Die Lehren des Krieges.

Die Ergebnisse aus dem Kriege für das Verhältnis der deutschen Juden zum Reiche sind leicht zu ziehen. Wie im Frieden, so haben sich die Juden besonders in den schweren Zeiten der Stürme als gute Staatsbürger bewährt. Der Burgfriede hat es ermöglicht, dass die, welche durch lange Zeit als Soldaten II. Klasse und auch als mindere Staatsbürger behandelt worden waren, ihre Pflicht in vollem Maße taten und mehr als das. Wenn man die Zahl der jüdischen Kriegsfreiwilligen, die zum Heere strömten, zählen wird, dürfte mancher frühere Antisemit erstaunen. Soviel Liebe und Begeisterung für ein Vaterland, das seinen jüdischen Mitbürgern die Zeiten des Soldatenstands nicht zu den angenehmsten machte, kann nur bei einem Volke gefunden werden, das in seinem Kern ein loyales ist. Und die Juden waren und sind denn auch tatsächlich in England, in Frankreich, in Italien und Österreich, in den Vereinigten Staaten, in Holland etc. überall als ein unbedingt gut patriotisches Element bekannt.

Wenn sich etwas aus den Lehren des Augenblicks für die Zukunft ergeben müsste, so ist es die Forderung der vollen Durchführung der Gleichberechtigung der jüdischen Staatsbürger in Deutschland. Wie sich in Österreich die Ungarn bewährten, wie die Polen und Elsässer und Dänen in unseren Heeren zum Erfolge beitrugen, so vor allem die Juden, die nie auf deutschem Boden ein eigenes Territorium zu gründen suchten, die nie in geschlossener Organisation irgend welchen staatlichen, sprachlichen oder kulturellen Bestrebungen der Deutschen im Frieden wie im Kriege eine Gegnerschaft aufboten.


Der deutsche Jude hat keine nationale und religiöse Politik, die sich gegen die der andern Staatsbürger wenden kann. Es gibt keinen jüdischen Verein, der Deutschland liberal, demokratisch oder sozialistisch regiert haben will. Wohl aber gibt es jüdische Redakteure bei den Freikonservativen, bei den Nationalliberalen, bei den Volksparteilern und in der Arbeiterbewegung. Eine irgendwie einheitliche jüdische Politik gibt es in Deutschland nicht. Auch ihre religiösen Anschauungen stören niemanden.

Nicht um Lohn zu finden, haben die Juden Seite an Seite mit allen anderen Deutschen gekämpft. Sie haben aber ein Anrecht, nicht um ihre Freiheit verkürzt zu werden. Es muss das Schauspiel des Friedens aufhören, dass der Jude, sobald er getauft ist, Professor, Offizier, Staatsanwalt usw. werden kann. Diese Prämie auf das Renegatentum ist nicht wert, in Friedenszeiten wiederzukehren. Deutschland darf keine antisemitische Politik betreiben, es würde sich sonst an das programmatisch antisemitische Russland anlehnen. Es kann im Gegenteil auch nicht dem Ehrgefühl deutscher adliger Offiziere entsprechen, mit Männern eng verbunden zu sein, die sich ihrer Ahnen und Herkunft schämen. Es kann nicht die Auffassung der Hüterin des Rechts sein, dass Richter vorerst ihren Glauben abgeschworen haben müssen; es kann keine freie Wissenschaft sein, die das christliche Bekenntnis zur Voraussetzung hat.

Deutschland, der nunmehrige Freund des Islam, kann auch seine jüdische Bevölkerung ihrer Religion nachgehen lassen, ohne dabei Schaden für seine christlichen Bewohner zu nehmen. Der Übertritt vom Judentum zum Christentum muss wieder öffentlich als das gebrandmarkt werden, was es in den weitaus meisten Fällen wirklich ist: als Streberei, Gesinnungsheuchelei, Religionsmissbrauch (alldieweil es keine „überzeugten" Christen sind, die den Weg zum Taufbecken suchen und ihn so leicht finden.)

