Die Hypnonarkose, ein neues ärztliches Betäubungsverfahren

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Erich Dilher, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Medizin, Betäubung, Operation, Schmerz, Betäubung, schmerzlos, Heilung, Narkose, Hypnose
Wenn es sich so verhielte, dass die Entwicklung gewisser Geistesrichtungen immer in unmittelbarer Folge vor sich ginge, dann würde über manche Kulturerscheinungen weniger Beklagenswertes zu berichten sein, als dies leider der Fall ist. Erst die geschichtliche Betrachtung vermag uns darüber zu belehren, dass sich den wertvollsten Erkenntnissen oft genug unüberwindliche Hindernisse entgegenstellen, ja dass manche bestimmt gemachten wichtigen Erfahrungen wieder völlig verloren gingen. Gewisse Entdeckungen wurden deshalb auch wiederholt gemacht, womit indes nicht gesagt werden kann, dass sie nun auch zur augenblicklichen oder gar dauernden Anerkennung gelangten. So ist es oft geschehen, dass die Menschen bedeutender Hilfsmittel, die auf irgend einem Gebiet entdeckt oder erfunden wurden, verlustig gingen, weil ihrer Anerkennung und Aufnahme schwere Hemmungen bereitet wurden. Es würde zu weit führen, die vielgestaltigen Gründe bloßzulegen, weshalb so manches Wertvolle stillschweigend abgelehnt oder durch heftige Gegnerschaft abgetan worden ist. Dafür soll an einem Fall gezeigt werden, wie wunderlich die Wege der geistigen Entwicklung gewesen sind. Es handelt sich um das Gebiet der Hypnose, die heute wieder einmal in aller Munde ist. Um Wiederholungen zu vermeiden, verweisen wir unsere Leser auf den unten angeführten Aufsatz*), der zum weiteren Verständnis der hier dargestellten Fragen dienen möge.

*) Vgl. „Buch für Alle“ 1919, Heft 18, S. 357/58: „Die Bedeutung der Suggestion in der Heiltunst“ von E. Dilher

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Werden größere chirurgische Eingriffe nötig, so bedienen sich unsere heutigen Ärzte verschiedener Hilfsmittel, um den Leidenden schmerzlos zu behandeln; die Technik der Narkose ist hochentwickelt, wenn auch ihre Anwendung noch immer nicht absolut gefahrlos zu nennen ist. Jahrhunderte vor unserer Zeitrechnung war den Chinesen die betäubende, empfindungslähmende Wirkung des Hanfrauches geläufig. Die Ägypter wendeten einschläfernde Mittel an, und den antiken Ärzten war bekannt, dass durch Einatmen verbrannter Pflanzenstoffe eine vorübergehende Herabminderung der Schmerzempfindung erreicht werden konnte. Gleiches lässt sich von den mittelalterlichen Wundärzten berichten. Heinrich Brugsch, ein bedeutender Ägyptologe, schrieb einen Aufsatz über den „Hypnotismus bei den Alten“; doch ist darin nicht behauptet, die Ägypter hätten sich des künstlich herbeigeführten Schlafes auch bei Operationen bedient.

Völlige Empfindungslosigkeit bei chirurgischen Eingriffen herbeizuführen, gelang erst, seit der 1733 geborene Joseph Priestley 1772 das Stickstoffoxydul (Lachgas) herstellte. Seit 1831 besitzen wir durch Justus von Liebig für die Narkose das Chloroform, und es ist begreiflich, dass die bedeutsamsten Fortschritte der Chirurgie diesen Epochen angehören. In neuerer Zeit kam dazu noch ein Verfahren der örtlichen Schmerzlosmachung, die Lokalanästhesie.

