Die Lage der russischen Juden

Es ist unmöglich, an dieser Stelle auch nur ein annäherndes Bild der Situation der russischen Juden zu geben. Wenn es aber hier nicht gegeben werden kann, so wird das Ereignis von Kischinew die wirklich einsichtigen Juden belehren müssen, an anderen Orten laut und eindringlich davon zu sprechen. Denn nie konnte man so deutlich wie anlässlich des Kischinewer Falles sehen, wie wenig im Grunde Juden und Nichtjuden in diesem Europa, das von der Judenfrage widerhallt, von dem eigentlichen jüdischen Volke wissen, dessen Mehrheit sich in Russland befindet.

Bei der Teilung Polens fand Russland in dem eroberten Lande einige Millionen Juden vor. Die russischen Regierungen nahmen mit diesen Juden die verschiedensten Manipulationen vor. Das Hauptprinzip war, sie vom eigentlichen Russland fernzuhalten. Unter der Regierung Alexander II. wurde dieser Grundsatz vereinzelt durchbrochen. Mit der Regierung Alexander III. aber fängt eine neue und systematisch feindliche Behandlungsweise der Juden an. Wie sie mit Judenhetzen unmittelbar einsetzte, so fuhr sie mit Judenverfolgungen fort. Es begann eine Periode der Ausweisung der Juden aus den Zentralprovinzen Russlands in dem nunmehr den Juden einzig zugewiesenen „Ansiedelungsrayon“ und hier aus dem platten Lande in die Städte. Allen Juden war von nun an verboten, sich auf dem platten Lande anzusiedeln — ausgenommen wurden nur Gastwirte. Aber diese Ausnahme fiel während der Regierung Nikolaus II. mit der Einführung des Weinmonopols 1897 weg. Bis zu 75.000 jüdischer Familien mussten damals ihre Wohnsitze verlassen. Sie zogen in die Städte des Ansiedlungsrayons, um die auch ohnedies kümmerliche Existenz der dortigen jüdischen Bevölkerung durch ihre Konkurrenz noch mehr zu drücken. So entstand dort eine ungeheure Überfüllung von jüdischem Menschenmaterial.


„Das jetzige russisch-jüdische Millionenproletariat ist daher eine einzigartige Erscheinung unserer Zeit. Sie bildet nicht die Kehrseite einer hochentwickelten Industrie, sie wurzelt vielmehr in der einseitig-nationalistischen Politik Russlands.“

Mit einigen Zahlen kann man die Lage dieses Proletariats charakterisieren. Die Juden, welche zwischen fünf und sechs Millionen ausmachen, verteilen sich auf die einzelnen Teile des Reiches folgendermaßen:

Kaukasus 0,63 % der Gesamtbevölkerung,
Mittelasien 0,16 % der Gesamtbevölkerung,
Sibirien 0,60 % der Gesamtbevölkerung,
Europäisches Russland inklusive „Ansiedlungsrayon“ 4,81 % der Gesamtbevölkerung.

Die Verteilung dieser 4,81 % ist aber so, dass im Ansiedlungsrayon und in den polnischen Provinzen die Juden zwischen 11 — 17 % der Gesamtbevölkerung ausmachen.

Wir sehen daraus, dass der „Ansiedlungsrayon es fertig gebracht hat, fast alle Juden Russlands in ein enges städtisches Gebiet zusammenzuschließen, wo sie, angesichts der noch dazu kommenden rechtlichen und politischen Beschränkungen ein Massenproletariat bilden müssen.“

Für das Jahr 1898 gibt der russische Schriftsteller Subbotin folgende Zahlen an:

130.000 Juden ernährten sich im „Ansiedlungsrayon“ von der Landwirtschaft, soviel es noch auf dem zur Stadt gehörigen Boden möglich war.
112.000 Juden waren Tagelöhner.
450.000 Juden waren Handwerker.
64.000 Juden waren Fabrikarbeiter.

Was die übrigen Juden anbelangt, so wurde schon in der vom Staate eingesetzten Kommission zur Judenfrage 1887 festgestellt, dass von ihnen 90 % eine ganz ungesicherte Masse bilden, die von der Hand in den Mund und den drückendsten hygienischen Verhältnissen lebt und ein verzweifeltes Proletariat ohne Beispiel bildet.

Man kann sich denken, um wie viel diese unbeschreiblich armseligen Verhältnisse sich seit dieser Zeit verschlimmert haben. „Die Preise der jüdischen Häuser sinken, ihre Wohnungen zerfallen, ihr Mobiliarvermögen wird verkauft. Ihre Kauf- und Zahlungskraft vermindert sich bis aufs äußerste.

