Die Juden vor den Exzessen

Überall sprach man schon offen von den geplanten Judenexzessen. Abgesehen von der durch Kruschewan und seinen Genossen ganz öffentlich betriebenen Hetze hätten die Juden aus vielen anderen Anzeichen schließen können, dass sie sich in höchster Gefahr befänden. Die Nachrichten, die aus dem antisemitischen Klub drangen, zeugten sogar dafür, wessen man sich von der Polizei zu versehen hatte. Es ist notorisch, dass sich der Kischinewer Polizei meister im Klub äußerte, in einigen Tagen werde man gegen die Juden losgehen. Einige Tage vor Ostern kam der Polizeikommissar Dobrosselski in die Zigarettenhandlung des Juden Bendersky und nahm 5 Rubel aus der Kasse heraus. Der Jude sah verwundert diesem seltsamen Akt zu, da sagte der Kommissar: „So wie so werden wir zu Ostern alle Juden abschlachten“ ... Auch einige Ausschreitungen gegen Juden kamen in diesen Tagen vor. Christen schlugen in einem jüdischen Haus die Fenster ein, und es kam deswegen zu einer Schlägerei zwischen Christen und Juden. Eine jüdische Frau, die mit ihrem Kind auf der Strasse ging, wurde ohne jede weitere Ursache überfallen, man riss ihr den Mantel herab und zerriss ihn. Man kannte auch die Schenken und Lokale, von denen aus die aufhetzenden Flugzettel verteilt wurden. In der Schenke „Moskwa“ war das Zentral-Agitationslokal. Ein Diener dieser Schenke, der Tausende Zettel verteilte, hat später erzählt, dass er in einem Brief mit dem Tode bedroht worden sei, wenn er die Zettel nicht verteile.

Es ist auf den ersten Blick kaum fassbar, dass die Juden angesichts der unverkennbar kritischen Situation nicht alles Mögliche in Bewegung setzten, um sich zu sichern. Man kann die wesentlichste Erklärung dafür wohl darin sehen, dass sie — wie alle Juden stündlich gehetzt und bedroht — das Außergewöhnliche, Elementare dieses Ausbruches von Judenhass nicht erkannten oder unterschätzten, und dass sie zum zweiten sich auf den Schutz der Kischinewer Polizei und der mehreren tausend Soldaten verließen.


Allerdings waren die Juden, die beim Gouverneur und Polizeimeister vorsprachen und sie um Schutz baten, nicht allzu freundlich empfangen worden — aber deswegen waren sie doch Juden, die es sich gefallen lassen mussten, gedemütigt zu werden. Der Gouverneur versprach — wenngleich missmutig — Hilfe und die nötigen Vorkehrungsmaßregeln. Der Polizeimeister (derselbe, der im Klub die Massacres angekündigt hatte) erklärte zynisch: „Wir haben schon unsere Instruktionen bekommen. Wir werden Euch verteidigen. Aber, wenn ich die Wahrheit sagen soll, es würde Euch gar nicht schaden, wenn man Euch ein wenig schlagen wollte. Ihr Juden seid alle ,,grobe Gesellen“ (russischer Ausdruck).“ Der Bischof, bei dem der Rabbiner vorsprach, damit er die Leute beruhige, gab zur Antwort: „Es ist nicht nötig, dass man etwas tut“ und stellte dann an den Rabbiner die Frage: „Nicht wahr, es gibt doch eine Sekte unter den Juden, die christliches Blut zu ihren Feiern braucht?“

So war es um den Schutz bestellt, der den Juden versprochen wurde. Aber die Juden beruhigten sich damit. Nur von einer Seite, die mehr an den Ernst der Situation und mehr an die eigene Kraft glaubte, wurden 100 — 150 Juden mit Waffen ausgerüstet und zur Verteidigung vorbereitet. Von ihnen wird später noch kurz die Rede sein.

Im übrigen begnügte man sich damit, in den jüdischen Bethäusern anlässlich der jüdischen Passahfeiertage durch die Tempeldiener ausrufen zu lassen: Die Juden sollten während der christlichen Ostern ruhig zu Hause bleiben, ihre Läden nicht öffnen und sich in keine Zänkereien mit Christen einlassen.

Die Juden gingen ruhig und ohne allzu große Besorgnis in ihre Häuser.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenmassacres in Kischinew (1903)