Im gleichen Jahre wie Priestley geboren, veröffentlichte Franz Anton Mesmer 1776 eine Schrift über den „tierischen Magnetismus“, jene dunklen „Kräfte“, die wir heute mit den Worten Hypnose und Suggestion bezeichnen. Die Geschichte der Hypnose ist eines der betrübendsten Kapitel der neueren Geistesgeschichte. Die mehr oder weniger abenteuerlichen „Magnetiseure“, die in Mesmers Gefolge auftraten, vermochten die „wirkenden Kräfte“ nicht nach ihrem wahren Wert zu erkennen, und so wurden diese Phänomene immer mehr verdunkelt statt geklärt. Leider wird bis zur Stunde mit hypnotischen Vorführungen öffentlich grober Unfug getrieben. Mesmer, der nicht freizusprechen ist von kurpfuscherischem Gebaren, erregte anfänglich durch seine vermeintlich magnetischen Heilungen großes Aufsehen. Die Ärzte seiner Zeit, durch das allerdings wenig einwandfreie Auftreten des Heilkünstlers abgestoßen, verhielten sich größtenteils abwehrend. Es gab jedoch auch besonnenere Naturen unter ihnen, die sich weniger um die Person Mesmers als um die Sache kümmerten. Sie hielten sich zunächst an die Tatsache, wonach es nicht zu leugnen war, dass im Zustand der Hypnose — seinerzeit auch Somnambulismus genannt — Schmerzlosigkeit eintrat. Die damaligen Erklärungen des heute Hypnose genannten Zustandes gehören der Geschichte an. Aus der Tatsache aber, dass im künstlich hervorgerufenen Schlaf Schmerzlosigkeit eintrat, zogen einige vorurteilslose Ärzte den Schluss, dieser Zustand erlaube chirurgische Eingriffe ohne Narkose. Rostan veröffentlichte im Jahre 1825 eine Abhandlung über den Magnetismus, die großes Aufsehen erregte; darin beschrieb er die Operation einer mit Krebs behafteten Brust, die im Zustand der Hypnose völlig schmerzlos verlaufen war. Vier Jahre danach haben Cloquet und Chapelain größere chirurgische Eingriffe während der Hypnose vorgenommen; Chapelain wendete auch bei schweren Geburten die Hypnose an. Es gehört zu den beschämendsten Kapiteln der Geistesgeschichte, in welcher Weise die Mitteilungen dieser Ärzte behandelt wurden. Einen wahrhaft trostlosen Überblick gewährt der neunte Band des 1841 erschienenen „Universallexikons der praktischen Medizin und Chirurgie“ in der Abhandlung über den „Magnetismus animalis“. Im Jahre 1843 war eine Schrift von Braid erschienen, der für die Hypnose und die Möglichkeit der narkoselosen Operationen in diesem Zustand eintrat; auch ihm waren schmerzlose Eingriffe während der Hypnose erfolgreich gelungen. Seit 1845 hatte Esdaile in mehreren hundert Fällen ohne Narkose im hypnotischen Zustand operiert. Obwohl die genannten Ärzte nicht die einzigen blieben, die sich dieses Mittels bei Operationen bedienten, gerieten diese zweifellosen Errungenschaften doch wieder in Vergessenheit. Nicht zuletzt darum, weil die seitdem entwickelten Narkosetechniken sich immer entschiedener durchsetzten. Dagegen wäre nun nichts einzuwenden, wenn die Allgemeinnarkose gefahrlos wäre, und wenn die Lokal- und die Lumbalanästhesie als völlig unbedenklich gelten dürften.