Der Krieg hat dem elenden Religions- und Rassengezänk im Innern des Landes hoffentlich ein Ende bereitet, nach außen hin wird es noch genug Arbeit geben, um den Hass der Nationen, die Zwietracht, Rachsucht, Missgunst langsam abebben zu lassen. Auf Jahrzehnte hinaus wird Deutschland genügend Feinde besitzen, es kann daher die Ruhe im Innern doppelt nötig brauchen.

Soziale und biologische Probleme stellen sich in den Vordergrund. Die deutschen Juden haben der Großstadt und der Sucht, wirtschaftlich zu erstarken, bedeutende Opfer gebracht. Junggesellentum aus Vorliebe oder aus Not, weil die Familie ökonomisch eine bedeutsame Last ist, Kinderlosigkeit und Kinderarmut sind die Kennzeichen für die Entwicklung der heutigen deutschen Juden. Ich habe sie in den Büchern „Der Untergang der deutschen Juden"*), „Das sterile Berlin"**) und in der Preisschrift der Gesellschaft für Rassenhygiene***) des näheren dargelegt.

*) Verlag Reinhardt, München.
**) Verlag Marquardt, Groß-Lichterfelde.
***) Verlag Louis Lamm, Berlin C.

Nun reißt der Krieg weite Lücken in ihre Reihen. Während Deutschland wächst, verkümmert der Anteil seiner Juden. Sombart hat nachgewiesen, wie die Bürokratisierung der Banken, der Schwerindustrie usw. den Jüdischen Einfluss hemmt. Dazu kommt die prozentual geringer werdende Beteiligung. Die hervorstechende ökonomische Macht der Juden weicht langsam, aber sicher von selbst.

Ein antisemitische Bewegung könnte höchstens wirtschaftlich wertvollen Kräften, die ohnedies abnehmen, Hindernisse bereiten, Unzufriedenheit in den jüdischen Kreisen säen lind den Geist der Zwietracht verbreiten. Deutschland ist kein einheitlicher Staat, aufgebaut auf Grundlagen einer Religion, einer Rasse, einer Staatsform. Es ist (ähnlich Amerika) die glückliche Synthese der verschiedensten Bevölkerungsschichten, die alle als deutsche Staatsbürger respektiert werden wollen. Glaubens- und Rassekämpfe müssen verflossenen Zeiten angehören. Wie traurig ist es, dass noch Millionen von Katholiken glauben, sich politisch vereinigen zu müssen, um entweder in ihren Rechten nicht geschwächt zu werden oder sich größeren Einfluss sichern zu können. Eine Vermischung von Religion und Politik. Sehen wir die Welfenpartei! Eine Gruppe, die nach fünfzig Jahren noch immer die Geschichte umwälzen, nochmals die staatlichen Zustände von 1866 herbeiführen wollte. Die Negation als Grundlage einer politischen Betätigung!

Der große Krieg muss auch im Innern eine Reform bedingen. Er muss uns soweit einander näher gebracht haben, dass wir die volle politische und bürgerliche Gleichberechtigung, die Freiheit des Individuums fürderhin nicht mehr einzelnen Klassen und Gemeinschaften rauben wollen. Neben den Sozialdemokraten sind es die Juden, die vornehmlich als treue Staatsbürger angesehen zu werden verlangen und hoffentlich es auch erreichen. Mag besonders die Ostmarkenpolitik, die antisemitisch bis in die Knochen, durch die mehr oder minder gewaltsame wirtschaftliche Vertreibung der jüdischen Handwerker und Kaufleute in den Städten Posens und der östlichen Provinzen den polnischen Mittelstand aufblühen ließ, ein deutliches Warnzeichen dafür sein, wie schädlich letzten Endes jede Hetzpolitik ist.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden im Weltkriege (1914-1918)