Unter Kaiser Matthias 1612, Ferdinand III. 1641, Joseph II., Karl VI. 1714 und VII. 1742 bis 1914

Unter Kaiser Matthias 1612 wurden von neuem Unterhandlungen begonnen, und der Kaiser ermahnte die Bürger, die Angriffe gegen die Juden zu unterlassen. Eine neue Kommission wurde eingesetzt, zu der Friedrich, Pfalzgraf zu Rhein und Philipp Christoph, Bischof zu Speyer, gehörten. Die Bürger von Worms warteten die Entscheidung der Kommission nicht ab, sondern verjagten alle Juden nebst Frauen und Kindern aus der Stadt.

Der berüchtigte Lebkuchenbäcker Vinzenz Fettmilch, der sich selbst den Namen „der neue Haman“ beilegte, hatte in Frankfurt a. M. den Hass gegen die Juden geschürt und ihre Vertreibung bewirkt. Als die Kunde davon nach Worms drang, fand sich auch hier ein Aufwiegler in der Person des Advokaten Dr. Chemnitius. Von ihm und Hans Georg Kern, Valentin Tomas und Nicolai Spitz wurde gegen die Juden bei den Zünften agitiert und diese ergriffen Gewaltmaßregeln gegen die Juden. Kurfürst Friedrich von der Pfalz, der Patron der Stadt Worms, schützte jedoch die Juden, und sandte Dr. Chemnitius seiner Umtriebe wegen nach Heidelberg ins Gefängnis.


Nach 3 Monaten wurde er entlassen, nachdem er versprochen hatte, nichts mehr gegen die Juden zu unternehmen, widrigenfalls er eine Strafe von 1.000 Gulden zu zahlen verpflichtet sein soll. Aber kaum war Dr. Chemnitius wieder in Worms, so wiegelte er die Zünfte noch schlimmer wie vorher auf. Am 10. April 1615, das war am siebenten Tage des Pessachfestes 5375, erging an die Juden die Aufforderung, die Stadt Worms innerhalb einer Stunde zu verlassen. Wohl widersetzten sich der Rat der Stadt Worms diesem aufrührerischen Treiben, aber er war ohnmächtig gegen den Ansturm der Bürger. Diese brachten die Juden an den Rhein und setzten sie selbst über den Strom, da die Schiffer sich weigerten, die Überfahrt zu bewirken. Die Bürger jagten die jüdischen Männer während des Gottesdienstes aus der Synagoge, und trieben die Frauen und Kinder aus ihren Wohnungen. Sie schonten weder die Greise noch die Kranken. Die Vertriebenen blieben in den umliegenden Dörfern und Städten. Sie hatten ihr Hab und Gut dem wütenden Pöbel überlassen müssen, und dieser zerstörte alles, was er vorfand. Nicht einmal die Synagoge und der Friedhof blieben unbeschädigt. Die Sammelbüchsen für die Armen wurden erbrochen und die Torarollen wurden zerrissen.

Die Juden sandten ihren Vorsteher Loeb Oppenheimer zum Kaiser Matthias, um seine Hilfe zu erflehen. Der Kaiser nahm sich der schwer Bedrängten an, und ließ die Juden am 9. Januar 1616 unter Begleitung kaiserlicher Soldaten wieder nach Worms in ihre Wohnungen bringen.

Die Rädelsführer der Aufwiegler, Kern, Tomas und Spitz wurden zur Strafe vom Scharfrichter mit Ruten über den Markt zum Andreastor aus der Stadt gestäupt und aus dem Reiche verwiesen. Dr. Chemnitius wurde wieder ins Gefängnis gebracht, musste die verwirkte Strafe von 1.000 Gulden bezahlen, und wurde seines Amtes als Advokat entsetzt. Vincenz Fettmilch wurde gehängt, und seine Familie wurde aus dem Lande getrieben.

Die Juden von Worms hatten fast ein ganzes Jahr außerhalb ihrer Häuser bleiben müssen, und als sie in die Stadt zurückgekehrt waren, stellten sie zuerst die arg zerstörte Synagoge und dann erst ihre eigenen Häuser wieder her. Es hat lange Jahre gedauert, bis sie sich von dem ihnen zugefügten Schaden erholen konnten. Es war dies um so schwerer, als den Juden immer neue Steuern auferlegt wurden. Sie hatten außer den Steuern, welche sie dem Bischof und dem Kaiser zu zahlen hatten, an die Stadt Worms zu entrichten: Hauszins, Kaufgeld, Einschreibgeld, Schlossgeld, Metzelgeld, Schutzgeld, Schanzengeld und Nicolaigelder. Da die Juden alles dies aufzubringen nicht im Stande waren, wandten sie sich an den damaligen deutschen Kaiser Ferdinand III., der eine neue Judenordnung, wie die Verfügung heißt, erließ. Sie datiert vom Jahre 1641 und unterscheidet sich von dem Vertrag von 1557 in folgenden Punkten:

