Die öffentliche Meinung in Europa

Es ist selbstverständlich, dass wie in Russland auch sonst überall in der Welt, zunächst die Juden aufgeregt wurden. Für die westeuropäischen Juden war trotz der Affairen Polna, Konitz, Dreyfus und trotz der rumänischen Judenemigration — soweit sie nicht in ihrer Minderheit die Judenfrage schon früher verstanden und universell behandelt haben — Kischinew das erste Ereignis, das sie im letzten Dezennium aus ihrem: „Laissez faire, laissez aller“ aufgerüttelt hat. Vielleicht sind manchen Juden über die kritische Situation ihres Volkes in der Welt die Augen geöffnet werden. Jedenfalls aber können wir vorläufig bei der Mehrheit — von der Minderheit wird noch die Rede sein — nicht viel mehr konstatieren als eine imposante moralische Anteilnahme an dem Einzelunglück und insbesondere in den Mittelschichten eine nicht unbedeutende materielle Beteiligung an der Hilfsaktion. Diese einheitliche Kundgebung, wenngleich sie über das Unglück des Augenblicks nicht hinüber zu reichen scheint, ist wieder etwas Erhebendes, in dem zugleich ein Tröstliches liegt . . . Viele Trauergottesdienste wurden abgehalten, und die jüdische Presse stand ganz im Zeichen des erschütternden Ereignisses. Aber die Mehrheit der Juden unter Hess es bei dieser Gelegenheit, hinauszutreten vor die Öffentlichkeit und vor ihr laut und deutlich zu sagen, was gesagt werden sollte. Sie sollten nicht nur das Unglück und die Schmach von Kischinew vor aller Welt zeigen, sondern von dem ganzen Volksunglück sollten sie sprechen, sich als solidarisch mit diesem Volk erklären und für dieses Volk das Recht auf Leben und Freiheit fordern.

Diese fast nicht unterbrochene einheitliche Passivität in einem tragisch großen Augenblicke, der ein großes Wort verlangt hätte, ist die Kehrseite, das viel Schmerzlichere gegenüber jenem Tröstlichen, von dem wir vorhin gesprochen haben. Das jüdische Herz, das sich regte, wurde in Wahrheit zum Schweigen gebracht durch den noch so sehr unjüdischen Willen.


Nur in England haben Juden ein großes Meeting abgehalten und eine, wenn auch nicht zureichende, Protest-Resolution gefasst. Ein anderes Meeting, in dem der bekannte Schriftsteller Israel Zangwill sprach, erfasste die Kischinewer Ereignisse im Namen der Minderheit der nationalen Juden Westeuropas mit verständnisvoller Verallgemeinerung und die Resolution bezeichnete sehr vernünftig als die Lösung der jüdischen Volksfrage eine großangelegte, rechtlich gesicherte Kolonisation in Palästina.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)