Die Juden unter der gegenwärtigen Regierung Russlands 1917

Aus: Neue Jüdische Monatshefte, Zeitschrift für Politik, Wirtschaft und Literatur in Ost und West
Autor: Redaktion: Neue Jüdische Monatshefte (G), Erscheinungsjahr: 1917

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Russland, Judenheit, Bolschewisten, Revolution, Bevölkerung, bürgerliche Existenz, Schicksal, Pogromwelle, Judenhass, Zionismus, Emanzipation, Auswanderung, Palästina
Die Juden nehmen im gegenwärtigen nachrevolutionären Russland eine ganz eigenartige Stellung ein. Während einzelne Vertreter der russischen Judenheit in der gegenwärtigen Regierung eine hervorragende Rolle spielen und auf die Schicksale des Landes eine bestimmende Wirkung ausüben, während die Leitung der Staatsgeschäfte zu einem großen Teil in jüdischen Händen liegt, ist die bolschewistische Regierung im allgemeinen der russischen Judenheit als Ganzes genommen nicht gerade sehr freundlich gestimmt.

Es hängt dies teilweise damit zusammen, dass auch die russische Judenheit als solche, als Ganzes genommen, in der Person ihrer öffentlichen Institutionen und Parteiorganisationen sich dem Bolschewismus gegenüber ablehnend verhält. Doch ist es sehr schwierig zu ermitteln, was hier Ursache und was Wirkung, was Grund und was Folge ist. Ob die abweichende Haltung der Juden durch eine solche der bolschewistischen Regierung, oder umgekehrt die letztere durch die erstere bedingt ist. Wie dem auch sei — wir begegnen hier einer sonderbaren und befremdenden Erscheinung.

Die Juden sind rechtlich und national der übrigen Bevölkerung völlig gleichgestellt und dabei in ihrer bürgerlichen Existenz nichts weniger als sicher. Sollte das bolschewistische Regime in Russland einer anderen Regierungsform Platz machen, so befürchtet man in Russland für das Schicksal der Juden das schlimmste. In jüdischen Kreisen macht sich sogar die Meinung geltend, dass nach einem etwaigen Sturz der bolschewistischen Regierung sich über das ganze Land eine Pogromwelle ergießen werde, die in der Geschichte der russischen Judenheit ohne Beispiel sein würde.

Man sieht voraus, dass man die Juden wegen der aktiven Anteilnahme vieler jüdischer Vertreter an der bolschewistischen Regierung für die Fehler des Bolschewismus verantwortlich machen wird. Das wäre vielleicht der Grund, weshalb die russische Judenheit in der Person ihrer offiziellen Vertretungen sich vom Bolschewismus fernhält. Dies alles findet seine Erklärung in dem Umstände, dass die bolschewistische Regierung, lediglich um die Befestigung ihrer Macht besorgt, sich bisher keine Zeit genommen hat, für die Hebung des kulturellen Niveaus der Masse ausreichende und energische Schritte zu tun. Man kann nicht sagen, dass die leitenden Persönlichkeiten des Bolschewismus die Gefahr der Kulturlosigkeit nicht einsähen und ihr nicht vorzubeugen suchten.

Aber sie werden mehr geleitet, als sie leiten. Sie sind zu sehr die Gefangenen der Massen, die sie leiten wollen. Sie möchten allzusehr als Ausdruck der Stimmungen der Massen gölten, ohne zu bedenken, dass diese Stimmungen unsicher, momentan und schwankend sind und sich für eine dauernde Grundlage eines Staatswesens nicht eignen. Bei dieser Sachlage ist es nicht zu verwundern, dass der Zionismus unter der russischen Judenheit immer mehr an Boden gewinnt. Die Befürchtung mancher jüdischer Kreise, dass die jüdische Emanzipation in Russland das nationale und insbesondere zionistische Interesse abschwächen werde, hat sich nicht bewahrheitet.

Der Zionismus hat eher an Gewicht zugenommen und sich auf viele Kreise ausgedehnt, die bisher abseits von ihm standen. Der durch den prekären Zustand des ganzen Landes in Mitleidenschaft gezogene gesellschaftliche Zustand der russischen Judenheit mag in vielen jüdischen Kreisen die Einsicht gezeitigt haben, dass ein fixer und sicherer Punkt irgendwo auf dem Erdball — und sei es in Palästina — für die Judenheit im allgemeinen von unschätzbarer Bedeutung werden könnte.

Moskau

Moskau

Dorf an der Wolga

Dorf an der Wolga

Russische Kirche

Russische Kirche

In Petersburg gab es Studentenrevolten

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Eriwan

Eriwan

Universität in Dorpat

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Kasan, russische Stadt

Kasan, russische Stadt