Die Wormser Judengasse

Die Wormser Judengasse hat sich bis zum heutigen Tage erhalten. Sie zieht sich von der Kämmererstraße beim Mainzer Tor (früher Martinspforte) bis zum Hamburger Tor (früher Judenpforte) hin. Auf der rechten Seite der Judengasse befindet sich auf einem freien Platz die alte berühmte Synagoge. Sie ist das älteste jüdische Gotteshaus in Deutschland und war im Mittelalter der schönste jüdische Tempel. Fast alle Fremden, die nach Worms kommen, besuchen den alten sehenswerten Bau. Auch Kaiser Friedrich III hat als Kronprinz die Synagoge besichtigt. Er hatte seinen Namen in das dort aufliegende Fremdenbuch eingezeichnet, aber ruchlose Hände haben das geschätzte Blatt entwendet.

Die Synagoge zerfällt in 3 Teile und die 3 aneinander gebauten Räume sind zu verschiedenen Zeiten errichtet worden. Der älteste Teil ist die auf Kosten des Jakob ben David und dessen Ehefrau Rahel erbaute und im Jahre 1034 vollendete Synagoge für die Männer. Die Bauart ist romanisch. Auf zwei schönen Säulen, an deren reich geschmückten Kelchkapitälen jüdische Buchstaben sich befinden, deren Bedeutung nicht mehr zu entziffern ist, wölbt sich im Bogen das Dach. Auf dem schönen Almemor liegen alte Gebetbücher mit reich verziertem Druck, und das Allerheiligste ist eine aus Steinen errichtete Lade. Schwere eiserne Türen mit großen Riegeln verschließen das Allerheiligste, in dem sich viele sehr alte Torarollen befinden. An eine derselben knüpft sich folgende Sage. Eine Kiste schwamm einst auf dem Rhein, viele Schiffer fuhren hinaus, um sich in ihren Besitz zu setzen. Sobald sie aber in die Nähe der Kiste kamen, schlugen die Wellen hoch auf, und die Kiste schwamm weit weg von ihnen. Es war ihnen nicht möglich, derselben habhaft zu werden. Da machten sich einige jüdische Männer auf, um die Kiste zu holen, und als sie in die Nähe der Kiste kamen, schwamm sie ihnen von selbst zu. Sie brachten sie ans Land, öffneten sie und fanden darin eine Torarolle, die, wie die Sage erzählt, von Rabbi Meir von Rothenburg geschrieben, und von ihm in den Rhein versenkt worden ist, als man ihn gefangen nehmen wollte.


Vor dem Allerheiligsten brennen hier im Gegensatz zu anderen Synagogen, in denen nur ein ewiges Licht unterhalten wird, zwei Lichter. Sie dienen zur Erinnerung an zwei Männer, die ihr Leben für die Juden von Worms geopfert haben. Eine Prozession zog einst, wie berichtet wird, durch die Straßen von Worms. Als sie durch die Judengasse kam, entdeckte man, dass das Kruzifix besudelt sei. Die Juden wurden angeklagt, die Entweihung des Kruzifixes verübt zu haben. Das Volk war erbittert und drohte, alle Juden niederzuschlagen, wenn sie die Schuldigen nicht herausgeben. Acht Tage Frist wurden ihnen bewilligt. Sieben Tage waren bereits vergangen und der Schuldige hatte sich nicht gefunden. Am achten Tage, zu früher Stunde klopfte es an den Toren des Judenviertels. Zwei Männer, die niemand vorher gesehen hatte, verlangten Einlass. Sie sagten, dass sie gekommen wären, um die Juden zu erretten. Sie gaben sich als die Missetäter aus und wurden in der grässlichsten Art hingemordet und verbrannt. Das Volk hatte sich für das entweihte Kruzifix gerächt, die Juden von Worms aber waren aus der ihnen drohenden Gefahr errettet. Zum Andenken an jene beiden Männer brennen noch heute in der Synagoge zwei ewige Lichter.

