Zweite Fortsetzung

Die antisemitische Bewegung, die vor dreißig Jahren gegen die Juden entstand, ist dadurch erklärlich, dass von den vielen hervorragenden Verdiensten deutscher Juden viel zu wenig bekannt wurde.

Die politische Geschichte übergeht die Abstammung des ersten deutschen Reichstagspräsidenten von Simson, der seinem Könige mehrfach die Kaiserkrone antrug. Das damals als Musterländle gepriesene Baden hatte einen nicht einmal getauften Finanzminister: Ellinger.


Das waren einzelne Personen, die ihr Bestes für das Werden des Reiches einsetzten. Schon in den 40er Jahren waren es jüdische Dichter in der Sturm- und Drangperiode, welche für Einheit und Fortschritt eintraten. Berthold Auerbach und Andere, deren Namen heute vergessen sind, mussten wegen ihrer Zugehörigkeit zu alldeutschen Burschenschaften hinter Kerkermauern dafür büßen, dass sie für ein geeintes Deutschland agitierten.

*) Der letzte Nobelpreis für Chemie fiel nach Deutschland. Sein Träger wurde eine allgemein anerkannte chemische Autorität; der Nachfolger Bayers in München, der Vorstand des dortigen staatlichen Laboratoriums, Geh. Rat Professor Willstätter.

Bedeutender zeigt sich aber die Mitwirkung jüdischer Elemente bei der Ausgestaltung des deutschen politischen Lebens. Kein Volk der Welt hat ein so gut fundamentiertes Parlament, in dem so überzeugungstreue Parteien sitzen, die nicht nach Laune, nach persönlichen Vorteilen stimmen, sondern die — oft viel zu sehr — nach theoretischen Überlegungen und prinzipiellen Anschauungen den Fragen nähertreten. Kein Abgeordnetenhaus hat sozialer und menschlicher gearbeitet. An ihren Früchten kann man am besten nicht nur die Bäume, sondern auch die Parlamente erkennen. Unsere konservative Partei feiert als einen ihrer Mitbegründer Stahl; Lasker und Bamberger schufen die liberale Partei; Marx und Lassalle standen an der Wiege der Sozialdemokratie, die in Singer, Haase, Bernstein und Frank mit ihre besten Führer fand.

Da wir noch keine Abhandlung über die jüdische Mitarbeit an der Entwicklung Deutschlands in der neuesten Zeit besitzen, so war es wohl nicht unangebracht, sie mit einigen Beispielen zu belegen. Ähnlich wie Deutschland in der Welt, so machten sich die Juden in Deutschland „unliebsam bemerkbar".

Der Umwelt erschienen einst die deutschen Waren als „billig und schlecht", die aufblühende deutsche Flotte war den Engländern, die als handeltreibendes Seevolk ein Monopol anstrebten, eine freche Konkurrenz, die deutsche Beteiligung in der Weltpolitik kam den Engländern als Aufdringlichkeit vor, selbst wenn sie noch so zurückhaltend war.

Dazu kamen noch historische Vorurteile, von welchen z. B. besonders die Franzosen nicht loskamen. Das Geschrei der Gasse umnebelte selbst intelligente Engländer, Franzosen, Italiener, Amerikaner, Rumänen, Russen. Auch in der neutralen Welt gibt es leider tüchtige Menschen, die sich alle Fabeln über die Unkultur der Deutschen, über die Eroberungssucht des Kaisers und seines Volkes zu eigen machten.

Geradeso hat man oft von den Juden gesprochen. Man hat sie des Mangels an Kultur und an Redlichkeit geziehen und all des Schlechten, was man den Deutschen heute nachsagt, beschuldigt. Wollten sie beim Militär Karriere machen, dann hinderte man sie daran; wenn daraufhin wieder Manche keine sonderliche Lust am Dienste hatten, hielt man es ihnen wieder vor. Wurden sie reich, dann erweckte das Eifersucht; war irgendwo ein unbedeutender Jude, dann wurde daraus der Schluss gezogen, dass der Jude überhaupt unfähig ist. Es ist wirklich überraschend, wie ähnlich das Eintreten Deutschlands in der großen Welt, und das Emporsteigen der Juden in Deutschland von der Außenwelt gewertet werden.

Wir sehen es ja in unserer Zeit, wie nichts zu plump ist. um geglaubt zu werden, wenn ein Volk neidisch ist. An diesen Instinkt appellierten auch die Antisemiten. Der Jude, der die deutsche Sozialdemokratie mitschuf, soll an den Auswüchsen des Kapitalismus schuld sein, bloß weil findige Köpfe, wie die Tietz, Wertheim, Jandorf, Israel, den Fabrikbetrieb, das Maschinelle auch in den Kleinverkauf einführten und das Warenhaus schufen.*) Und wie einstmals die Handweber die Fabriken stürmten und die Maschinen zertrümmerten, so kämpften die kleinbürgerlichen Kaufleute und Handwerker gegen die Riesenunternehmen, und verwechselten Person und Sache. Wer diese modernen Erfinder hasste, wurde Antisemit.

*) Den „kleinen" Mann haben ähnliche Entwicklungstendenzen in den meisten Fällen an die Wand gedrückt. Großbäckereien, Großschlächtereien, Wäschereien, Restaurationsbetriebe im großen, mit und ohne Filialen sind ähnliche Erscheinungen wie das Warenhaus, welche die selbständigen Handwerker und Kleinbetriebe in ihrer Existenz bedrohen.

Wie Deutschland in der Welt überall auf Neider stieß, so fand auch der Jude in Deutschland überall missgünstige Seelen. Wie beschränkt diese waren, geht schon daraus hervor, dass sie durch den Antisemitismus alle sozialen Fragen und Schäden zu lösen glaubten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden im Weltkriege (1914-1918)