Einführung

... Ihre Anhänglichkeit an die Institutionen des Moses, welcher sein Volk von allen übrigen abzusondern bemüht war, ist nicht das Seltsamste in ihrer Geschichte. Menu hat den Hindus ein ähnliches Gesetzbuch gegeben. Auch dieser Gesetzgeber hat die Religion mit der Rechtspflege und der Polizei unzertrennlich verbunden, und eine Barriere zwischen den Hindus und den anderen Völkern errichtet. Die Bewohner Indiens sind ihrer theokratischen Regierung so getreu geblieben, wie die Juden den Institutionen des Moses. Der Koran hat eine ähnliche Wirkung bei den Anhängern Mahomets hervorgebracht. Überhaupt lässt bei den Orientalen, welche vermöge ihrer Unwissenheit und der Lebhaftigkeit ihrer Einbildungskraft leichtgläubig und durch das Klima träge sind, jeder Gesetzgeber, welcher im Namen des Himmels spricht und Genie genug hat, um seines Gleichen zu gebieten, tiefe Spuren seiner Herrschaft in den Ländern zurück, in denen er befahl, und verschafft sich Gehorsam auf tausende von Jahren. Wenn er sein Volk in Kasten teilt und alle Handlungen des Lebens an religiöse Gebräuche knüpft, so unterwirft man sich diesen Absonderungen, diesen frommen Übungen mit einer unwandelbaren Beständigkeit. Im Orient sind die Meinungen unveränderlich, wie die Sitten und die Kleidungsweise. Gewaltsame Revolutionen werden erfordert, damit die Völker ihre Ideen verändern; selbst Verfolgungen, durch die man ihnen ihren Glauben entreißen will, ketten sie nur fester an denselben.

Auch die Zerstreuung der, Juden über den, Erdkreis ist das Wunderbarste nicht, was ihre Geschichte darbietet; auch andere Völker haben dieses Schicksal gehabt. Wir sehen die alten Bohemier auf eine Weise zerstreut, dass man nicht einmal mehr, anzugeben vermag, wo sie hingekommen sind. Die Negerrasse hat sich selbst bis auf die Inseln des Südmeeres verbreitet. Man hat in der Zerstreuung der Juden eine Züchtigung, des. Himmels, eine Rache für den an Jesus Christus, begangenen Mord erblicken wollen; aber als sie in Ägypten und nachher in Babylon gefangen waren, hatten sie den Gerechten noch nicht gemordet, und die Vorsehung rächt nicht an einem ganzen Volke und für immer das Verbrechen einer Stadt oder einer Epoche.


Das wahrhaft Besondere in der Gegenwart der Juden in Europa und in andern Weltteilen und das, was das hauptsächlichste Phänomen ihrer Existenz unter den abendländischen Völkern bildet, ist, wenn ich mich so ausdrücken darf, diese Lebensfähigkeit, welche sich ungeachtet aller Verfolgungen erhält, dieser arabische Charakter, dieses kochende Blut, diese Heftigkeit der Leidenschaften, diese Geschicklichkeit in Allem, was ihre materielle Lage verbessern kann. Alle diese Eigenschaften haben den mannigfaltigsten Einflüssen, dem Unglück, welches auf der Nation lastete, Widerstand geleistet, die Alles zerstört und selbst die intellektuellen Fähigkeiten vertilgt. Ferner muss diese Mischung von Fanatismus und Habgier unser Erstaunen erregen, welche sich in der Regel ausschließen oder doch beschränken und welche bei den Juden sich auf eine beinahe harmonische Weise verbunden finden. Die Völker, welche sich für die Auserwählten der Gottheit und dadurch verpflichtet halten, Gefühle des Hasses für alle Verworfenen, die Gott nicht auf dieselbe Weise wie sie anbeten, an den Tag zu legen, sind gewöhnlich diejenigen, welche am wenigsten in ihrer zeitlichen Glückseligkeit vorschreiten und ihre zeitlichen Interessen am schlechtesten verstehen. Bei den Juden aber ging das Geistliche mit dem Zeitlichen Hand in Hand. Während die Rabbiner über die tiefsten Geheimnisse in Ekstase gerieten, welche sie in der Kombination der Buchstaben entdeckten, aus welchen der Text der Bibel zusammengesetzt ist, bereicherte sich das jüdische Volk durch seine Spekulationen, und stellte, zwanzig Mal seines gesetzlich oder ungesetzlich erworbenen Gewinnes beraubt, eben so oft seinen Wohlstand wieder her.

