Das Wesen der Karikatur

Ich habe oben (S. 4) die zeitgenössischen Karikaturen als wichtige und aufhellende Wahrheitsquellen der Vergangenheit bezeichnet. Sie sind dies kraft des Wesens der Karikatur und infolge der verschiedenartigen Tendenzen, die sich wirkungsvoll und augenfällig in der Karikatur zu manifestieren vermögen.

Die landläufige Anschauung über das Wesen der Karikatur geht dahin, dass man in einer Karikatur eine Verspottung der dargestellten Sache oder Person zwecks deren Verhöhnung vor sich habe. Infolgedessen unterscheiden die meisten Menschen die einzelnen Karikaturen gemeinhin nur nach dem Grade der Heftigkeit und dem größeren oder geringeren Grade von Witz, der in einer Karikatur sich offenbart. Diese landläufige Vorstellung von dem Wesen und Zweck der Karikatur ist nicht zutreffend, zum mindesten ist sie durchaus ungenügend, weil sie nur eine Tendenz, freilich die am häufigsten vorhandene Tendenz des Karikaturisten hervorhebt. Man kann jedoch mit Hilfe des Karikierens auch das gerade entgegengesetzte Ziel anstreben und erreichen. Und dies geschieht ebenfalls sehr häufig. Diese verschiedenen Tendenzmöglichkeiten der Karikatur werden einem klar, wenn man die Mittel und Methoden des Karikierens untersucht und das feststellt, wodurch eine beliebige Darstellung erst zur Karikatur wird.


Zuerst müssen wir feststellen, worin die oberste Absicht eines jeden Karikaturisten besteht. Diese oberste Absicht des Karikaturisten geht dahin, das Wesentliche einer Erscheinung oder einer Sache sichtbar zu machen. Solches ist gewiss nicht bloß die Absicht des Karikaturisten, sondern die Aufgabe eines jeden Künstlers. Der Landschafter will das Wesentliche eines Baumes oder einer Gegend geben, ihren spezifischen Charakter, ihr inneres Geheimnis, das zugleich die eigentliche Ursache ihrer bestrickenden Wirkung auf unsere Seele ist. Der Porträtist will nichts anderes als das Wesentliche einer bestimmten Person zur Anschauung bringen; er will ihren Charakter, ihre geistige und seelische Physiognomie gestalten, die das Gesetz der äußeren physischen Form ist. Das gleiche will der Historienmaler, und ganz demselben Ziel strebt auch jeder Plastiker zu. Je vollkommener diese Aufgabe dem betreffenden Künstler gelingt, urn so vollendeter ist seine Leistung. Alle künstlerische Gestaltung erreicht dieses Ziel auf die gleiche Weise. In erster Linie durch die Vereinfachung, durch den Vers zicht, durch das Weglassen von allem Nebensächlichen; schon dadurch entsteht von selbst eine Pointierung des Wesentlichen. Zu diesem Negativen gesellt sich aber auch ein Positives: die Betonung all der Merkmale, die eben das Besondere der betreffenden Erscheinung ausmachen, die ihres Wesens Kern an die Oberfläche bringen. Dieses Besondere wird also gewissermaßen unterstrichen. So arbeitete ein Rembrandt, so arbeitete ein Holbein, aber so arbeiteten auch ein Hogarth, ein Rowlandson, ein Daumier und nicht anders ein Wilhelm Busch. Sie alle gestalteten auf diese Weise das innere Geheimnis ihrer Objekte. Und weil sie dies mit so intensiver Kraft taten, dass man in den Gesichtern der von ihnen dargestellten Personen gewissermaßen wie in einem aufgeschlagenen Buch lesen kann, um diesen alten aber sehr zutreffenden Vergleich zu benützen, dass man obendrein eine ganze Lebensgeschichte daraus ablesen kann, einschließlich der Geschichte der Vorfahren der Dargestellten: alle Wege des Lebens, alle Niederlagen oder alle Triumphe, die hier zu einem Ausdruck müder Resignation, bei einem andern zu dem eines harten Trotzes geführt haben, — weil die betreffenden künstlerischen Gestalter gerade das an die Oberfläche gebracht haben, und zwar in dem Grade, dass man das ganze vollendete Schicksal des Dargestellten immer von neuem erschüttert miterlebt, darum sind ihre künstlerischen Gebilde Meisterwerke. In diesem weitgespannten Rahmen angeschaut, stehen ein Rembrandt, ein Holbein, ein Daumier und auch ein Wilhelm Busch alle auf derselben Linie. Ein Daumier strebt zu demselben und erreicht dasselbe wie ein Rembrandt: die restlose Aufdeckung des individuellen menschlichen Lebensgeheimnisses. Selbstverständlich ist trotz diesem gleichen Resultat ein wesentlicher Unterschied auch in dieser Richtung zwischen beiden vorhanden. Er besteht in dem, wodurch eben eine Darstellung zur Karikatur wird.

