Heinrich

Es war am Erntefest. Der matt erleuchtete, festlich geschmückte Kornboden war voller froher, bekannter Gesichter, die Kinder tollten zwischen den einzelnen Tänzen selig mit den Gutskindern umher. Die Musik hatte ihren gewohnten Platz unter der Hängelampe um den weißen Gartentisch inne und wärmte sich nicht nur durch Decken über den Knien, sondern durch viele Tassen Kaffee auf. In ihrer Nähe stand eine fremde Gestalt, im Alltagsgewand - ein etwas stumpfes, gutmütiges Gesicht, von einer weichen Mütze tief beschattet. Er schien sich „still vor sich hin“ herrlich zu vergnügen. Die Gutsfrau ging aus ihn zu und begrüßte ihren unbekannten Gast, der ihr als Bruder der Vorknechtsfrau bezeichnet war - da begann die Freundschaft mit Heinrich! - Mit seltsamen, schwerverständlichen Lauten suchte Heinrich eine Unterhaltung anzubahnen, und es dauerte nicht lange, so lernte die Gutsfrau ihn verstehen. Stumm und etwas „zurückgeblieben“ von klein an, hatte er in eitlem Anstalt, soweit es möglich war, sprechen gelernt und nun kämpfte seine drollige Lebhaftigkeit mit dem Unvermögen, sich auszudrücken. An diesem denkwürdigen Abend wich Heinrich nicht mehr von der Gutsfrau. Er behauptete eisern den Sitzplatz an ihrer Seite, und wenn sie tanzte durfte kein anderer ihr Tuch und ihren Mantel berühren. Wie ein treuer Wachhund hütete er beides und beschlagnahmte alle Ritterdienstrechte bei seiner neuen Freundin. -Wie beschämend dankbar ist solch armes Menschenkind, das im Schatten groß wurde, für ein klein wenig Liebe und Teilnahme! - Von nun an war Heinrich ein häufiger Gast im Gutshause, und sein erster Gang galt der Gutsfrau. Immer hatte er irgend einen kleinen Herzenswunsch, - sei es eine Stecknadelbüchse, sei es ein Blättchen, eine Zigarette, und wie ein Kind konnte er sich freuen, hielt er den ersehnten Gegenstand in den Händen! Es war ihm nie eingefallen anders als „Du“ zu sagen und mit kindlichem Vertrauen zur Zeit oder Unzeit bei der Gutsfrau einzutreten, oder wenn ahnungslose Gäste da waren, durch das niedrige offene Salonfenster hinein zu schauen! - Wieder war’s ein Dorffest, als Heinrich über heftige Zahnschmerzen klagte. Bald saß er im rosa Anziehstübchen und ließ sich mit Jodvasogen behandeln, um den Abend ungestört genießen zu können. Am folgenden Sonntag-Morgen saß die Familie um den Frühstückstisch. Da öffnete sich mit energischem Ruck die Tür - Heinrich steht auf der Schwelle und winkt „ihr“, zu ihm heraus zu kommen. Auf dem Flur öffnet er mit wichtiger Miene ein Zeitungspapier und hält der erstaunten Gutsfrau einen mächtigen Backenzahn entgegen, von dem der Zahnarzt ihn soeben befreit hatten An ihrem Geburtstage aber trat er leuchtenden Antlitzes mit einem großen Blumenstrauß an - hielt ihn ihr entgegen und sagte nur mit innnigem Ton: „Dein Geburtstag“. - Wie kostbar kann solch ein Glückwünsch in zwei Worten sein! - und wie beglückend, es zu erleben, dass man in einem freudearmen Leben hin und wieder ein bescheidenes Freudenkerzchen anzünden darf! -

