Die zweite Lösung

Es ist auffallend, dass die streng orthodoxen und die sogenannten Reformjuden, die ungefähr in einem jeden Punkte des religiösen wie nationalen Gebietes die entgegengesetztesten Anschauungen vertreten, doch angesichts der zweiten von uns vorgeschlagenen Frage denselben Standpunkt einnehmen.

Der rechtgläubige Jude, der mit festem Glauben auf das Kommen des Messias rechnete und ihn täglich erwartete, hoffte auch, dass „durch das Reich des Allmächtigen die Welt wird vervollkommnet werden" und „die Gräuel werden dann von der Erde verbannt und die Götzen ausgerottet werden", und alle „werden das Joch Deines Reiches freudig aufnehmen". (Alenu-Gebet**.) Das heißt einfach, dass die Christenheit den christlichen Glauben aufgeben und sich zum Judentum bekehren soll.


Obgleich die Reformjuden mit allen Kräften darnach streben, von ihrem Judentum alles das zu entfernen, was es wesentlich von den christlichen Bekenntnissen unterscheidet, so haben sie doch daran festgehalten, dass sie das auserwählte Volk sind, an diesem Zug, der ihrer väterlichen Religion bedeutsam ist, und ihre Rabbinen werden nie müde, die Weltmission Israels zu verkünden.

*) „Ich glaube fest und wahrhaft an die Ankunft des Messias; und wenn er auch noch so lange weilt, so hoffe ich doch, dass er kommen wird jeglichen Tag."

**) Obgleich nicht bekannt ist, wann dies Gebet, das am Schluss der drei täglichen Gebete gesprochen wird, in den Ritus eingeführt wurde, so weiß doch jeder Jude, wie sehr man es auch der Kirche gegenüber zu bestreiten gesucht hat, dass dieses Gebet sich besonders auf das Christentum bezieht.


Die Hoffnung und den Glauben an das Kommen eines Messias und an die künftige Wiederherstellung Israels als Nation haben sie fallen lassen; denn ein solcher Glaube gab den Anschein, als ob sie einer anderen Nationalität verpflichtet wären, als der betreffenden, zu deren hervorragendsten Bürgern sie sich zählen. Indessen sprechen diese Rabbinen von dem Kommen einer messianischen Zeit, was soviel heißen soll, als dass die Welt einst sich auf ihren Standpunkt stellen und ihren unbestimmten Monotheismus samt ihrer trockenen Ethik annehmen wird.

Der strenggläubige Jude, der an das Kommen eines wunderbaren Messias glaubte, der jeden Tag kommen konnte, um seine Herrschaft anzutreten und die ganze Welt zum Judentum zu bekehren, dieser strenggläubige Jude konnte es wohl auf sich nehmen, sein schier unerträgliches gegenwärtiges Dasein zu ertragen, da er inbrünstig für eine herrliche Zukunft betete und hoffte. Gleicherweise kann es der äußerlich gut gestellte Jude des Reformkultus, dessen größter Kummer die soziale Sonderstellung ist, die er sich von Seiten seiner christlichen Nachbarn gefallen lassen muss, ruhig abwarten, bis die Zeit kommt, wo der Christ die Religion der Bibel hinwirft und die Autorität des Reformrabbiners über die von Paulus stellt, in dem das Reformjudentum seinen hauptsächlichsten Gegner erblickt. Doch der Durchschnittsjude, der weder äußerst orthodox noch ein Anhänger des Reformkultus ist, will sich nicht länger mit wesenlosen Zukunftsträumen begnügen. Ihm erscheint die Frage seiner gegenwärtigen und zukünftigen Lage zu dringlich und, was er will, das ist eine tatkräftige und praktische Lösung der Frage.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung