Politische Beziehungen zwischen England und Deutschland

In unseren Tagen bemüht man sich, das Interesse für die älteren politischen Beziehungen zwischen England und Deutschland wieder aufzuwecken. Das Verständnis für diesen Teil unserer Geschichte wird nicht allein dadurch erschwert, dass die Gesichtspunkte einer gesamt- und territorialstaatlichen Politik sich oft nur undeutlich abheben von denen der Handelspolitik, sondern es fällt auch sogleich in die Augen, dass durch die Jahrhunderte hindurch die Beziehungen beider Länder, wiewohl nicht immer friedlich, doch fast stets unkriegerische gewesen sind.

Beide Mächte trennt das Meer. Aber auf der deutschen Seite fehlte sehr lange Zeit das Mittel zur wirksamen Vertretung der maritimen Interessen der deutschen Küstenlandschaften an der Nordsee: eine Seemacht. Seitdem die Sachsen, Angeln und Euten England erobert hatten, wurde vom deutschen Ufer her niemals ein kriegerischer Vorstoß gegen England unternommen. Das fränkische Reich hat keine Seemacht entwickelt. Der Sturm der Normannenkriege verhinderte vollends die Bildung einer deutschen Seekriegsmacht. Von den Kriegsflotten aus den nordischen Reichen oft und schwer heimgesucht, wurde England nicht lange nach der Mitte des 11. Jahrhunderts eine Beute der franko-normannischen Herrscher. Zu derselben Zeit erlahmte die kriegerische Unternehmungslust der skandinavischen Völker. Das Deutsche Reich hatte damals bereits seine Kräfte auf dem Kontinent gegen Süden und Osten gewandt. Statt der imposanten Machtstellung des anglo-normannischen Staates auf beiden Seiten des Kanals bot es unter den letzten Saliern das Schauspiel eines durch innere Zwiste geschwächten Reiches. Auch die Ziele der hohenstaufischen Reichspolitik lagen durchaus im Süden. Wohl wiesen früher und später Familieverbindungen hauptsächlich norddeutscher Fürsten mit den englischen Herrschern auf eine gewisse Übereinstimmung politischer Interessen. In den Kämpfen Kaiser Ottos IV. gegen Philipp August von Frankreich, den Todfeind der Plantagenets, und in dem deutschen Königtum Richards von Cornwall, des Bruders Heinrichs III. von England, trat diese Interessengemeinschaft zutage. Unter ihrem Antrieb und Schutz erblühte der deutsche Handel mit England. Allein von Versuchen zur Bildung einer deutschen Seemacht war keine Rede.


Man möchte annehmen, dass dieser Gedanke der deutschen Reichsregierung ferngelegen habe, oder dass die Bildung einer Seemacht an der Nordseeküste überflüssig oder unmöglich erschienen sei. Indessen hätte man eine solche gebrauchen können, als seit der Mitte des 12. Jahrhunderts Dänemark auch zur See wieder erstarkte. Die aus den Trümmern der Macht Heinrichs des Löwen sich ausbreitende Herrschaft Waldemars II. von Dänemark musste im Landkriege niedergerungen werden. Dann erst begannen die frühesten Seekriegsunternehmungen der Deutschen in der Ostsee.

Aber weder der deutsche König noch das deutsche Fürstentum wurden die Träger dieser neuen Seemacht, sondern die Städte. Diese Entwicklung bot von vornherein keinen ganz vollwertigen Ersatz für das, was andere Länder besaßen. Was in früheren Zeiten versäumt oder durch politische Entwicklungen, wie etwa die Erhaltung der bäuerlichen Freiheit des friesischen Stammes, erschwert und vereitelt worden war, konnte nicht mehr nachgeholt werden: während die skandinavischen Reiche und England sich einer staatlichen Organisation des Seekriegswesens erfreuten, blieb Deutschland im wesentlichen angewiesen auf die Leistungen einzelner Seestädte.

Diese neue Seemacht kam auch fast ausschließlich in der Ostsee zur Geltung.

Selbst die gemeinschaftlichen Unternehmungen deutscher Nordsee- und Ostseestädte von Middelburg in Seeland bis Reval in den Kriegen mit König Waldemar Atterdag von Dänemark galten vorzugsweise den städtischen Handelsinteressen in der Ostsee: der Sicherheit des Verkehrs zwischen Ost- und Nordsee sowie der Heringsfischerei bei der Landschaft Schonen. Es sind die einzigen Seekriege, die gemeinschaftlich von zahlreicheren Seestädten an den Küsten der Nordsee und der Ostsee unternommen worden sind. Die Nordseestädte in Seeland und Holland haben sich nie wieder mit den Hansestädten zu einem gemeinsamen Seekriege vereinigt.