Das Erstaunenswerteste ist ihre Überlegenheit in kaufmännischen Spekulationen, welcher die Völker Europas wider ihren Willen huldigen mussten. Der Klerus verfolgte die Juden als Feinde des Christentums, das Volk misshandelte sie als Kinder Israels und als Wucherer, die Könige plünderten sie wie eine Silbermine, überließen sie zuweilen der Wut des Pöbels und erröteten nicht, alles Desjenigen sich zu bemächtigen, was sie fliehend zurücklassen mussten; und wenn der Klerus, das Volk und die Fürsten ihren Hass und ihre Habsucht an diesen Fremdlingen, welche sich auf ihre Kosten zu bereichern verstanden, gesättigt hatten, fand man doch oft, wenn man Geld bedurfte, dass es, um solches aufzutreiben, keine geschickteren und mithin auch keine der Gesellschaft nützlicheren Menschen gebe, als die Juden, besonders in einer Zeit, wo Regierungen wie Privaten oft in Verlegenheiten sich befanden, wie sie sich aus der Not retten sollten, in die sie geraten waren. Dass die Juden zum Bedürfnis geworden waren, und dass man Dies erkannte, ungeachtet man sie hasste und verfolgte, ist ein charakteristischer Zug des Mittelalters. Übrigens findet sich vielleicht kein Volk, dessen Geschichte mehr Begebenheiten darbietet, als die der Juden, und es dürfte zweckmäßig sein, sie hier kurz zusammenzufassen, ehe wir die Erzählung ihrer traurigen Schicksale im Mittelalter beginnen.

Zuerst erscheinen sie in der Geschichte als ein Nomadenstamm an den Ufern des Euphrats, wo noch heut zu Tage eine große Zahl von Stämmen nicht anders leben, als die alten Patriarchen. Sie näherten sich Ägypten, gerieten mit den Einwohnern in Streit und wurden von ihnen zu Gefangenen gemacht. Ein Mann von hohem Geiste, Moses, zog sie aus dieser Sklaverei, führte sie in die Wüsten Arabiens und gab ihnen jene theokratische Verfassung, welche noch jetzt ihr Gesetzbuch ist, und welche ihnen Mut, Nationalität und eine Einheit gegeben hat, die nichts zu zerreißen vermochte. Obwohl sie später von den Persern in die Gefangenschaft nach Babylon geschleppt wurden, so hörten sie doch nicht auf, eine Nation zu sein, und als sie nach Judäa zurückgekehrt waren, wurde die Theokratie neuerdings die Grundlage ihrer gesellschaftlichen Ordnung; nur brachten sie von jetzt an den Geschmack an kabbalistischen Träumereien damit in Verbindung, welchen sie von den Chaldäern angenommen hatten.

Als Nachbarn der Phönizier wurden sie in den Handlungsgeist eingeweiht, und diese Neigung blieb ihnen, wie die zur orientalischen Theologie. Sie sind die Schüler und Nachfolger der Phönizier geworden, und während diese längst von dem Schauplatz der Welt verschwunden sind, machen die alten Einwohner Judäas noch jetzt durch ihre Handelsunternehmungen ihren ersten Meistern, den Kaufleuten von Tyrus und Sidon, Ehre. Aus den Israeliten wählte sich im vierten Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung einer der ptolemäischen Könige von Ägypten Kolonisten zur Wiederbelebung des Handels von Alexandrien aus. Sie bevölkerten auch andere Städte Ägyptens und der dem mittelländischen und roten Meere benachbarten Gegenden von Asien, und hatten hier Obrigkeiten, Synagogen und Schulen.