Das Gebot, den gelben Ring im Mantel beizubehalten, ist geblieben, dagegen sind außerdem alle Juden und Jüdinnen verpflichtet, Schilder an ihren Häusern anzubringen und darauf ihre Namen zu verzeichnen, damit es deutlich zu sehen sei, wo Juden wohnen. Auf diesen Schildern wurden Figuren angebracht, und hiernach die Bewohner genannt. Am Anfange des 16. Jahrhunderts wurden 43 Häuser im Judenviertel von Worms gezählt, von denen 24 mit Schildern versehen waren. Die Bezeichnungen sind überliefert worden für die Häuser

Nr. 2 zur Flasche
Nr. 3 zum Stern
Nr. 4 zum halben Mond
Nr. 5 zur Rose
Nr. 6 zum Hirschhorn
Nr. 10 zur Kante
Nr. 11 zum Ross
Nr. 12 zur Sichel
Nr. 14 zum Teufelskopf
Nr. 18 zum Hasen
Nr. 19 zum Kessel
Nr. 24 zum Rad
Nr. 25 zur Heppen
Nr. 26 zum Hirsch
Nr. 27 zum Rebstock
Nr. 28 zum Wolf
Nr. 32 zum Blech
Nr. 34 zum Krug
Nr. 35 zur Büchse
Nr. 36 zum Eichhorn
Nr. 37 zum Grünbaum
Nr. 40 zur Gans
Nr. 41 zum Affen
Nr. 42 zum Born.

Die Juden durften vor 8 Uhr morgens nicht auf den Fischmarkt gehen, dagegen konnten sie im Sommer und Winter von morgens, sobald die Torglocken läuten, bis zum Abendläuten außerhalb des Ghettos sich aufhalten. Blieb einer länger aus, so musste er 1 Gulden Strafe zahlen. Die Juden mussten an Sonntagen und christlichen Feiertagen ihre Toten im Sommer um 4 Uhr, im Winter um 3 Uhr Nachmittag begraben.

Der Handel wurde den Juden teilweise freigegeben. Es wurde bestimmt, was sie fabrizieren durften, womit sie zu handeln hatten und wie viel Zinsen sie berechnen durften, wenn sie Geld ausliehen. Dafür aber wurden sie mit folgenden neuen Steuern belastet:

Wenn Zwei sich verheirateten, kostete es 6 Goldgulden Steuer. Eine ledige Person, die sich nach Worms verheiratete, bezahlte 12 Goldgulden. Ein Witwer oder eine Witwe, die einen Wormser Juden oder Jüdin heiratete, musste 20 Goldgulden erlegen. Eine jüdische Familie, die nach Worms ziehen wollte, musste mindestens 500 Gulden besitzen, und hatte 60 Goldgulden zu bezahlen.

Die Juden mussten ferner 1 Reichstaler Schutzgeld für jedes Mitglied der Familie, für Studenten und Fremde jährlich 20 Reichstaler Schutz- und Nachtgelder, für die Synagoge, das Tanzhaus, Spital, Backhaus, Friedhof und Bad jährlich 40 Gulden bezahlen. Ferner Hauszins, sowie Vermögenssteuer von jeden 100 Gulden 1/2 Gulden. Sogar die Erbschaftssteuer war in Worms für die Juden bereits eingeführt. Außer den ihnen früher bereits gestatteten Hochmeister oder Rabbiner, Sänger und Schächter wurde den Juden fortan erlaubt, einen Wächter zu halten.“

Das sind die Grundzüge der Stätigkeit, die den Juden von Worms auch von allen nachfolgenden Kaisern erteilt worden ist, bis auf Kaiser Joseph II. Er gab ihnen die Erlaubnis, ihren Vorstand selbst zu wählen, so dass von dieser Zeit an der sogenannte „Judenbischof“ nicht mehr existierte.

