sie nieder und schleppte sie an den Haaren hin und her, trampelte auf den Kindern herum, bis die Körper unkenntliche Leichen waren. Nachdem Tobias den Erdhügel am Friedhof gesehen, ergriff ihn ein wahnsinniger Trieb zur Flucht. Er floh, weiß aber nichts mehr, als dass er auf einmal in Radziwilow war und nicht über die Grenze durfte. Nach einigen Tagen schmuggelte er sich durch, fuhr bis Brody, wo ihn barmherzige Juden nach Wien mitnahmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)