Die Entstehung der russischen Judennot

Wir wollen diese komplizierte Formel in nur wenigen Sätzen zu geben versuchen. In der großen Konzeption des russischen Staates und der Kirche, die darauf ausgeht, Russland zu einem Nationalstaate einer einheitlichen Sprache, Religion, und dem Selbstherrscher an der Spitze zu machen, bildeten die Juden von vornherein ein fremdes und störendes Element. Sie brachten, als sie übernommen wurden, ihre Sprache und Tracht mit, ein in sich geschlossenes, lebendiges, jüdisches Volkstum, das zäh an seinem Stammescharakter festhielt. Außerstande und in seiner ungeheueren Überlegenheit auch gar nicht willens, dieses geächtete und dabei doch durch tausendjährige Zucht festgeschmiedete Volk mit sich zu verschmelzen, hat sich Russland mit der ganzen Wucht eines barbarisch-despotischen Staates darauf gelegt, diese wenigen Millionen, wenn es sie schon innerhalb seiner Grenzen dulden musste, vom russischen Staatsorganismus, dem russischen Gesellschaftsleben und der russischen Wirtschaft fern zu halten. Mit einer in ihrem ersten Teil verfehlten Formel präzisierte der Staatsmann Pobedonoszew den Zweck der russischen Politik den Juden gegenüber dahin:

[i9„Die Absperrung, Entrechtung und Unterdrückung der Juden soll den Erfolg haben, dass sich ein Drittel tauft, ein Drittel aus Not ausstirbt und ein Drittel zur Auswanderung gezwungen wird.“[/i]


Wie gesagt — die Spekulation auf die erzwungene Taufe war gänzlich verfehlt. Nicht nur die zähe Stammesart und die Stärke der jüdischen Idee, sondern gerade die Abschließung ins Ghetto und die Konzentrierung auf sich selbst hat die jüdische Art so konserviert, dass sie nicht nur ihre eigene Religion und Kultur bewahrt haben, sondern sogar eine ganz eigenartige, jedenfalls nicht in der Linie des Russentums liegende Entwickelung dieser Kultur angebahnt haben. Und was das Bezeichnendste für diese Entwickelung ist, das ist die Tatsache des Entstehens einer bedeutenden jüdischen Literatur in den beiden Volkssprachen (Jargon und Hebräisch), die sich gerade in den letzten Dezennien herausgebildet hat und ein großes jüdisches Kulturmilieu zusammenfasst.

Mehr Chancen allerdings hat die russische Staatskonzeption Pobedonoszews in Bezug auf die zwei anderen Folgerungen.*) Von der physischen Degeneration der russischen Juden haben wir bereits beiläufig gesprochen. Über die Auswanderung werden wir noch sprechen.

*) Der Leser wird bemerkt haben, wie die Antwort Plehwes an die jüdische Deputation von derselben Konzeption getragen ist — selbstverständlich mit Ausschluss der Taufe.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)