Die Juden und das Deutsche Reich

Offener Brief an eine deutsche Frau
Autor: Sailer F. (1846-?), Erscheinungsjahr: 1879
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Juden, Judentum, Judenhass, Christentum, Wucher, Manipulationen, Wirtschaftsmacht
                                          Vorwort

Stets habe ich jene armseligen Existenzen beklagt, die bei nachtschlafender Zeit in die Aborte dringend und die Toilette der großen Stadt besorgend ihr trauriges Dasein kümmerlich, Paria ähnlich, zu fristen suchen.

Beklagenswerter aber noch muss Jener erscheinen, der — weil auch Juden Menschen sind, denen Menschliches anhaftet — mit der Gier des Geizigen und der Begierde des Sammlers der Juden „Menschliches“ zusammenhäuft und unschuldiges Papier zum Abfuhrkanal seiner gehässigen Gesinnungen erniedrigt.

Widerwillig zwar, aber dennoch habe ich mich entschlossen, Herrn Mars Ausführungen (ich bitte die Parlamentarität dieses Ausdrucks zu beachten) entgegen zu treten, weil ich nach dem Vorangegangenen fürchten muss. Herr Marr könne die Erfüllung seiner Drohung, „er habe die Judenfrage in Fluss gebracht und werde sie darin zu erhalten wissen“, in der Verbreitung fernerer Unwahrheiten finden.

Ich hoffe, es ist mir gelungen, eine Wiederholung solchen „sozial politischen Einbruches“ wenigstens wirkungslos zu machen.

Im Juli 1871.       Der Verfasser.

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Gnädige Frau!

Ich bedaure Sie!
Bisher habe ich Sie beneidet.
Fern dem beängstigend regen Getriebe der Hauptstadt leben Sie auf dem reizendsten waldeinsamen Schlösschen. Ein liebender und geliebter Gatte, zwei lieblich heranblühende Kinder bilden Ihre beneidenswerte Familie. Sie sind angesehen. Die Armen nennen Sie ihre Wohltäterin und die Großen des Landes schätzen das Alter und die Reinheit Ihres Adels. Sie sind reich und Ihr Vermögen gründet auf seit Jahrhunderten gefestetem Besitz. Ihr Wissen und Ihre Herzensbildung dulden keinen Vergleich mit jener „Uniformierung des Geistes“ der meisten jungen Damen von heutzutage, denen in „höheren Töchterschulen“ (schon das „Wort erweckt einen berechtigten Zweifel an der grammatikalischen Schulung seines Erfinders) und in Pensionaten ein Wissen von und ein Verständnis für in Wirklichkeit vollkommen Unbegriffenes angeheuchelt wird, wie einem alten Gaul Gelenkigkeit und gefälliges Aussehen beim Rosstäuscher.

Ihnen, gnädige Frau, legte ich mit jedem neuen Tage Fausts Worte in den Mund „Verweile doch, Du bist so schön“; doch aus allen diesen Traumbildern Ihres Glücks weckt mich Ihr Brief.

Zwei Broschüren sind in Ihre Hände geraten — Wilhelm Marrs „Der Sieg des Judentums über das Germanentum“ und desselben Verfassers „Vom jüdischen Kriegsschauplatz“.

Bisher haben Sie zwischen Juden und Christen einen Unterschied kaum gekannt. Ihnen verband sich mit dem Begriff „Jude“ die Vorstellung von Leuten, die in der, vom Standpunkt des Adels aus, beneidenswerten Lage sich befinden, ihren Stammbaum in eine viel höhere Zeit hinauf verfolgen zu können, als dies der ältesten anerkannten Aristokratie, die das Abendland geschaffen, möglich ist; von Leuten, die mit einer großen Anzahl Christen Bedenken gegen kirchliche Dogmen hegen, die aber in ihrem ersten Religionslehrsatz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ mit den Bekennern der Religion der Liebe sich vereinigen. — Ihnen war auch bekannt, dass die Juden sich bei ihrem Gottesdienst einer fremden, sogar einer toten Sprache bedienen — aber Sie wussten auch, dass die Katholiken in lateinischer und die Mitglieder der französischen Kolonie in französischer Sprache beten. — Sie hielten den lieben Gott für sprachgewandt genug, um das Sehnen und das Bitten des Menschenherzens in jeder Sprache zu verstehen: Sie gedachten dabei des ersten — jedem Andern unverständlichen — Lallens Ihrer Kinder, das Ihnen doch so klar und so laut die Wünsche Ihrer Lieblinge verriet.