Jede Wohltätigkeit, mag sie auch noch so sehr entwickelt sein, erweist sich als nutzlos. Genug, wenn man sagt, dass mancherorts 50 — 75 % keinen bestimmten Beruf haben, „Luftmenschen“ sind.“

In Warschau z. B. war von etwa 175.000 Juden ein Drittel nicht im stande, Gemeindesteuern zu leisten; mehr als eine Hälfte der Toten wurde auf Synagogalkosten begraben.

Aus Wilna schreibt die antisemitische „Nowoje Wremja“: „Das was man in Städten mit russischer Bevölkerung nie trifft — Gesichter ausgesprochen chronisch-hungriger Menschen mit einem charakteristisch-hungrigen Augenglanze, das überrascht in der Masse der jüdischen Bevölkerung so sehr, dass es einem das Herz bricht.“

„Alle Schrecken in das Sweatings Amerikas“ (wo hunderttausende jüdischer Arbeiter um einen Hungerlohn Frondienste leisten) schreibt Soloweitschik, „erblassen gegen die Not der jüdischen Handwerker im Ansiedlungsrayon. Es ist vollkommen wahr, was Leroy-Beaulieu sagt: „Unter allen Volksmassen des großen Russlands habe ich nichts so Elendes gesehen wie die Juden, die unaufhörlich durch die Straßen hasten, irgend ein Geschäft suchend. Man spricht jetzt viel von den Leiden des Proletariats. Ich kann behaupten, dass in unserem Europa niemand so schwer sein trockenes Brot erkämpfen muss wie 90 % der russischen Juden. Wahrhaftig, wenn man schon absieht von den jüdischen Tagelöhnern und Arbeitern, findet man unter den Handwerkern des Ansiedlungsrayons, diejenigen, die vor einigen Jahren wenigstens Brot erarbeiten konnten, zum Betteln gezwungen und so, dass sie bei Tag nicht wissen, wo sie nachts ihr Haupt hinlegen sollen.

Im Jahre 1897 gab es in Russland 500.986 jüdische Handwerker, unter diesen 76.748 Frauen und 33.933 Fabrikarbeiter. Der Verdienst dieser halben Million Handwerker beträgt im ganzen Ansiedlungsrayon durchschnittlich von 2 — 2 1/2 Rubel wöchentlich. Aus einer Statistik von Mohilew, einer Gouvemementsstadt in Litauen, entnehmen wir folgende Daten: Von jüdischen und nichtjüdischen Handwerkern hatten ein Einkommen:

von über 192 Rubel jährlich nur Christen,
von 192 Rubel jährlich 75 % Juden, 25 % Christen,
von 190 Rubel jährlich 82 % Juden, 18 % Christen,
von 135 Rubel jährlich 90 % Juden, 10 % Christen.

Ein Einkommen von 30 Rubel jährlich hatten 15 Juden. Christen waren in solchen Kategorien nicht zu finden.

Diesem jüdischen Arbeiter- und Handwerkerproletariat steht ein ebenso furchtbares Händlerproletariat gegenüber. Gepeitscht von der fortwährenden Gefahr, Hungers zu sterben, werfen sich Hunderttausende auf jede Erwerbsquelle, die sie gegen den Hunger schützt, und diese Gefahr — nicht das wirtschaftliche Prinzip — bestimmt hier die wirtschaftliche Tätigkeit eines jeden. „Dieses Proletariat ist im Gegensatz zu Westeuropa kein Arbeiter sondern ein tragisch-lächerliches Unternehmerproletariat. Diese Proletarier verkaufen ihre Arbeitskraft nicht nur, sie müssen auch fortwährend mit unerhörten Anstrengungen den Markt schaffen. Eine furchtbare Verschwendung an menschlicher Kraft, eine Verlangsamung des Produktions- und Umsatzprozesses, hervorgerufen durch ein wahnsinniges Überbieten an menschlichen Diensten wird dadurch veranlasst. Diese Not kann nicht warten und rechnen. Das Prinzip der geringsten Kosten ist hier unbekannt. Auf dem Wege zwischen Produzent und Konsument schieben sich Hunderttausende notgehetzter Existenzen ein, die sich mit einer verzweifelten Festigkeit an jedem Strohhalm klammern. Verschwinden sie vom Schauplatz des Umsatzprozesses, so fühlt es niemand, denn kein Mensch braucht sie. Solange sie aber da sind, brauchen sie es, beschäftigt zu werden, und sie halten sich mit der Zähigkeit des Lebenswillens fest, solange sie von der Sitte und Gewohnheit noch einigermaßen geduldet werden.“ (Diese Charakteristik ist einer nationalökonomischen Arbeit über das jüdische Proletariat entnommen worden.)

