Die Trauer in Russland

Wir sprachen schon von der Trauer, die alle russischen Juden erfasst hatte. Trotz der persönlichen Not des Augenblicks drängte es sie, auch nach außen ihre Trauer kundzugeben. Sie wählten dafür die Form, die sich für sie am meisten eignete: Sie veranstalteten Trauergottesdienste in den großen und kleinen Synagogen. Überall in Russland hielt man solche Andachten ab, und überall waren sie von einem erschütternden Ausbruch des Schmerzes begleitet.

Die Schilderungen über diese Gottesdienste sind herzergreifend, besonders die von Odessa und die von Kischinew selbst. In Odessa, wo mehr als 100.000 Juden wohnen, die sich, nebenbei bemerkt, nicht gerade in besonderer Frömmigkeit gefallen, ruhte an dem Tage der Trauergottesdienste das ganze Alltagsleben. Die ganze jüdische Bevölkerung ohne Ausnahme, arm und reich, Kinder und Greise, strömten in die Synagogen. Alle Gotteshäuser waren überfüllt, und ein großer Teil musste auf den Straßen bleiben. Während man die tiefergreifenden Elegieen rezitierte, die „Selichath“, aus denen das ganze jahrtausendelange jüdische Leid wiederklingt, hörte man überall unterdrücktes Schluchzen. Als man dann aber die Namen der Opfer von Kischinew nannte, da liess sich der Schmerz nicht mehr zurückdrängen. Zuerst der Prediger und dann die ganze Gemeinde brachen in erschütterndes Weinen und herzzerreißende Klagen aus. Da standen nebeneinander tausende Menschen, geschüttelt von jähem Schmerz, und in den Strom von Tränen ergoss sich das ganze Weh der Trostlosigkeit, der Müdigkeit des leidgequälten Volkes ...


Noch elementarer war der Schmerzensausbruch, noch ergreifender der Anblick der Kischinewer Juden, die sich einen Monat nach dem Massacre in den Synagogen versammelten. Da stand nicht nur die Erinnerung vor ihnen, da kamen auch auf Krücken, mit Verbänden, geführt von anderen die Blutzeugen jener schwarzen Tage, geblendete Greise, verkrüppelte Kinder, Witwen und Waisen. Es war ein Weh, das die Herzen zerbrechen konnte.

Den Kischinewer jüdischen Kindern gestatten manchmal ihre christlichen Lehrer nicht, an den Gottesdiensten teilzunehmen. Die Lehrer konnten sie verhindern zu gehen : aber den Volksschmerz, der schon in diesen kindlichen Seelen brannte, konnten sie nicht ersticken. Die Kinder fanden ein Mittel, sich an die Trauer aller anzuschließen: Sie haben den ganzen Tag gefastet.

In vielen Städten Russlands wurde beschlossen, durch sechs Monate Trauer nach den Toten von Kischinew zu halten, und während dieser ganzen Zeit an keiner Art von Lustbarkeit teilzunehmen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)