„Was die oben angedeuteten Bedenken anbelangt, so haben auch Sie, wie ich sicher weiß, mit Ihrer Auffassung von dem Ideal einer Jungfrau niemals mit Notwendigkeit den Besitz eines Söhnleins verknüpft — sondern im Gegenteil.

Ihrem, der glücklichen Gattin, Ideal einer Mutter, durfte auch die Kenntnis keiner Freude der Liebe mangeln, und schwankte jemals in Ihrem trauten Salon das Gespräch auf das religiöse Gebiet, dann wussten Sie stets eine Unterhaltung über die Lehre von der Dreieinigkeit mit Ihrer klassischen Unkenntnis aller Rechenkunst zu verhindern.

Bisher haben Sie über die Religion und über die Abstammung derjenigen, mit denen Sie verkehrten, kaum nachgedacht. Erst jetzt, nachdem Sie Herrn Marrs Elaborate gelesen, erinnern Sie Sich plötzlich, dass die Leiter derjenigen parlamentarischen Fraktion, der Ihr Herr Gemahl angehört, dass der Bankier, dem derselbe seine Geldgeschäfte anvertraut, dass der Kaufmann, der die Erträgnisse Ihres Gutes verwertet, dass der Confectionair, von dem Sie Ihre reizenden Kostüme beziehen, dass der Dekorateur, der Ihr Heim so behaglich ausgestattet — dass alle diese Herren „Juden“ sind. Jetzt erst und fast unwillkürlich fällt Ihnen auf, dass diejenigen, die in Ihrem Salon am geistreichsten geplaudert, dass diejenigen, in deren glänzenden Gesellschaften Sie Sich am besten vergnügt, ebenfalls Juden sind. Sie haben bei den Juden Ihres Bekanntenkreises niemals jene „Herausforderung und Demonstration“ wahrgenommen, von der Herr Marr erzählt, Sie haben selten einen jüdischen Bettler, noch seltener — fast nie — einen jüdischen Trunkenbold gesehen, Sie haben — mit Herrn Marr — die Beobachtung gemacht, dass der Jude unter seines Gleichen ganz vortreffliche Eigenschaften hat.

Aber Sie haben dies „unter seines Gleichen“ bisher auf Christen von gleicher Lebensstellung bezogen, und da Sie Ihre gesellschaftlichen Beziehungen bisher nicht geändert, Ihre Lieferanten nicht gewechselt, da Ihr Herr Gemahl seinen politischen Standpunkt nicht verschoben, so scheint doch die bisherige Wahl wohl befriedigt zu haben.

Nichts desto weniger oder gerade deshalb — ich vermag dies nach Ihrem Briefe nicht zu unterscheiden, erscheint Ihnen jetzt die von Herrn Marr behauptete „realistische Verjudung der Gesellschaft“ als eine Gefahr, vor der Sie Sich um so mehr fürchten, als Sie Sich bei diesen Worten gar nichts zu denken vermögen.

Und weil Sie Sich fürchten, gnädige Frau, deshalb bedaure ich Sie.

Spinoza, Baruch de (1632-1677) niederländischer Philosoph

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Mendelssohn, Moses (1729-1786) deutscher Philosoph der Aufklärung und Wegbereiter der Bildung der Juden

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