Hinter diesem Proletariat, das sich in den unmöglichsten Kombinationen des Krämer-, Makler- und Trödlertums martert, in der Regel mit keinem oder mit einem Unternehmerkapital von einigen Rubeln, kommt das jüdische Tagelöhnerproletariat. Die schwersten und gefährlichsten Arbeiten werden von jüdischen Tagelöhnern verrichtet. Vor allem die berüchtigten Flößerarbeiten. Bei einem Wochenlohn, der im glücklichsten Falle 2 bis 3 Rubel beträgt, sind jüdische Flößer, darunter Greise, gezwungen, 13 bis 14 Stunden täglich im Wasser zu stehen und das Holz zu flößen. In Litauen sind alle Steinklopfer Juden. Die Arbeiterinnen in den Tabakfabriken sind fast ausschließlich Jüdinnen. Ebenso steht es mit der gesundheitzerstörenden Arbeit in den Zündhölzchenfabriken, wo Jüdinnen 13 bis 14 Stunden täglich für 30 Kopeken arbeiten. In Minsk und Wilna sind Tausende jüdischer Strumpfwirkerinnen, die höchstens 8 Rubel monatlich verdienen, das bei ganztägiger Arbeit, abgesehen davon, dass dieser Verdienst sich durch Mangel an Arbeit und durch die Mietkosten der Maschine noch verringert.

Hinter der Kategorie der Proletarier, die in furchtbarem Kampfe ums Dasein von der Hand in den Mund leben, kommt das Massenproletariat der Deklassierten, d. h. solcher, die entweder eben von ihrem Proletarierberuf noch eine Stufe tiefer ins Lumpenproletariat gedrängt wurden oder längst nicht mehr die Kraft und Möglichkeit haben „aufzusteigen“. Diese sind vollständig auf die Wohltätigkeit angewiesen.

In Odessa hat ein Viertel der jüdischen Bevölkerung ständig keinerlei Verdienst. Zu Ostern mussten von 130.000 Juden der Stadt 60.000 mit Osterbrot beschenkt werden. In Mohilew-Podolsk gibt es 800 Bettlerfamilien. In Berditschew hat ein Drittel, d. h. 5000 Familien, keinen Lebensunterhalt, und man erwartet den glücklichen Zufall eines Verdienstes als Lastträger oder Führer. Scharenweise stürzen sich auf den Ankommenden diejenigen, die um 2, 3 Kopeken ihre Dienste anbieten.

Den materiellen Verhältnissen dieses Millionenproletariats entsprechen die hygienischen und die Wohnungsverhältnisse. Die Verheerungen durch Krankheit, insbesondere durch Hunger und dann durch die elenden Behausungen sind unbeschreiblich. In Homel, einer sehr bewegten Stadt, zeigt man den Fremden neben dem großartigen Schloss von Graf Paskewitsch das sogenannte „Tal“, als die Merkwürdigkeiten der Stadt. In diesem „Tal“ wohnt die jüdische Armut. In 120 Hütten allein, die gar keinen Schutz geben, wohnen 2.000 Menschen. Es sind Bettler, Kranke und Arbeitslose. Aller Schmutz und alle Unreinlichkeit der oberen Stadt wird in dieses Tal geleitet, das von üblen Gerüchen erfüllt ist. Wer einmal in dieses Tal hinabgesunken ist, kann sich nicht mehr erheben. Die Wohnung eines Ofensetzers wird uns so geschildert: In einem Keller wohnt ein Ofensetzer mit seiner Frau, seiner alten Mutter und seinen zwei kleinen Kindern. Auf dem Boden gibt es keine Dielen. Die Füße der Leute stecken immer in Kot. Früher verdiente er drei Rubel wöchentlich. Jetzt hat er keine Arbeit. Zwei Kinder sind bereits an Tuberkulose gestorben. Die kranke Frau liegt auf einem Lager ohne jede Wäsche. In einem angrenzenden Kellerloch sind sogar drei Familien untergebracht. Es sind Handwerker. Jede Familie hat in einer Ecke Lager und Werkstatt. Wenn der Schnee oder der Regen fließt, ist die ganze Wohnung eine Kotgrube. . . .

In Odessa hat eine Sanitätskommission im Jahre 1897 5.087 jüdische Wohnungen gefunden, deren Inhaber keinerlei Mittel besitzen. 1.000 Wohnungen waren in Kellern, 2.000 hatten keine Fenster. Wir haben mit einigen Details die Situation dieses Millionenproletariats, das 90 % der russischen Juden ausmacht, zu skizzieren versucht. Es ließen sich Bücher darüber schreiben, und sie sind auch geschrieben worden, die ein wahrhaft grauenhaftes und trostloses Elend enthüllen . . .

Wie aber konnte ein solches Elend entstehen und sich zu solchen Dimensionen steigern?
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)