Zur Zeit des ersten und zweiten Kreuzzuges

Am schlimmsten erging es den Juden in Worms zur Zeit des ersten Kreuzzuges. Peter von Amiens kam mit seiner Schar von Trier her über Speyer, wo die Juden von ihm ermordet wurden, nach Worms. Hier flüchtete ein großer Teil der Juden in den Palast des Bischofs, der ihnen Schutz zugesagt hatte. Als aber die Kreuzfahrer nach Worms kamen, lieferte der Bischof die Juden aus, da er einsah, dass sie sich nicht taufen ließen, wie er es vermutet hatte. Es entstand ein schreckliches Würgen und Morden, das nach den Schilderungen, die von Augenzeugen überliefert wurden, unmenschlich genannt werden muss.

Salomo bar Simeon erzählt darüber folgendes: „Am 23. Ijar 4856 — das ist am 18. Mai 1096 — überfielen die Kreuzfahrer die Juden von Worms in ihren Häusern und schlachteten Männer, Frauen und Kinder, Jünglinge und Greise, sie stürzten die Treppen (welche vor den Häusern sich befanden) um, rissen die Häuser nieder, machten Beute und plünderten. Sie nahmen die Tora-Rollen, traten sie in den Kot, zerrissen und verbrannten sie. — Nach sieben Tagen wurden auch diejenigen, die sich noch im bischöflichen Palaste befanden, in Schrecken versetzt. Die Feinde misshandelten sie schimpflich und übergaben sie dem Schwerte. Die Juden heiligten, durch das von ihren Brüdern gegebene Beispiel gestärkt, den göttlichen Namen, indem sie mutig dem Tode entgegengingen. Sie boten ihren Hals dar, um sich für den Namen ihres Schöpfers abschlachten zu lassen. Einige von ihnen legten selbst Hand an sich. So töteten der eine seinen Bruder, der andere seinen Verwandten, seine Frau und seine Kinder, der Bräutigam seine Braut, zärtliche Frauen ihre Lieblinge, alle nahmen ungeteilten Herzens das himmlische Verhängnis an, übergaben ihre Seelen ihrem Schöpfer, indem sie das letzte Bekenntnis ausriefen: Höre Israel, der Ewige ist unser Gott, der Ewige ist einzig!“


Ein anderer jüdischer Schriftsteller, Elieser ben Nathan, erzählt bei Beschreibung der Gräuel des zweiten Tages noch folgendes: Ein Jüngling, namens Simcha Cohen wurde in die Kirche geführt und sollte zur Taufe gezwungen werden. Nach seinem Eintritt in die Kirche zog er ein Messer hervor und erstach einen Fürsten, einen Enkel des Bischofs. Man zerhieb sogleich seinen Körper in Stücke. — 800 Wormser Juden wurden in jenen beiden Tagen erschlagen. Auf diese für die Juden so unglückselige Zeit passt Lord Byrons Spruch:

Ihr Stämme mit dem Wanderstab, ihr Müden,
Wo findet Ruhe Ihr hinieden?
Die wilde Taube hat ihr Nest,
Der Fuchs die Kluft,
Der Mensch sein Vaterland,
Israel nur die Gruft.


Aus der Zeit der Kreuzzüge wird folgende Legende aus Worms berichtet: Gottfried von Bouillon hatte von Raschi, dem berühmten Lehrer in Israel gehört. Auf seinem Wege nach Jerusalem zog er zu ihm, und frug den Rabbi, ob sein Zug mit Erfolg gekrönt sein würde. Raschi weigerte sich lange, ihm eine Antwort zu erteilen, sagte ihm aber schließlich auf sein wiederholtes Drängen, dass von seinem ganzen Heer nur drei Mann und ein Pferdekopf nach Worms zurückkehren würden. Gottfried von Bouillon, der zuerst siegreich auf seiner Kriegsfahrt gewesen war, wurde später besiegt und seine Armee wurde fast völlig vernichtet. Von seinen Truppen kehrten nur vier Mann nach Deutschland zurück, und als sie nach Worms durch das Tor ritten, wurde einer von ihnen und ein Pferd durch einen Schlagbaum getötet. Der Pferdekopf fiel nach Worms, der Körper blieb außerhalb liegen. — So hatte sich die Voraussagung Raschis wörtlich erfüllt! —

Bei Gelegenheit des zweiten Kreuzzuges im Jahre 1146 wiederholten sich die Verfolgungen der Juden, ohne jedoch die Gräuel des ersten Kreuzzuges zu erreichen. Wohl fanden wieder Zwangstaufen statt, wohl wurden Juden in Worms ermordet oder schlachteten sich selber, was sie „Heiligung des göttlichen Namens“ nannten, aber die Zahl der Opfer war viel geringer als im Jahre 1096.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden in Worms