Die Überlegenheit der Hanse

Nein, die Überlegenheit der Hanse lag auf einem andern Gebiete, nämlich auf dem politisch-diplomatischen. Hier errang sie ihre wesentlichsten Erfolge; nachhaltiger und geschickter Arbeit auf diesem Felde verdankte sie ihre handelspolitische Stellung.

Man muss sich die Lage der Zeit vergegenwärtigen, um verstehen zu können, wie eine Reihe einzelner, weit verstreuter, zum Teil doch nur unbedeutender und dazu nicht einmal immer geschlossen vorgehender Städte ausgedehnten Königreichen und Fürstentümern solche Vorteile abgewinnen konnten. Alles entwickeltere Städtewesen beruht auf Gewerbs- und Handelstätigkeit; sie bildet den eigentlichen Nerv städtischen Lebens. Zahlreiche Städte Deutschlands sind ja allerdings entstanden um königliche und bischöfliche Pfalzen, sind spezielle Gründungen von Fürsten, aber zu Ansehen und Bedeutung sind sie nur gekommen, wenn sie gleichzeitig den Vorteil günstiger Verkehrslage genossen. Dass Städte als Mittelpunkte administrativer Einheiten groß wurden, wie in modernen Tagen, ist für das deutsche Mittelalter ohne Beispiel. Im Anschluss an den Verkehr bildete sich fast durchweg das heraus, was im Mittelalter wesentlich eine Stadt zu einer solchen machte, die Ausscheidung aus der umgebenden Landschaft, aus dem Gau, in Sachen der Verwaltung und Gerichtsbarkeit. Was sich zuerst in dieser Richtung nachweisen lässt, bezieht sich auf die Ordnung des Marktes, die Wahrung und Handhabung des Friedens, der Polizei für ihn. Die Organe, die hier in Verwaltungs- und Gerichtsangelegenheiten zunächst eine gesonderte Tätigkeit entfalten, sind die Keime der Ratskollegien; hier liegen die Anfänge der städtischen Selbstverwaltung. Naturgemäß setzten sich diese Organe aus Männern zusammen, die in Verkehrsangelegenheiten Kenntnis und Erfahrung befassen, selbst an ihnen beteiligt waren. Und für die von ihnen geführte Verwaltung mussten sich sehr bald Regeln und Bräuche entwickeln, die im herrschenden Landrechte, in der Übung, wie sie der Vertreter der landesherrlichen Gerichtsbarkeit handhabte, nicht vorgesehen waren. Denn der erstehende, sich entwickelnde, aufblühende Verkehr schuf Rechtsfälle, warf Fragen auf vollständig neuer Art. Marktrecht, Stadtrecht entwickelte sich, auf der Grundlage des Landrechts und doch von diesem sich scheidend, besonderer Organe für seine Handhabung sich erfreuend. Und diese neue Entwickelung wurde für die städtischen Gemeinwesen die aufstrebende, das alte Recht und seine Organe zurückdrängende. Unter die Kompetenz der neuen Behörde, des Rates, kamen sehr bald die so wichtigen, in Verkehrsmittelpunkten so häufigen Schuldsachen; vor dem Rate pflegte man Schulden zu kontrahieren, sie in ,,des Rates Buch“ eintragen, in diesem, wenn die Rückzahlung erfolgte, wieder tilgen zu lassen. Zu einer Zeit dann, wo eben der aufkommende Zeugenbeweis den Beweis durch Eideshilfe und Gottesurteil verdrängte, wurde Grundsatz im städtischen Rechtsverfahren: ,,Über das Buch geht kein Zeuge“. Es kommt vor, dass von dem Vogtsgericht appelliert wird an das ,,Buch“ auf dem Rathause. Ein landes-herrliches Recht nach dem andern geht in die Hände der städtischen Ratmannen über; jede Erweiterung, welche der Einfluss der letzteren erfährt, wird ein neues Mittel, Wohlstand und Macht der Stadt zu heben. Die Entwickelung gleicht einer Bewegung auf abschüssiger Bahn; das Tempo wird um so rascher, je weiter sie vorschreitet. Die Scheide des 13. und 14. Jahrhunderts sieht die Städte in einer Stellung, in der ihre Herren, mögen sie sich König oder Landesfürst nennen, nur noch eine mehr oder welliger nominelle Macht in ihnen ausüben.