Zur Karikatur wandelt sich die Darstellung einer Person oder einer Situation, wenn der künstlerische Gestaltungsprozess sowohl im Negativen, wie im Positiven, also im Weglassen des Nebensächlichen und im Pointieren oder Unterstreichen des Wesentlichen und darum Charakteristischen, vom Künstler so weit getrieben wird, dass diese künstlerische Absicht, das Hervorheben gewisser Dinge, dem Beschauer förmlich in die Augen springt. Der Beschauer muss den Eindruck bekommen, das einzig dies der Zweck der betreffenden Darstellung ist. Das äußere Gleichgewicht einer Darstellung muss also bis zu einem gewissen Grade zerstört sein zugunsten des Zieles, eine ganz bestimmte Wesensseite des behandelten Objektes ostentativ in den Vordergrund zu rücken. Auf diese Weise, durch die vom Karikaturisten bewusst angestrebte Gleichgewichtsstörung, entsteht auch die für den starken Eindruck einer Karikatur so wichtige komische Wirkung. Diese ist das Resultat einerseits des Widerspruches zwischen geistiger Wahrheit und objektiver Unrichtigkeit, und andererseits des grellen Offenbarwerdens der gestalteten Idee. Diese Gleichgewichtsstörung kann, wie Hunderte von karikaturistischen Meisterwerken erweisen, natürlich auf die künstlerischeste Weise geschehen, so dass z. B., künstlerisch gewertet, die Zeichnung eines Daumier unbedingt neben der eines Michelangelo oder sonst eines ganz Großen der Kunst rangiert.

Da die gewollte Gleichgewichtsstörung technisch das Wesentliche für die Karikatur darstellt, ist dies das Prinzipielle, wodurch sie sich von der Nichtkarikatur unterscheidet. Bei einem Michelangelo oder Rembrandt ist durch die Methode der Vereinfachung das äußere Gleichgewicht nie gestört. Im Gegenteil: bei ihnen ist gerade die höchste und tiefste Harmonie des Ganzen erreicht. Diese große Harmonie ist hier sogar das künstlerisch gesteckte Ziel. Freilich wird auch dieses Ziel immer nur auf Kosten der sogenannten absoluten Richtigkeit oder Wahrheit erreicht. Denn das, was der betreffende Künstler gibt, sind auch nur zusammengefasste Abstraktionen, Versinnbildlichungen einer Idee, und er tut dies in um so stärkerem und intensiverem Grade, je gestaltungskräftiger er ist.

Der Karikaturist treibt die Unterstreichungen der von ihm hervorgehobenen Charaktereigenschaften auf die verschiedenste Art und Weise stets so weit, dass seine Absicht in den meisten Fällen sozusagen plakatmäßig wirkt: Ich will durch dein Porträt der Welt zeigen, welche Menagerie von Gefühlen hinter deinem zugeknöpften Rock sich austobt. Das steht unsichtbar unter jeder guten Karikatur geschrieben. Unterstützt wird diese Absicht vielfach noch durch die Verwendung allerlei symbolischer Mittel. In diesem Verfahren gibt es natürlich unendlich viel Nuancen, und so gibt es auch ebenso viele Formen des Karikierens. Es ist ein langer und abwechslungsreicher Weg, der vom fein pointierenden Gesellschaftsschilderer im Stil eines Gavarni bis in die unbegrenzten Weiten der grotesken Karikatur führt, in denen ein Gillray, ein Rowlandson, ein Wilhelm Busch, ein Rudolf Wilke und zahlreiche andere geniale Karikaturisten sich bewegen.

Das innere Geheimnis der Dinge und Menschen zu gestalten, es an das Tageslicht zu bringen, ist, wie gesagt, das Ziel jeder Kunst, der ernsten wie der grotesken. Die äußere, die künstlerisch technische Möglichkeit ist darin gegeben, dass sich der Geist die Form schafft, dass er nicht nur die Züge des Gesichtes bildet, nicht nur dem Blick seinen spezifischen Charakter verleiht, sondern dass von ihm jede Geste, jede Bewegung dirigiert ist, kurzum, dass die gesamte äußere Erscheinung den seelischen Kern offenbart, wie die Haut jeden Muskel erkennen lässt, der unter ihr liegt. Weil äußere Form nur die sichtbare Linie des Geistigen ist, darum kann der Künstler jede Eigenschaft seines Objektes sichtbar machen, nicht nur, dass der von ihm Dargestellte eine große Nase hat, sondern auch, dass er ein Geizhals ist. Aber auch nicht nur, dass der eine ein Geizhals, sondern auch, dass der andere eine Persönlichkeit mit großen Eigenschaften und außerordentlichen Tugenden ist.