Als in der Folge Judäa ein Teil des Königreichs Syrien geworden war, wollte Antiochus IV., welcher nicht wusste, wie tiefe Wurzeln bei den Juden der ihren Sitten so wohl angemessene Mosaismus geschlagen hatte, diese Religion, die der Politik der Könige ein Hindernis entgegenstellte, ausrotten; die Juden aber begegneten diesem Versuche durch einen Aufstand, und die Makkabäer gaben der Nation die Unabhängigkeit zurück, ohne ihr das Glück wieder geben zu können, dessen sie ehemals genossen hatten, als sie noch ein Nomadenleben führten. Parteien, welche an den Priestern eine Stütze fanden, zerrütteten das Land, und die Römer unterjochten Judäa. Indes zogen die Kaiser wenig Vorteil von dieser Eroberung, die sie nur dadurch behaupten konnten, dass sie die Einwohner vertilgten oder zerstreuten.

Wenn nach dieser Zerstreuung ein neuer Makkabäer aufgestanden wäre, um die Flüchtlinge zu sammeln und unter dem Zepter des Priester- oder Königtums wieder zu vereinigen, so besäßen sie vielleicht noch jetzt einen Teil von Syrien; aber das Schicksal gab ihnen nur Rabbiner, welche in den Schulen über die Auslegung ihrer alten Gesetze disputierten, und ihrem Verhängnis überlassen zerstreuten sich die Verbannten nach allen Gegenden.

Man sollte glauben, dass sie nun in der Masse fremder Völker verschwinden würden, unter welche sie sich mischten, aber es kam ganz anders. Sie sind Israeliten geblieben, und überall, wo einige Familien sich vereinigen konnten, haben sie die Institutionen ihrer Väter wieder in Kraft gesetzt und gemeinschaftlich die Sitten und Gebräuche ihres ehemaligen Vaterlandes geübt. Wenn durch ein nicht gerade unmögliches Ereignis der Weg zu diesem Vaterlande sich einst wieder für sie öffnen sollte, so würden sie, ungeachtet der vielen in der Zerstreuung zugebrachten Jahrhunderte, einen großen Teil der Meinungen und Gefühle dahin zurückbringen, welche den alten Bewohnern Judäas eigentümlich waren, und zu denen durch die Rabbiner, die die Gesetze Mosis erklärten wollten, noch viele andere Glaubensmeinungen gekommen sind.

Schon vor der Entstehung des Christentums waren die Juden in verschiedene religiöse Sekten geteilt. Dahin gehört die der Pharisäer, wahrer Fakirs, welche die Religion in die Ausübung kleinlicher Zeremonien und Gebräuche setzten, sich in Mystizismus vertieften und die Bewunderung des Volkes durch freiwillige Qualen, die sie sich auflegten, erlangten; die Sekte der Sadducäer, welche einen großen Teil der heiligen Schriften und Glaubenssätze der Juden verwarfen und sich nur an den Pentateuch hielten; endlich die Essäer, Mystiker, die sich in die Einsamkeit zurückzogen, jüdische Mönche, die von der Arbeit ihrer Hände sehr mäßig lebten.

Die Juden von Alexandrien, welche beständig mit den Philosophen und Sophisten der dortigen Schule in Berührung kamen, nahmen unvermerkt so Manches von der griechischen Philosophie und insbesondere von dem durch die alexandrinische Schule erneuerten Platonismus an, womit sie morgenländische Träumereien in Verbindung brachten. Philo, welcher die Griechen überzeugen wollte, dass die vorzüglichsten Ideen ihrer großen Philosophen, und besonders Platos, bereits in den mosaischen Büchern ausgesprochen seien, gab der Bibel eine Auslegung, an welche die alten Juden gewiss nicht gedacht hatten; er verfeinerte den Mosaismus.