Der 30jährige Krieg hatte auch der Stadt Worms gewaltigen Schaden gebracht. Die Häuser wurden durch Feuer zerstört und die Bürger wurden von den Soldaten geplündert. Die Folge hiervon war, dass ein großer Teil der Einwohner Worms verließ. Die Stadt, die in den früheren Jahrhunderten großen Aufschwung genommen hatte und bereits 70.000 Einwohner zählte, verlor von Jahr zu Jahr an Größe und an Bedeutung. Als Ludwig XIV. von Frankreich im Jahre 1689, um die Pfalz zu erobern, auch die Stadt Worms besetzte, sollen mit Einschluss der Juden nur etwa 5.000 Bürger in der Stadt gewesen sein. Die Franzosen brandschatzten Worms, sie zerstörten alle Tore und Türme, nahmen den Bürgern all ihr Hab und Gut und warfen am 31. Mai 1689 die Brandfackeln in die Stadt. An allen Ecken und Enden schlugen die Flammen empor und innerhalb weniger Stunden war ganz Worms in Äsche gelegt. Nur der Dom, die Synagoge und die Liebfrauenkirche blieben erhalten.

In dem Bestreben, die zerstörte Stadt wieder aufzubauen, wandten die Bürger sich auch an die Juden und baten sie, in die Stadt zurückzukehren und ihnen zu helfen, die Häuser wieder aufzubauen. Sie versprachen ihnen alle möglichen Erleichterungen und Freiheiten, und schlossen mit ihnen im Jahre 1699 einen Vertrag, in dem ihnen die weitgehendsten Zugeständnisse gemacht wurden.

Die Vorsteher der jüdischen Gemeinde von Worms, David zur Pulverflasche, Loeb zum halben Mandl, Isaac zum grünen Hut und Aaron zur goldenen Gans, schlossen mit dem Rat der Stadt Worms den Vertrag, durch den die Leibeigenschaft der Juden (die 1348 von Karl IV. eingeführt war) aufgehoben wurde. Die Juden brauchten sich nicht mehr wie bisher „Leibesangehörige“ zu nennen, sondern durften sich „untertänig gehorsamste Juden oder Schutzverwandte oder Hintersassen“ unterzeichnen. Sie durften ihre eigenen Häuser bauen, und gegen eine einmalige Zahlung von 1.200 Gulden wurde ihnen der Hauszins erlassen. Dagegen verpflichteten sie sich alljährlich zu Pfingsten 60 Gulden zu entrichten. Der Vertrag verlor sofort seine Gültigkeit, wenn sie sich weigern sollten, diese Abgabe zu bezahlen.

Eine Übersicht der von den Juden zu zahlenden Steuern finden wir in einem Voranschlag der Einnahmen der Stadt Worms vom Jahre 1751.

Die Juden waren veranlagt zur Zahlung von:

Judenmetzgerakzise 311 Gulden 47 Kreuzer
Von den Juden, so Taglöcher in den Mauern haben 2 Gulden 30 Kreuzer
Von den Juden, so auswärts wohnen 91 Gulden — Kreuzer
Fremden Juden Zoll 349 Gulden 52 Kreuzer
Judenschaft Nikolai Gelder 270 Gulden — Kreuzer
Wegen Erlassung der Judenleibeigenschaft 60 Gulden — Kreuzer
Juden Nachsteuer 185 Gulden — Kreuzer
Juden-Grund- und Bodenzins Schutz und Schirm 1037 Gulden — Kreuzer
Judeneinnahme wegen Einzug von fremden und
einheimischen in hiesige Gemeinde 84 Gulden — Kreuzer

insgesamt 2.390 Gulden 29 Kreuzer

Seitens der deutschen Kaiser Karl VI. und Karl VII. wurden den Juden weitere Freiheiten bewilligt. Es wurden ihnen 1714 und 1742 Privilegien gewährleistet und der Kaiser Gnade, Schutz, Schirm und Sicherheit zugesichert.

Unter den veränderten Lebensbedingungen und unter dem Schutze der Freiheit und der Gerechtigkeit kamen die Juden in Worms schrittweise immer weiter voran. Die Tore des Ghettos waren gefallen, und die Juden konnten ihre Kräfte freier entfalten. Sie bewährten sich auf allen Gebieten der Wissenschaft und des Handels und heute finden wir die Juden in Worms, deren Zahl sich auf ca. 2.000 beläuft, in allen Berufsarten vertreten. Sie erfreuen sich der Achtung ihrer Mitbürger und beteiligen sich an der Förderung der Stadt, die von Jahr zu Jahr weiter fortschreitet.

Nur die enge Judengasse, die alte Synagoge und der Begräbnisplatz erinnern an die finsteren und trüben Zeiten, die auch für die Wormser Juden längst vergangen sind.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden in Worms