Englands Beziehungen zu Frankreich

Neuere Geschichtsschreiber haben den hundertjährigen Krieg Englands mit Frankreich, der Frankreich verwüstete und England erschöpfte, als eine unvernünftige und nutzlose Verirrung getadelt. Aber er war ein Verteidigungskrieg mit die Unabhängigkeit des Inselstaates, ein Kampf zur Wiedergewinnung der früheren vorteilhaften Position auf beiden Seiten der Meerenge. Eduard III. hat auch die Seeherrschaft Englands im Kanal zeitweilig wieder zur Geltung gebracht. Der Besitz der Normandie hatte für England eine ähnliche politische Bedeutung, wie der der Landschaften Halland und Schonen auf der Ostseite des Öresundes für Dänemark. Denn mit der Beherrschung des Landes auf beiden Ufern der Meerengen verband sich im Mittelalter auch der Besitz der Seehoheit auf ihnen, ein Anspruch, der infolge der Enge des Sundes schon während des dritten Jahrzehnts des 15. Jahrhunderts in der Einrichtung des Sundzolles einen für die Befahrer der Meerenge recht unbequemen Ausdruck fand. In England hielt man den Anspruch auf die Seehoheit im Kanal mit den daraus hergeleiteten Rechten auch dann noch aufrecht, als der große Krieg mit einem gänzlichen Misserfolge zu Ende gegangen.

Daran kann kein Zweifel sein, dass die Durchführung des kontinentalen Unternehmens und die Festhaltung der Normandie damals die Kräfte Englands überstiegen. Auch den glänzenden Erfolgen Heirichs V. war keine Dauer beschieden. Unter den Bedrängnissen des Krieges erstarkten in Frankreich das Nationalgefühl, das Königtum und der Staat. Als kurz vor der Mitte des 15. Jahrhunderts Frankreich sich erhob zum letzten Ansturm auf die englischen Eroberungen und Besitzungen diesseits des Kanals, traf es das englische Reich unter dem unbedeutenden und willensschwachen Heinrich VI. in einem Zustande innerer Verwirrung und Ratlosigkeit, der allen Widerstand vergeblich machte. In wenigen Jahren fielen die Normandie und die südfranzösischen Provinzen Englands in die Hände der Franzosen. Nach dem Fall von Bordeaux im Oktober 1453 besaß England, mit Ausnahme des Stapelplatzes Calais, keinen Fuß breit Boden mehr in Frankreich.


Diese tatsächliche Entscheidung betrachteten freilich weder die Zeitgenossen noch die nächste Generation als das dauernde Ende des gewaltigen Kampfes. Kein Friede versuchte die Gegensätze auszugleichen, die Nationen zu versöhnen. Weil England seine Ansprüche festhielt, blieb auch die französisch-englische Feindschaft bestehen. Noch ein Menschenalter später meinte ein zeitgenössischer Geschichtsschreiber, dass sein englischer König ohne einen auswärtigen Krieg, d. h. vor allem ohne einen Krieg mit Frankreich, sein Land mit dauerndem Erfolge regieren könne. Frankreich erschien nach wie vor als der „Erb- und Todfeind“ Englands.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Hanse und England