Das Übel nahm zu, als die gnostischen Ideen sich in den jüdischen sowohl, als in den griechischen und christlichen Schulen Alexandriens und Syriens sich ausbreiteten. Man sah damals die wunderbarste Verbindung des Mosaismus, Platonismus und der orientalischen Meinungen. So lehrte Basilidos, dass das höchste Wesen sich nur durch sieben Mächte offenbare, welche eben so viele zu seinem Wesen gehörende Eigenschaften seien, und dass der unsichtbare Gott diese Welt durch den Archonten regieren lasse; dass diese Welt eine Mischung von Licht und Finsternis sei, und dass sie trachte, sich der Finsternis zu entledigen, um nur reines Licht zu sein, gerade so, wie auch der Mensch, der eine Welt im Kleinen vorstelle, zu trachten habe, sich von allem Irdischen frei zu machen, um sich zu den himmlischen Regionen, dem Aufenthalt der reinen Geister, zu erheben. So stellte Valentinus sein System der Äonen auf, welche eben so viele Offenbarungen der höchsten, für alle Wesen unbegreifliche Gottheit sind, und von welchen der Demiurg als der Schöpfer einer Welt ausgeflossen ist, die, durch den Fall des Lebenssamens in die Materie unvollkommen, sich allmählich von den letzteren wieder reinigen soll. So entwickelten sich auch andere zu jüdischer Ansicht sich hinneigende Gnostiker ihr System der Emanationen, welche, von dem höchsten Wesen ausgehend, mit jeder Stufe an Vollkommenheit abnehmen, aber endlich alle von dem Unaussprechlichen, Unbegreiflichen, dem Meere des Lichts, von dem sie Ausgegangen sind, wieder in sich aufgenommen werden.

Indes wurden diese halb philosophischen, halb theologischen Lehren bei weitem nicht so populär und nicht so allgemein unter Den Juden, als jene, welche in ihrem Vaterland an den Ufern des Euphrat, vorgetragen wurden. Die Schulen von Alexandrien und Syrien erloschen mit ihren abstrakten Spekulationen, aber die Schulen der Flüchtlinge in Mesopotamien standen in größtem Ansehen. Es gab Rabbiner, denen der Ruf 24.000 Schüler zuschrieb. Nichts Philosophisches fand in den Systemen der Lehrer dieser blühenden Schulen eine Stelle; sie waren ganz theologisch.

In dem Maße, als man sich von der Zeit, wo das jüdische Volk in der arabischen Wüste umherzog, entfernte, hatten sich auch die Auslegungen jener alten Religionsgesetze vermehrt, welche Moses, als aus der Hand Gottes selbst kommend, auf dem Berg Sinai verkündet hatte. Es hatte sich eine zahlreiche Klasse von Theologen gebildet, deren einziges Geschäft die Auslegung des Gesetzes war. In Ägypten zogen sich die Therapeuten in die Einsamkeit zurück, um den geheimen Sinn des Urtextes zu erforschen, denn schon begnügte man sich nicht mehr mit dem klarsten Verständnis, sondern wollte in diesen so einfachen Worten tiefe Geheimnisse finden.

Es bestanden alte Traditionen über den Sinn, den man mit den Worten Gottes verbinden müsse, und über die Verschriften, durch welche sein Gesetz vervollständigt wurde. Man behauptete, dass Gott außer den Geboten, die er durch Moses niederschreiben ließ, diesen auch noch viele andere gelehrt habe, die von Moses in der Folge mündlich den Häuptern des Volks mitgeteilt worden seien. Man unterschied daher das geschriebene und das mündlich fortgepflanzte Gesetz, das eine alt, einfach und positiv, das andre verworren, weitläufig und mit einer Menge Kommentaren und Erklärungen gespickt.