Es ist ein Verdienst des Freiburger Professors Dr. A. A. Friedländer, diese „versunkenen Schätze“ wieder gehoben zu haben. Er bediente sich in geeigneten Fällen, bei Behandlung von nervösen und seelischen Störungen, der Hypnose. 1905 wandte er die Hypnose zum ersten Male vor einer Operation an, und begann erst dann mit der Narkose, nachdem der Patient unter den Einwirkungen der Hypnose eingeschlafen war. Die Vereinigung von Hypnose und Narkose erhielt die Bezeichnung Hypnonarkose. Die Vorteile dieser Methode sind bedeutend. Bei ihrer Anwendung werden die Gefahren der Allgemeinnarkose oder der Lokalanästhesie verringert, da die sonst nötigen Mengen an Betäubungsstoffen nicht im vollen Maße nötig sind. Bei diesem Verfahren kann der Verbrauch an Narkosemitteln auf ein Drittel und weniger der sonst unerlässlichen Menge herabgesetzt werden. Dabei wird die Betäubung des Kranken in viel kürzerer Zeit erreicht, die Vergiftung ist geringer und damit auch die damit zusammenhängenden Folgeerscheinungen. Die Hypnonarkose beginnt unmittelbar vor der Operation; der außerhalb des Operationsraumes hypnotisierte Patient wird nach erfolgter Einschläferung in der Hypnose langsam narkotisiert, und zwar derart, dass sich nun erst die Narkose in den vorher durch suggestive Beeinflussung herbeigeführten Schlafzustand „einschleicht“.

Hohen Wert hat diese Methode auch noch aus einem anderen Grunde. Die Operations- und Narkoseangst verursachen bei Kranken eine unter Umständen schwere und nicht gefahrlose Stimmungslage. Diesen sonst auf keine Weise zu behebenden, oft bedenklichen Zuständen kann in der Hypnose erfolgreich begegnet werden. Noch bedeutsamer aber ist es, dass bei richtig erteilter Suggestion der Kranke nach der Operation in gehobenem Zustand erwacht. Stärkere Übelkeit oder Erbrechen dürfen nicht auftreten. Kommt es zu heftigen Schmerzen, so kann sofort abermals hypnotisiert und unter Umständen ein kürzerer oder auch ein Dauerschlaf herbeigeführt werden. Das sind unschätzbare Hilfen für den Operateur sowohl bei Beginn seiner Tätigkeit als auch nach vollendeter Operation und deshalb auch für den Operierten wohltuende Erleichterungen.

Die Frage ist nun, ob die Operateure diese Methode anwenden werden. Gemeinsames Arbeiten ist dazu unerlässlich, wenn es dahin kommen soll, dass die Hypnonarkose sich durchsetzen soll. Friedländer betont darum mit Recht: „Je häufiger die Hypnonarkose zur Anwendung gelangt, je ausgebildeter die Ärzte in der Technik sein werden, je selbstverständlicher wird es dem Kranken erscheinen, dass an Stelle der Narkose die Hypnonarkose getreten ist. Der Operateur aber wird, wenn er nur einmal die Hypnonarkose selbständig vorbereitet hat, über das Gelingen so erfreut sein, dass ihm dieser Erfolg als ein seelischer Gewinn seinen Beruf noch lieber machen wird.“

Bedenkt man, dass im Jahre 1825, zu einer Zeit, da weder die Technik der Suggestionstherapie noch wirkliche Kenntnis der Hypnose verbreitet waren, erfolgreiche Operationen vorgenommen wurden, so erscheint es trotzdem unbegreiflich, dass alle Erfahrungen, ohne praktische Folge zu zeitigen, wieder verloren gingen. Heute steht es indes um die Psychotherapie doch anders. Man sollte deshalb annehmen dürfen, dass nicht abermals mehr als ein Menschenalter vergehen wird, bis sich die Hypnonarkose zum Segen der Leidenden und ihrer Helfer Anerkennung erringen wird.

002 Zimmerscher Totentanz. Handschrift des sechzehnten Jahrhunderts. Original Königseggische Bibliothek zu Aulendorf.

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034 Die Anatomie des Doktor W. van der Neer. Von Michiel Janszon van Mierevelt. Delfter Krankenhaus 1617

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058 Drei Chefs der Chirurgengilde. Von Cornelis Troost. Amsterdam 1731

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128 Amputierte und Krüppel

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139 Ignatius von Loyala Besessene und Kranke heilend. Von Peter Paul Rubens

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190 Miniature aus der Chirurgie des Theodericus Cerviensis

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