Die Stellung der deutschen Juden vor dem Krieg.

Die Judenfrage ist für Deutschland praktisch so wichtig, dass es sich gewiss verlohnt, darauf einzugehen. Prüfen wir zunächst einmal die Stellung der Juden Deutschlands und ihren Einfluss in diesem Lande.

Die Mitte des verflossenen Jahrhunderts hat nicht nur einen völligen Umsturz aller inner- und außen politischen Verhältnisse Deutschlands bedingt; die breiten Volksmassen erschütterte ein sozialer Umschwung. Aus einem rein agrarischen Staate wuchs in wenigen Jahrzehnten eine gigantische Industrie heraus, welcher bald ein weltenumspannender Handel die Wege bahnte. Die Technik feierte rascher ihre Triumphe, als die Regierungsfürsorge und die von Organisationen getragene Selbsthilfe der Interessengruppen sich auf die Neukonstellationen einstellen konnten. Dadurch gerieten die Arbeiter stellenweise in die Gefahr, materiell und physisch ausgenutzt zu werden. Auf dem Lande hatte sich einst ein ähnlicher Prozess, wodurch sich Latifundien bildeten, im Laufe der Jahrhunderte entwickelt. Die industriellen und kommerziellen Großunternehmungen aber kamen über Nacht. Erbarmungslos rang das Großkapital den Stand der kleinen Leute nieder. Dieser ökonomische Werdegang ging nicht ohne Gewalttat, ohne Härten ab, die den Trägern den Hass des in seiner Existenz erschütterten dritten Standes eintragen mussten.


Die Sozialdemokratie als die Zusammenfassung der Proletarier ist das naturnotwendige Produkt dieser Entwicklung. Der Antisemitismus ist die Konsequenz des Prozesses insofern, als sich diese Bewegung gegen die sichtbarsten Träger, gegen die Klasse von Menschen wandte, welche am geschicktesten die Macht des Kapitals auszunutzen wussten. Die erste Partei ist ein Versuch, der Sache selbst entgegenzutreten, die letztere kämpft gegen Personen, die nebenbei in ihrer religiösen und rassigen Eigenart eine gute Zielscheibe boten.

Uns interessiert hier nicht, wie die Auswüchse des Kapitalismus oder der Kapitalismus selbst zu bekämpfen ist Wir wollen nur der Frage nähertreten, wie der Antisemitismus des weiteren zu erklären ist, welches die Bedeutung der deutschen Judenheit gewesen ist, und ob wir anlässlich des Krieges den Juden einen mehr oder minder günstigen Einfluss auf die Wirtschaftsgestaltung Deutschlands einräumen können, um dann später auf den Einfluss der deutschen Juden und überhaupt auf den Krieg eingehen zu können.

Bis in die sechziger Jahre des vorigen Jahrhunderts strömte ein gut Teil der jüdischen Jugend Deutschlands nach den Vereinigten Staaten von Amerika, Südafrika, England, Frankreich etc. Teilweise war ihnen die volle Gewerbefreiheit (wie z. B. in Bayern bis 1864) vorenthalten gewesen. Die siebziger Jahre, die berühmten Gründerzeiten, bringen eine Hochflut von aus den Dörfern in die Städte strömenden Juden. Die jüdischen jungen Leute wandern nicht mehr in die Fremde, sondern wenden sich dem deutschen Handel, der Industrie, den akademischen Berufen, und vor allem den Großstädten zu. Das seit Jahrhunderten betätigte Wohnen in den Städten, bedingt durch Eigenart, aber auch durch das mittelalterliche Gesetz, das bis ins XIX. Jahrhundert hinein Geltung hatte, lässt sie allmählich in die größeren Städte abwandern, wo die Verdienstmöglichkeiten sich stetig vergrößern. Dazu trägt auch die antisemitische Ostmarkenpolitik bei, welche die Juden aus den Provinzen Posen, Ost- und Westpreußen vertreibt. Der Druck der Hakatisten, der wirtschaftliche und gesellschaftliche Boykott der evangelischen Deutschen den Juden im Osten gegenüber, lässt ihre Stellung zwischen Deutschtum und Polentum unhaltbar werden. Dazu kommen elementare Ausbrüche der von den Antisemiten bearbeiteten Volksschichten. Der „Ritualmord von Konitz" ist eins dieser bezeichnenden Ereignisse. Fluchtartig verlässt der Jude diese Städte, deren Charakter durch seine Anwesenheit noch ein deutscher war, und überlässt den Platz den Polen.

Die neueren Schriften über das Ostmarkenproblem geben sämtlich zu, dass die durch die staatliche und gesellschaftliche antisemitische Politik bedingte Vertreibung der Ostmarkenjuden ein bedeutsamer Missgriff war, der sich nach drei Seiten bemerkbar machte:

1. Für die Entwicklung dieser Städte, die durch den Verlust von Menschen, von Kapital und von unternehmungslustigen und fähigen Elementen gehemmt wurde.

2. Für die deutsche Sache. Der Wegzug von ca. 150 bis 200.000 Juden aus den bedrohten Provinzen hat die deutsche Sache um so viel Anhänger ärmer gemacht.

