Der übermenschliche Messias

„Der von der Synagoge erwartete Messias ist so hoch erhaben über den gewöhnlich menschlichen, königlichen, prophetischen und sogar englischen Typus; so hoch erhaben über das Maß von Gottes gepriesensten Knechten, und so nahe an das Göttliche hinan kommend, dass es fast unmöglich erscheint, ihn davon auszuscheiden."

„Und der Geist Gottes schwebte über den Wassern" (1. Mose 1, 2), ist im Midrasch über das 1. Buch Mose erklärt (2, 5) und ebenso in demselben über das 3. Buch Mose (14, 1), „dies ist der Geist des Königs Messias".


Der erste Teil der schon aus Jalkut angeführten Stelle (über Jes. 60) lautet folgendermaßen: „Was bedeuten die Worte: „In deinem Licht sehen wir das Licht" (Ps. 36, 10)? Das ist das Licht des Messias*) Denn es heißt: „Und Gott sah, dass das Licht gut war." 1. Mose 1, 4*) Dies lehrt uns, dass der Heilige zu dem Geschlecht des Messias und zu seinen Werken schon vor der Erschaffung der Welt in Beziehung stand und es (das Licht) für den Messias und sein Geschlecht unter seinem Throne aufbewahrte. Satan sagte zu dem Heiligen: „Herr der Welt, für wen ist das Licht, was du unter deinem herrlichen Throne aufbewahrst?" Da antwortete er: „Es ist für den, der dich besiegen und vom Throne stürzen wird." Satan antwortete: „Herr der Welt, zeige ihn mir." Gott sagte: „Komme und siehe ihn." Als er ihn gesehen hatte, war er von Schrecken überwältigt und fiel auf sein Angesicht und rief aus: „In Wahrheit, das ist der, welcher mich und alle Heiden in die Hölle werfen wird."

*) „Das war das wahrhaftige Licht, welches alle Menschen erleuchtet, die in diese Welt kommen" (Joh 1, 9).

In Midrasch Tanchuma (Toledoth. 14) kommt folgende Stelle vor: „Wer bist du, du großer Berg?" (Sach. 4,7). Das ist der Messias, der Sohn Davids. Er wird „der große Berg" genannt, weil er größer ist als die Patriarchen. Denn es heißt: „Siehe, mein Knecht wird weislich tun, und wird erhöhet und sehr erhaben sein." (Jes. 53, 1). „Er soll höher als Abraham sein, erhabener als Moses *), und herrlicher als die dienenden Engel. **)."

In Midrasch über Ps. (18, 36) lesen wir: „R. Juda sagt in dem Namen von R. Chama: In der zukünftigen Zeit wird der Heilige den König Messias zu seiner Rechten setzen, nachdem wie er gesagt hat: „Der Herr hat gesagt zu meinem Herrn: Setze dich zu meiner Rechten." (Ps. 110, 1)***).

Zu der Stelle in Daniel (7, 9): „Solches sah ich, bis dass Stühle gesetzt wurden"; fragt der Talmud: Welche Stühle? (im Plural) und die Antwort kommt von R. Akiba: „Einen für ihn und einen für David (den Messias)." Chagiga 14a; Sanhed. 38b.

Was ist der Name des König Messias? R. Abba, der Sohn des Cahana sagt: Sein Name ist Jehovah, nachdem wie geschrieben steht: „Und dies wird sein Name sein, dass man ihn nennen wird: Der Herr unsere Gerechtigkeit." (Jerem. 23, 6). (Der Midrasch über die Klagelieder 1, 57; auch der Midrasch über Ps. 21); (s. S. 97 E).

Das Vorhergehende beweist klar, wie eng die einflussreichen Rabbinen mit den Schreibern des Neuen Testamentes übereinstimmen in Bezug auf die charakteristischen Merkmale des Messias. Man braucht sich allerdings über diese Tatsache gar nicht zu wundern, da die messianischen Gedanken der Rabbinen auf den Weissagungen desselben Alten Testamentes beruhen, die die Verfasser des Neuen Testamentes in Jesu von Nazareth erfüllt sehen.

„Woher kommt's denn aber", mag da einer fragen, „dass die Juden neunzehn Jahrhunderte lang sich geweigert haben, Jesum als ihren Messias anzuerkennen, wenn ihr eignes Ideal von dem Wesen und der Person des Messias dem christlichen so nahe kommt? Woher kommt's, dass sie derart hartnäckig in ihrem Widerspruch gegen die christliche Religion verharrt haben und das Christentum als ein fremdes Reis am Stamme des Judentums betrachteten, das sich in Gegensatz zu den Lehren Mose und der Propheten stellt, wenn die eigne Auffassung der Synagoge von der neuen Lehre des Messias der Lehre des Neuen Testamentes so nahe verwandt ist?"

*) „Dieser aber ist größerer Ehre wert denn Moses." (Hebr. 3, 3).
**) „Und ist so viel besser worden, denn die Engel, so gar einen viel höheren Namen er vor ihnen ererbet hat." (Hebr. 1, 4).
***) Vergl. Matth. 22, 42—44; Mark. 12, 35—38; Luk. 20,41-43; Apost. Gesch. 2, 33—35; Hebr. 1, 13; Eph. 1, 20-21; Phil. 2, 9—11.


Die einzige Antwort, die der Jude geben kann, ist die, dass Jesus die zeitliche Erlösung und Wiederherstellung Israels nicht vollbracht hat, und dass das Christentum den messianischen Frieden und das Wohlgefallen unter den Menschen nicht zur Wahrheit gemacht hat. Alles, was der Messias sein und vollbringen sollte, war darin zusammengefasst, dass er Israels Erlöser sein sollte. Er sollte ihre nationale Wiederherstellung bewirken und der Ruhm seines Volkes Israel sein. Alles andere war nur Mittel zu diesem Zweck, und der Messias selbst sollte das große Werkzeug sein, um dies Ziel herbeizuführen. Wie aber können sie Jesum als den verheißenen Messias ansehen, da ihre Stellung in der Welt sich seit seinem Kommen nicht nur nicht verbessert hat, sondern eine immer schlimmere geworden ist?

Der Beweis, dass Jesus auf Grund einzelner messianischer Weissagungen, die man in ihm als erfüllt ansehen konnte, wirklich der Messias sein sollte, vermochte den Juden nicht zu überzeugen, so lange er die eigentliche Aufgabe des Messias als unerfüllt ansah. Es machte dem Juden auch wenig Eindruck, wenn man ihn auf das zweite Kommen Christi hinwies, wo sich alles noch erfüllen würde. Der Jude wird uns vielleicht sagen, dass er dann bis zu diesem zweiten Kommen mit seiner Entscheidung warten will, wo man deutlich sehen wird, ob Jesus der längst erwartete Messias ist oder nicht.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Judenfrage und der Schlüssel zu ihrer Lösung