Die Pharisäer hielten streng an diesen Traditionen und wollten, dass man denselben eben so pünktlich nachkomme, als dem Gesetze selbst. Als die Juden nach ihrer Zerstreuung Schulen sowohl in Palästina, als in Mesopotamien und in Persien errichteten, wurden die Traditionen über das ungeschriebene Gesetz der Hauptgegenstand der Erläuterungen ihrer Lehrer. Juda, mit dem Beinamen der Heilige, welchen die Juden für den dritten Fürsten der Gefangenschaft, das ist für den Nachfolger Gamaliels und Simeons, in dem Befehl über das jüdische Volk nach seiner Zerstreuung erklären, verfasste eine methodische Sammlung dieser Traditionen in sechs Abteilungen, welche seinen Landsleuten als bürgerliches und religiöses Gesetzbuch dienen sollte. In dieser Sammlung waren die Meinungen und Entscheidungen der alten Lehrer des Gesetzes über bürgerliche und religiöse Angelegenheiten aufgeführt, jedoch ohne das Bestreben, sie unter sich in Einklang zu bringen.

Es wäre eines großen Geistes würdig gewesen, ein Moral- und Religionsgesetzbuch für die zerstreuten Juden zu verfassen, welches ihnen die tugendhaften Grundsätze der alten Patriarchen ins Gedächtnis zurückgerufen; ihnen im fremden Lande Trost gegeben und sie zur Tugend ermutigt hätte. Die Juden würden dieses Werk den Völkern, bei welchen sie sich niederließen, als einen kostbaren Schatz gezeigt haben. „Seht“, würden ihre Worte gewesen sein, „diese ist die Moral, diese sind die Vorschriften unserer Häuptlinge; wir sind würdig eures Mitgefühls; ein Volk, welches eine solche Religion bekennt, verdient die Gastfreundschaft, die ihr uns gewährt. Wir sind zwar keine Christen, aber deshalb nicht weniger von religiösen Grundsätzen beseelt.

Indes muss man doch gestehen, dass jene Idee einer ausschließenden Vorliebe Gottes für das jüdische Volk und jene Hoffnung einer glänzenden Zukunft, welche aus diesen geheiligten Büchern oft durchschimmern, dazu beitrug, es vor der Verzweiflung zu bewahren und die Menschenwürde in ihnen aufrecht zu erhalten. Es konnte sich über alle Ungerechtigkeiten der Nationen durch die Überzeugung trösten, dass es nichts desto weniger das geliebte Volk Gottes bleibe, und dass es eines Tages mit dem Messias im Triumphe in das gelobte Land zurückkehren werde. Dies ist vielleicht der Hauptgrund, warum das jüdische Volk nicht untergegangen ist.

Die Schulen bemächtigten sich der Mischna und kommentierten darüber. Der Rabbiner Jochanan vermehrte sie durch eine Sammlung von Entscheidungen der Lehrer, Sentenzen und Parabeln unter dem Namen der Gemara. Diese beiden Sammlungen in ihrer Verbindung sind es, welche die Juden von Palästina bald unter dem Namen des Talmud von Jerusalem verehrten. In der Folge komplizierte ein anderer Rabbiner, Raf-Asche, eine andere Gemara als Fortsetzung der Mischna, und legte dadurch den Grund zu dem Talmud von Babylon, der noch verworrener, kleinlicher und kindischer, als der von Jerusalem, und überdies von einem Geiste des Polemik gegen das Christentum erfüllt ist, welcher den gehässigen Verfolgungen von Seiten der Christen zum Vorwand diente. Mag immerhin dieses Buch viele Spuren der alten Nationalweisheit enthalten, mag jene Unzahl von Anekdoten, Erzählungen, Allegorien und Parabeln, womit es ausgeschmückt ist, dazu dienen, seine Trockenheit zu mindern und es volkstümlich zu machen: diese Vorteile können nur geringe Würdigung vor der Kritik finden, welche die gesunde Vernunft über eine solche Sammlung fällen muss.