Die neuen städtischen Gewalten aber konnten sich ihrem Ursprunge nicht entfremden. Stets ist in den Städten, die in der Hanse eine Rolle gespielt haben, die Leitung der öffentlichen Angelegenheiten, die Besetzung des Rats, in den Händen der Kaufleute gewesen. Der lübische Satz ,,in den Rat soll nicht kommen, wer seine Nahrung mit Handwerk erwirbt“, nicht so alt, wie er zu sein vorgibt, bezeichnet doch richtig die Tendenz der hansestädtischen Verfassungen. Zwar lassen sich fast in allen Städten einzeln Handwerker im Rat nachweisen, auch ist bald hier, bald dort einmal die bestehende Ordnung unterbrochen worden, aber diese Abweichungen bestätigen im Grunde genommen nur die Tatsache, dass recht eigentlich der Kaufmannsstand im Besitz der politischen Gewalt in den Städten war. Und diesem Umstande ist es wesentlich zuzuschreiben, dass die Verkehrsinteressen und damit die Lebensquellen der Städte dauernd eine so sorgfältige Pflege, eine so erfolgreiche Vertretung gesunden haben. Denn die Männer, die im Rate saßen, waren mit diesen Fragen gleichsam aufgewachsen; ihre eigensten persönlichen waren mit den allgemeinen städtischen Interessen eng verknüpft. Zum großen Teil hatten sie in jungen Jahren die auswärtigen Verhältnisse aus eigenen Anschauungen kennen gelernt, wussten, wie es draußen herging, was dort Not war. Als in späteren Zeiten die Ungunst der Verhältnisse die auswärtigen Handelsniederlassungen immer mehr schwächte, da klagten die Ratsherren der Städte in erster Linie, dass man jetzt nicht mehr wisse, wie man ,,die jungen Leute zu Männern heranbilden solle, zu Lenkern und Regierern der Städte“. Dazu kam, dass sich in diesen Kreisen sehr bald eine politische Tradition herausbildete; in den führenden Städten, besonders in Lübeck, wurde eine Kenntnis der politischen und merkantilen Verhältnisse Nordeuropas heimisch, wie sie sonst nicht leicht an einem Punkte vereinigt zu finden war. Und direkt überlieferte man, wenn die Lösung einer Aufgabe misslungen war, dieselbe der nachfolgenden Generation und ihrem größeren Vermögen oder Glücke. Geradezu eingetragen wird es in das Buch: ,,das mögen tun, die nach uns kommen“.

War so die Stetigkeit der Politik gleichsam das natürliche Ergebnis der bestehenden Institutionen, so war andererseits durch diese doch auch eine gewisse Beweglichkeit gesichert. Denn ein eigentliches Patriziat, ein Beschränken der Ratfähigkeit auf die Angehörigen gewisser Fanlilien, hat sich, abgesehen von Lüneburg (allenfalls könnte man auch Kolberg nennen), in keiner Hansestadt herangebildete an diesen Orten verdankt es seine Entstehung den Salinen, deren vererbende Anteile einen gleichmäßig dauernden Wohlstand bis zu einem gewissen Grade sicherten. Allerdings ist in einzelnen Städten innerhalb des Kaufmannsstandes ein sogenanntes Patriziat emporgewachsen in Gestalt einzelner ,,Kompagnien“, ,,Gesellschaften“, deren Mitglieder allein in den Rat eintreten konnten. Aber diese Patriziate waren nicht geschlossene sie standen jedem offen, der ein unbescholtener Bürger war und natürlich - wohlhabend. Und wie oft hat im Kaufmannstreiben ein Menschenleben, ja eine glückliche Folge einzelner Jahre genügt, nm einen Mann reich zu machen. Und das sah man im Rate nicht etwa mit scheelen Augen an. Als 1494 der Hof zu Nowgorod geschlossen wurde, da bedauerten die Herren, dass man gerade das Kontor entbehren müsse, in dem mall ,,am leichtesten mit geringem Gelde zum Manne gedeihen können. Wohlstand aber ist in Handelskreisen von jeher etwas Wechselndes und Schwankendes gewesen. Gar wenig Familien sind daher in den mittelalterlichen Hansestädten nachweisbar, die durch mehrere Generationen im Rat eine Rolle gespielt haben; es ist ein kommen und Gehen, ein Emporsteigen und Verschwinden; stabil bleibt nur die gleiche Richtung der Interessen, die gleiche Schulung und Befähigung für den überlieferten Gesichtskreis.

Es kam hinzu, dass die Macht des Rates in städtischen Angelegenheiten allerdings keineswegs unbeschränkt war, dass sie stets den Einklang mit den Interessen der Bürgerschaft zu bewahren bemüht sein musste, dass sie andererseits aber doch stark genug war, um bedenkliche Abweichungen von der überkommenen Politik zu den Ausnahmen zu machen. Keineswegs hat dem gemäß allein der kaufmännische Standpunkt in der städtischen Handelspolitik seine Vertretung gesunden, das Gedeihen der ,,Ämter“ ist nicht weniger lebhaft Gegenstand der Fürsorge gewesen. Beider Wohl war, wie die Verhältnisse lagen, übrigens auch schwer zu trennen.

So war also das, was überhaupt politischer Tätigkeit in erster Linie nachhaltigen Erfolg sichert, in der Hanse zu finden: anhaltende Arbeit in einer bestimmten, durch die Verhältnisse gleichsam vorgeschriebenen Richtung; von Geschlecht zu Geschlecht überlieferte, durch den unausgesetztem regen Verkehr mit dem Auslande stets lebendig erhaltene Kenntnis der Mittel und Bedürfnissen genügende Autorität und Interessengemeinschaft im Innern, um eine zielbewusste Politik für längere Zeit energisch verfolgen zu können.

Und hier lag die große Überlegenheit über die anderen Nationen Nordeuropas, die Skandinavier und Engländer.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Hanse und ihre Handelspolitik