3. Für den Staat. Der Jude der Ostmark (wie überhaupt in ganz Deutschland) war ein zuverlässiger Staatsbürger, auf den in jeder Zeit gerechnet werden konnte.

Organisationen über Organisationen erwuchsen aus dem reichen Boden der Gebiete rechts der Elbe. Deutsche und polnische Kleinbauern-Genossenschaften, Vereine der Gutsbesitzer und Groß-Eigentümer, die zugleich die Zucker- und Spiritusfabrikation besaßen, politische Organisationen beider Sprachengemeinschaften, alle aber mit leicht antisemitischen Tendenzen, die durch den in Berlin geborenen Antisemitismus erst voll und ganz durchtränkt werden sollten. Was dagegen der Jude an Organisation entgegenstellte, war kaum der Rede wert. Er organisierte sich nicht wirtschaftlich, sondern verzichtete darauf, sich in einen Kampf einzulassen, in dem außer Regierung und Verwaltung auch die breite Masse des Volkes gegen ihn Stellung nahm, und verschwand in die Großstadt, wo er untertauchen konnte.*)

*) Die oft zitierten jüdischen Vereine haben keinen wirtschaftlichen, sondern einen humanitären Charakter.

Dadurch ist die unnatürliche plötzliche Überschwemmung der Hauptstädte mit Juden bedingt worden. Nicht nur die Jungen und Fähigen kamen; viele, die sich nicht mehr anzupassen wussten, schwemmte die Flut herein. Ältere Menschen, die überall anstießen, weil sie in dem neuen Beruf nicht mehr von der Pike auf dienen konnten. Neben einer großen Menge von Begabten und Energischen auch „Luftmenschen", Bassermann'sche Gestalten, labile Charaktere. Aber was das junge Blut anlangt, so kann man leicht zeigen, dass es Deutschland zum Segen gereichte.

Deutschland ist der große, kräftige und reiche Staat in hohem Maße auch durch die Mitarbeit der Juden geworden.

Bekannt ist deren Mitwirken an der finanziellen Entwicklung. Die Finanzgrößen, die die deutsche Geldwirtschaft und die Großbanken schufen, waren zum großen Teil Juden. Das Erstarken unserer finanziellen Kraft hegt in der glücklichen Ausgestaltung unserer Finanzinstitute. Die Banken sind nach Sombart eine jüdische Erfindung. Die Barone Oppenheim sind die Gründer der ersten, der Darmstädter Bank. Neben den Rothschilds ragen als Eisenbahnkönige einige jüdische Häuser wie die in Bayern nobilitierten Eichthal und die später in Preußen geadelten Foulds, später Dr. Strousberg und der Baron Hirsch hervor. Das Bankhaus Mendelsohn hat heute noch seine nahen Beziehungen zu den maßgebenden Stellen des Reiches, und der Chef der Firma Bleichröder ist der Öffentlichkeit populär geworden, weil er Bismarck zu der hohen französischen Kriegsentschädigung von 5 Milliarden in Gold zu bewegen wusste. Auch die modernen Finanzgrößen, die Leiter unserer wichtigsten Institute, zählen Juden an erster Stelle auf. Wir erinnern an die von Cohn, von Wassermann, Fürstenberg, Speyer-Ellissen, von Schwabach, Goldberger . . .

Die Arnold, Berliner und Deutsch sind Namen, welche in der neudeutschen Wirtschaftsgeschichte einen guten Klang besitzen. Hagen-Köln (früher Levy geheißen) war wohl einer der Männer, welcher in dem Aufsichtsrat der größten deutschen Gesellschaften den mächtigsten Einfluss besessen hat.

Juden haben in Hamburg die Strumpfindustrie, in Fürth das Spiegelglas, im posenschen die Schnapsbrennerei großgemacht. Wir treffen sie auch als Großindustrielle in der Seidenfabrikation.

Neben unseren vortrefflichen Geldinstituten haben uns vor allem unsere großzügigen Wollfirmen die Kriegführung erleichtert. Der deutsche Woll- und Baumwollmarkt ist von Juden geschaffen und auf die Höhe gebracht worden, die er heute einnimmt, wie wohl kein Kenner der Verhältnisse bestreiten wird. Unter den vielen Tüchtigen verdienen hier die Gebrüder Simon namentliche Erwähnung.

An den grandiosen Woll- und Baumwollhandel konnten sich die zahlreichen, vielfach jüdischen, Textilfabriken anlehnen. Die blühende deutsche Konfektion ist quasi eine jüdische Domäne.

Daneben erinnere ich an den Leipziger Rauch markt. Wer die berühmte Pelzmesse kennt, weiß, dass jüdischer Fleiß und Erwerbsfreudigkeit hierin Deutschland eine erste Stelle in der Welt schuf. Die großen „Felljuden", welche unsere Lederindustrie mit ausbauten (z. B. Adler-Oppenheimer), und die Stiefelkönige sind bekannt.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden im Weltkriege (1914-1918)