Bedauern muss man ein Volk, bei welchem die Wissenschaft seiner unterrichtetsten Männer nichts Besseres hervorzubringen vermochte, als so unzusammenhängende, kindische und abergläubische Sammlungen. Auch der Stil, ein Gemisch von Chaldäischem, Persischem, Griechischem und Syrischem, ist nicht mehr jene so einfache, so naive Sprache, in welcher die Geschichte der ersten Menschen erzählt ist. Überdies herrschen noch Widersprüche zwischen den Vorschriften der Mischna und jenen der Gemara, während doch, wie wir gehört haben, die Mischna selbst schon Entscheidungen enthält, die sich widersprechen. Demzufolge finden die Anhänger und die Gegner des Talmud in dieser Sammlung auf gleiche Weise Waffen, um sich zu bekämpfen, und man könnte nach Belieben aus dem Talmud beweisen, dass die Rabbiner die Toleranz predigen und dass sie sie verdammen, dass sie den Wucher billigen und dass sie ihn verbieten, dass sie den Ackerbau empfehlen und dass sie ihn verachten, dass sie die Frauen ehren und dass sie sie gering schätzen.

Eine solche Sammlung kann nur Träumereien und unnütze Streitigkeiten hervorbringen; an beiden war Überfluss in den jüdischen Schulen des Orients. Die Geschichte des Talmuds ist ein trauriger Beweis, wie weit sich der menschliche Geist verirren könne. Die einfachsten Sachen wurden für die Lehrer des Gesetzes Gegenstand von Spitzfindigkeiten, sie suchten Geheimnisse in den klarsten, unbedeutendsten Ausdrücken, überließen sich den extravagantesten Konjekturen und gingen endlich in ihrer Unvernunft so weit, dass sie behaupteten, jede Stelle in der Bibel sei siebzig, ja sogar sechsmalhundert tausend verschiedener Auslegungen fähig, sie ließen es auch an der Vervielfältigung derselben nicht mangeln.

Einige von ihnen hielten sich an die Kombination und Gestalt der Buchstaben, welche die Worte des Gesetzes bilden, und entdeckten darin unbekannte Feinheiten, was einen neuen Gelehrten auf den Gedanken gebracht hat, ob vielleicht die Juden, wie die Ägypter ein Alphabet gehabt haben, dessen Buchstaben die Bilder der Gegenstände darstellten. *) Namentlich überließ sich die kabbalistische Schule solchen Kindereien, wie sie denn überhaupt ganz von dem phantastischen Geiste orientalischer Träume angesteckt war.

*) Chiarini, Theorie du judaisme. Paris, 1830, 2 vol. in-8., worin auf die gehässigste Weise zu zeigen gesucht wird, dass die Juden die Christen hassen.


In dieser Wut zu kommentieren, zu explizieren und zu interpretieren wurde die Bibel selbst beinahe vergessen; wenigstens kam man allmählich dahin, den Talmud so hoch als das Gesetz Mosis selbst zu stellen, ja zuweilen wagte man es sogar, dem ersteren den Vorrang einzuräumen. Bekannt ist die Vergleichung, welche der Verfasser des Masseketh-Sopherim oder der Zusätze zum Talmud angestellt hat, und wonach das Gesetz Mosis oder das geschriebene Gesetz wie das Wasser, die Mischna wie der Wein und die Gemara wie ein aromatischer Liquor ist. Die Rabbiner erhoben Alles zum Gesetz und zum Dogma; jede im Talmud enthaltene Entscheidung der Schriftgelehrten wurde zur verbindenden Vorschrift.

Das Studium des Talmud wurde als eine Tugend, als eine jeder andern vorzuziehende Beschäftigung dargestellt und jedem Juden beinahe von Kindheit auf zur Pflicht gemacht. Dies allein musste hinreichen, um die Köpfe zu verkehren und den Verstand zu verwirren. Inzwischen vermehrten sich bald die in ähnlichem Sinne geschriebenen Bücher.