An die Männer-Synagoge fügt sich als selbstständiger Bau die in gotischem Stil errichtete Frauen-Synagoge an, mit der ersteren nur durch einen Durchgang verbunden. Da die Frauen bei der weiten Entfernung dem Gottesdienste der Männer nicht folgen konnten, hatten sie ihre eigenen Vorbeterinnen. Von einer, mit Namen Urania, die 1275 gestorben ist, kündet ein auf dem Friedhof befindlicher Leichenstein.

An die Frauen-Synagoge stößt die Raschi-Kapelle, wo Rabbi Salomon ben Isaac, genannt Raschi, gelehrt haben soll. Raschi ist in Troyes im Jahre 1040 geboren, und es ist lange darüber gestritten worden, ob er sich überhaupt in Worms aufgehalten habe. Es ist aber festgestellt worden, dass Rabbi Isaac ha Levi in Worms sein Lehrer war und Raschi einige Jahre in Worms unterrichtet hat. In der Kapelle befindet sich eine Nische in der Wand. Auf dem darin angebrachten hölzernen Sitz soll Raschi gesessen haben, davor stehen ein Tisch und die Bänke, auf denen seine Schüler Platz genommen haben sollen. Nach neueren Forschungen ist die Kapelle erst im Jahre 1624 von David Oppenheim erbaut worden. Es ist daher unmöglich, dass Raschi darin gelehrt haben kann.

Am Eingang zur Synagoge sind zwei Tafeln mit jüdischen Inschriften, die darüber Aufschluss geben, dass die Frauen-Synagoge im Jahre 1213 von Rabbi Mëir, Sohn des Joël und seiner Frau Judith, einem kinderlosen Ehepaare, erbaut worden ist. Ein Teil der Inschrift, die sich hierauf bezieht, hat folgenden Wortlaut: „Dieses Haus hat zu Ehren Gottes erbaut: Rabbi Mëir, der Sohn des Joël aus priesterlichem Geschlechte im Jahre 4973 nach Erschaffung der Welt (1213). Möge seiner von Gott zum Guten gedacht werden und darauf Jeder, der davon hört, „Amen“ antworten. Dass dieses Gebäude zum Bethaus für Frauen, die auf Gott und seine Güte vertrauen, erbaut worden, sei mit eisernem Griffel für alle Zeiten hier eingeschrieben.“ — Und darunter steht folgendes:

„Eine wohltätige Frau, die gleich einer Königstochter als Gattin in dem Hause des Rabbi Mëir aus der Priesterfamilie waltete, die fromme Judith, hat, nachdem ihr Gott das hierzu nötige Vermögen verliehen, dieses Gotteshaus zu seiner Ehre erbauen lassen, damit man von hier aus täglich Lob-, Bitt- und Dankgebete zu Gott emporsende. Dieses edle Werk, durch welches sie wie eine Mutter erscheint, die sich des Glückes ihrer Kinder erfreut, möge ihr Gott in Ehren und Freuden gedenken“.

Das Judenbad in Worms wurde erst im Jahre 1896 aufgedeckt. Es ist vermutlich im Jahre 1034 zugleich mit der Männer-Synagoge erbaut worden.

An der nach der Synagoge führenden engen Strasse befindet sich in der Wand eine etwas eingedrückte Stelle, an die sich die folgende Sage knüpft: Die Mutter des Rabbi Jehuda ben Samuel ging einst durch die enge Judengasse in den Tempel. Da kam ein großer Wagen um die Ecke gefahren und der Führer trieb die Pferde absichtlich an, um die Frau zu töten. Es gab für sie keinen Ausweg, und sie wäre sicher von dem Wagen zermalmt worden. Da drückte sie sich an die Wand, betete zu Gott, und die Wand gab nach und gewährte ihr einen Zufluchtsort und Rettung vor der ihr drohenden Gefahr. —

Die Geschichte erzählt uns unendlich viele Gräuel und Missetaten, denen die Juden in Worms ihres Glaubens wegen ausgesetzt waren. Man versperrte ihnen Licht und Luft, man schnitt ihnen Weg und Steg ab und man versuchte durch allerlei Zwangsmaßregeln sie ihrem Glauben abspenstig zu machen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden in Worms