Es darf natürlich nicht übersehen werden, dass diese Methode des Karikierens starkes künstlerisches Können und volle Klarheit darüber voraussetzt, wie sich das Psychische im Physischen spiegelt. Das sind Eigenschaften, die erst bei einer bestimmten zeitlichen oder individuellen Reife erlangt werden. Primitive Zeiten und mittelmäßige Künstler, denen das Geheimnis, wie man durch die Pointierung einzelner menschlicher Züge den ganzen inneren Menschen an die Oberfläche zerrt, noch nicht aufgegangen ist, oder deren künstlerische Gestaltungskraft hierzu nicht ausreicht, benützen darum die wesentlich einfachere und leichtere Methode des Symbolisierens. Sie versehen die von ihnen karikierten Personen oder Situationen mit konkreten Attributen, die Charakter und Sinn der dargestellten Sache handgreiflich versinnbildlichen; sie geben dem Reichen einen großen Geldsack in die Hand, den Geizigen setzen sie darauf, usw. Diese künstlerisch primitivere Methode des Karikierens ist übrigens für den ungeschulten Verstand der Massen immer die eindrucksvollste gewesen, und sie ist dies auch heute noch; denn die Mehrzahl der Menschen denkt sozusagen gegenständlich. Daher kommt es auch, dass sich selbst tüchtige Künstler dieses Mittels der Symbolik ständig bedienen, und dass auch in dieser Methode des Karikierens allmählich eine Unmenge glänzender und unvergänglicher Karikaturen entstanden ist. In der modernen Karikatur werden zumeist beide Methoden miteinander kombiniert.

Aus dem Umstand, dass man im Physischen durch Übertreibung unbedingt alles ohne Ausnahme, also jede geistige oder seelische Eigenschaft, ins Licht setzen kann, und dass man noch viel leichter alles durch irgendwelche sachliche Attribute symbolisieren kann, folgt die für die Klassifizierung einer Karikatur wichtigste Tatsache. Nämlich die, dass der Prozess des Karikierens an sich tendenzlos ist. Eine Karikatur muss also nicht unter allen Umständen verächtlichmachend wirken; sie kann dies, aber sie braucht dies nicht. Denn wie der karikierende Künstler diejenigen Züge unterstreichen und übertreiben kann, die den Typ des Geizhalses schaffen, so kann er auch jene Linien auffällig markieren, oder jene Eigenschaften symbolisch verkörpern, die den Edelmut, den stolzen Trotz oder irgendeine andere Tugend dem Beschauer augenfällig zur Anschauung und zum Bewusstsein bringen. Tut er aber das letztere, so wirkt die betreffende Karikatur gar nicht verächtlichmachend, sondern sie erreicht das Gegenteil. Solche Karikaturen müssen natürlich aus der Liebe, sei es einer heimlichen oder einer offenen, zu dem behandelten Objekt geboren sein.

Die Karikatur kann also mit ihren Mitteln ihre Objekte (Personen und Zustände) erniedrigen, sie kann sie aber auch erhöhen und glorifizieren. Und beides tut die Karikatur, seit es eine solche gibt, durch alle Zeiten hindurch, tagtäglich. Das erstere tut sie freilich viel häufiger als das letztere, und zwar schon deshalb, weil der Karikaturist in erster Linie Kritiker der Zeit und der Dinge ist, die er aktiv oder passiv erlebt. Der Kritiker strebt naturgemäß, weil dies im Wesen der Kritik liegt, viel häufiger danach, die von irgendeiner Tendenz übertriebenen Werte auf ihre wahre Größe zurück zu führen, als dass er selbst solche künstlich schafft. Aus diesem Grunde ist die Rolle der verkleinernden Kritik dem Karikaturisten selbst dann viel naturgemäßer, wenn er selbst das von ihm karikierte Große anerkennt, als das Bestreben, die Bewunderung und Anbetung einer Person oder Sache durch seine Mittel ebenfalls zu unterstützen und zu fördern. Aber — und das ist das Entscheidende — wenn er es will, dann kann er es, und er hat es hunderte von Malen in der Geschichte gewollt. D. h. die Karikatur hat in unendlich vielen Fällen ihre ,,Opfer“ erhöht; zahlreiche historische Persönlichkeiten sind gerade durch die Mittel der Karikatur der weitesten Allgemeinheit bewundernswert geworden.

Mit denselben Mitteln und auf dem selben Wege vermag die Karikatur den schutzlos Verfolgten zu verteidigen und den Gestürzten zu trösten. Und auch diese Aufgabe hat die Karikatur ständig und mit den größten Erfolgen erfüllt. Weil aber die Karikatur dies alles vermag, erniedrigen und erhöhen, trösten und verteidigen, deshalb eignet ihr auch eine so große Bedeutung innerhalb der Kämpfe von Völkern und Klassen.

104. Jakob als Rekrut und Jacob als Dichter. Nürnberger Bilderfolge
105. Titelblatt einer überaus heftigen antisemitischen Flugschrift. 1833
106. Die Juden als Soldaten. 1833
107. Hausierer. G. Cruikshanc. Engl. Karikatur 1832
108. Meyerbeer Französische Karikatur von Dantan. 1S35
109. Titelblatt einer humoristisch-satirischen Gedicht- und Witzsammlung in jüdischer Mundart. 1833
T013. Jüdische Typen. Nürnberger antisemitischer Bilderbogen. Um 1825
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden in der Karikatur