Es erschienen die Jalkuts und Miradschim, um Dasjenige zu erklären, was im Talmud noch nicht hinlänglich aufgeklärt schien. Man machte Auszüge aus einem voluminösen Werke, welches man nicht genug vervielfältigen zu können glaubte, und in welchem man Ratschläge und Entscheidungen für alle Gewissensfälle suchte. Der Talmud wurde das Orakel der Rabbaniten, d. h. der Masse der Juden. Endlich fühlte man das Bedürfnis, diese Flut von Erklärungen und Kommentaren zu hemmen. Der Talmud wurde gegen das sechste Jahrhundert so zu sagen feierlich geschlossen; dies hinderte aber gleichwohl andere Rabbiner, welche unter dem Namen der Seburäer begriffen werden, nicht, ihrer Nation noch neue Erklärungen und Sentenzen zu schenken, welche als wahre Überschwängerung einer ohnehin schon viel zu weitläufigen und kasuistischen Sammlung erscheinen.

Diejenigen, welche darin nicht Geheimnisse genug fanden, gaben dem Zohar den Vorzug, einem dunkeln Kommentar über die fünf Bücher Mosis, welcher nach der Behauptung der Kabbalisten von Akiba Ben Joseph, der bei dem Aufstand der Juden unter Bar-Cocheba getötet wurde, oder von seinem Schüler Simeon Ben Jochai verfasst ist. „Gott. Hatte“, sagen sie, „den Akiba erwählt, damit er Berge von Auslegungen über jeden Zug der Buchstaben des Alphabets, mit welchen das Gesetz Mosis geschrieben ist, bekannt mache.“ Übrigens ist dieser Zohar nicht so alt und ein Werk von abschreckender Dunkelheit; nichts desto weniger betrachtet es eine jüdische Sekte, die der Chasidim, als ein Verdienst, es zu lesen ohne es zu begreifen, ja selbst nur täglich die Augen darauf zu heften.

Demselben Akiba schreiben die Juden, wahrscheinlich mit eben so wenig Grund, das Buch Jezirah oder von der Schöpfung der Welt, der Engel, zu, dessen Worte eine magische Wirkung haben sollen; Andere nennen gar den Patriarchen Abraham als seinen Verfasser, während sie dem Adam die Ehre antun, ihn als den Urheber des Buches Raziel zu, betrachten, mit dessen Hilfe man nach ihrer Meinung selbst die bösen Geister beschwören, Kranke heilen und die Zukunft vorhersehen könne. Man kann sich leicht denken, wie begierig die Juden bei ihrer Unwissenheit und ihrer Sehnsucht nach der Wiedergeburt des Reiches Israel diese mystischen Bücher befragten, und dass es nicht an Rabbinern fehlte, die ihnen dieselben auszulegen und zu erklären bereit waren.

Wir mussten übrigens in diese Details über die theologische Literatur der Juden im Morgenlande eingehen, um zu sehen, welche Erziehung dieses Volk erhielt, das sich nun unter die Bewohner Europas zu mischen begann. Sein strenges Verhängnis gab ihm keine anderen Lehrer als Sophisten, mystische Träumer und Kasuisten. Es war ein doppeltes Unglück für die Juden, in die Verbannung wandern zu müssen, und in derselben keinen andern religiösen und moralischen Leitstern zu haben, als Bücher, die nur dazu dienen konnten, ihren Geist zu verwirren und diese Ausgewanderten überall, wohin sie kamen, verdächtig zu machen. Zwar begaben sich ohne Zweifel nur wenige ausgewanderte Familien mit diesem Wust von mystischen Schriften auf den Weg, aber beinahe alle waren durch die Schulen von Sora und Babylon von diesen albernen Kindereien angesteckt und trugen die Anhänglichkeit an abgeschmackte Gebräuche und Glaubensmeinungen, welche die Lehrer dieser Schulen zu Dogmen erhoben hatten, auf ihre Kinder über. Dasselbe Volk, welches keine Herrscher haben und lieber Jerusalem zerstört sehen, als den Römern gehorchen wollte, trug in seinem Exile geduldig das Joch, das die Schriftgelehrten seinem Geiste auflegten; es hatte sich gegen die Kaiser empört und geriet, nun in die Sklaverei des Talmud; bei allem seinem Unglücke war übrigens das Dogma seiner Lehrer sein Trost, dass, wer da beschnitten, ist, auf dem sichersten Wege zur Glückseligkeit sich befinde.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Juden im Mittelalter