In den waldemarischen Kriegen griffen die vereinigten Städte auch Norwegen an. Als aber in den Seeräuberkämpfen am Ende des 14. Jahrhunderts die hansische Seemacht auch in der Nordsee, an der deutschen Küste und in Norwegen, erfolgreich auftrat, hatten die Niederlande bereits den Weg betreten, welcher im Verlauf weniger Jahrzehnte dahin führte, dass diese Küstenlandschaften an den Mündungen des Rheins, der Maas und der Scheide unter der Herrschaft der burgundischen Herzoge vereinigt wurden und zu einer reichsfremden, ja reichsfeindlichen Macht zusammen wuchsen. In den Landschaften der nördlichen Niederlande, in Holland und Seeland, verfügte schon das Territorialfürstentum und später die Burgunder über die Seestreitkräfte des Landes. Hier gab es eine Organisation des Seekriegswesens auf breiterer Grundlage als in den anderen deutschen Küstenländern.

Eben diese Landschaften traten nun, wie erwähnt, in einen immer schrofferen Gegensatz zu den Hansestädten. Sie unternahmen es, sogar das Handelsmonopol der Hanse in der Ostsee zu brechen. Sie benutzten die Streitigkeiten der Hanse mit dem Unionskönigtum der nordischen Reiche, um dort eigene Handelsprivilegien zu erwerben. Sie führten, nicht lange nach ihrer Angliederung an das burgundische Reich, einen Seekrieg gegen die Hansestädte, in welchem es ihnen im Frieden vom Jahre 1441 gelang, sich den Zugang zur Ostsee offen zu halten. Ihr Handel in der Ostsee, zumal mit den preußischen und livländischen Seestädten, wuchs unaufhaltsam. Gefördert durch die Staatskunst ihres Landesherrn, des Herzogs von Burgund, gestützt auf ihre eigenen Seestreitkräfte, erhoben sie sich zu der einzigen Macht in der Nordsee, welche nicht allein durch Handel und Schifffahrt, sondern zugleich als Seemacht sich Geltung verschaffen konnte in der Ostsee. Das Ergebnis für die Nachbarn war ein doppeltes: Eine hansische Seemacht kam in der Nordsee nicht zur Entwicklung, und England wurde unter den in der Ostsee verkehrenden Nordseemächten in die zweite Reihe gedrängt.

Auch England vermochte nicht, das Emporkommen dieser neuen niederländischen Seemacht in der Nordsee zu verhindern. Man konnte zweifeln, ob denn im Mittelalter die insulare Lage für England ein Vorteil genesen. Denn eben diese Lage gefährdete damals seine Sicherheit. Politisch und kommerziell stand es den Angriffen fremder Heere und fremder Kaufmannschaften offen wie kaum ein anderes Land. Im Laufe des ersten Jahrtausends unserer Ära ist es viermal von nachhaltigen Eroberungen heimgesucht worden, von denen der Römer, der Anglo-Sachsen, der skandinavischen Normannen und endlich der Franko-Normannen der Normandie, und jede dieser Eroberungen hatte, außer langen und gründlichen Verwüstungen großer Teile des Landes, tiefe soziale und politische Umgestaltungen in ihrem Gefolge. Auch seit der letzten dieser Eroberungen ist noch manche Invasion vom Festlande her gelungen. Die Seemacht des Landes war selten imstande, solche Einbrüche zu verhindern.

Wie in der Politik, so im Handelsleben. Kein Land Europas, mit Ausnahme Flanderns, wurde im späteren Mittelalter von Kaufleuten aus so zahlreichen Nationen aufgesucht und bestürmt wie England. Während aber Flandern den fremden Händlern die vortrefflichen Erzeugnisse seiner Industrie in großer Menge, nur wenig jedoch an Naturprodukten des Landes darbot und im übrigen als das Land des Austausches der Produkte des Nordens und Südens, als „ein Stapelplatz für die anderen“, nach den Worten des Büchleins von der englischen Staatsweisheit, erscheint, gingen die fremden Kaufleute in England darauf aus, sich neben dessen industriellen Erzeugnissen vor allem die reichen Naturprodukte des Landes zu verschaffen, um sie selbst in ihre Heimat wegzuführen. Der eigene Aktivhandel vor Engländer, welcher die Landesprodukte lieber selbst exportiert hätte, kämpfte daher unter dem Andrang der vielen fremden, mit weitgehenden Privilegien ausgestatteten Kaufleute mit den größten Schwierigkeiten.

Aus diesen Gründen war der englischen Politik ein zweifaches Ziel gesteckt: Behauptung der politischen Sicherheit und Ausdehnung des eigenen Handels. Um seine Sicherheit brauchte England nie weniger besorgt zu sein als in den ersten anderthalb Jahrhunderten der normannischen Herrschaft. Denn die Vereinigung mit der Normandie garantierte die Sicherheit der Insel. Sie bedeutete die Seeherrschaft des anglo-normannischen Reiches im Kanal. Der Verlust der Normandie in dem Kriege mit Philipp August von Frankreich hatte auf der Stelle eine französische Invasion zur Folge. Erst in den Zeiten der Isolierung des Inselreiches nahm auch die Schifffahrt im Kanal von Spanien und vom Mittelmeer her nach Flandern einen raschen Aufschwung. Eduard III. war auf dem rechten Wege, als er gegen die Bedrohung der Unabhängigkeit Englands durch Schottland und Frankreich den Schild erhob, um die alte Verbindung mit dem Kontinent wieder herzustellen.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Hanse und England