Wie ein glückliches Kind ging Heinrich aus und ein, vertilgte in der Küche Berge von Broten und Kuchen, lustwandelte auf dem Hofe und hatte das Gefühl, durch sein Erscheinen große Freude zu erregen. War die Gutsfrau nicht gleich zu finden oder gar krank, dann suchte und forschte Heinrich, bis er sie gefunden oder Bescheid erhalten hatte. Ein Höhepunkt war eine Fahrt zum Turnier. Selig thronte Heinrich hinter dem freundlichen Inspektor und genoss alle Freuden dieser Volksbelustigung und all das Leben und Treiben in vollen Zügen. Es war auch jeder im Hause gut zu ihm, jeder suchte ihm eine kleine Freude zu machen und doch - seine „Beste“ blieb die Gutsfrau, zu der er hinstrebte und deren kleine Geschenke er sorgsam in seinen oft recht schadhaften Taschen glücklich verwahrte. Rührend war der starke Zug, den Heinrich zur Andacht hatte. Dann saß er still und glücklich dabei, wenn die Gutsfrau mit ihren Dorfkindern sang und ihnen biblische Geschichten erzählte, sei’s im Zimmer zur Winterszeit, sei’s im Sommer zu Füßen der Strohmieten, während gelbe flaumige Gösselchen uns umspielten und die Sonne feiertäglich froh vom Himmel strahlte. - Schließlich zog Heinrich mit seinem Pater ganz auf den Hof, und der Papa wurde Nachtwächter. Heinrich blieb der Alte auch bei näherem Zusammenleben. Er arbeitete fleißig, besonders unter Aufsicht, und niemand klagte über ihn. Die Eigenschaften seines Vaters aber waren nicht ganz für den Nachtdienstposten geeignet. Seine Unterscheidung von Mein und Dein entbehrte einiger Klarheit, und anscheinend gab er den Gegenständen die Schuld, indem er ihnen gewisse magnetische Kräfte zutraute! In einer stillen Nacht traf ihn der Inspektor, als er gerade im Kutschstall mit Hingabe seine Stiefel mit der Geschirrkreme einschmierte. Auf eine diesbezügliche Bemerkung hin schleuderte er die Büchse weit von sich und rief: „Was muss diese verfl . . . Büchse mir auch gerade in den Weg kommen!“ Da der Magnetismus allmählich mehr und mehr Dinge in Hof und Garten zu Heinrichs Papa hinzog, wurde auch von diesem Nachtwächter eine Trennung nötig. Heinrich trug uns dies nicht nach! Es entwickelte sich nun wieder ein höchst freundschaftlicher Sonntagsverkehr, und mit demselben Vertrauen wie früher teilte er uns seine Wünsche mit und bestellte sich Kaffee und Kuchen in der Küche.


Nachdem ein Jüngling im feldgrauen Rock sich als allzu schlafbedürftig erwiesen, kam eine ganz neue Gestalt und trat in den Reigen der Nachtwächter ein.

Es war an einem Sonntag morgen, als ein alter Mann“ der Gutsfrau gemeldet wurde. Da sie die vielen Bittsteller des nahen Städtchens gewohnt war, erkundigte sie sich nach seinem Begehr - und es wurde ihr die erfreuliche Antwort, dieser wolle nichts, er brächte etwas - und bald lag ein kleines blaues Heft in ihrer Hand - angefüllt mit verschiedenartigen plattdeutschen Dichtungen. Treuherzig meinte der Alte, er habe des öfteren im Blättchen die Gedichte der „Gnädigen Frau“ gelesen und nun wolle er ihr mal die seinen bringen. Nun saßen die „Kollegen“ zusammen in der Küche, und mit Frühstück und mit sonstigen kleinen Gaben erfreut, schied der Dichter, baldige Wiederkehr verheißend.

Wenn auch in seinen Versen zuweilen Luft und Brust sich reimten oder ähnliche kleine literarische Schnitzer vorkamen, so atmeten sie doch Gemüt, Frömmigkeit und Vaterlandsliebe und gewannen dem alten Mann schnell das Herz der Gutsfrau. Als er wiederkam, fand er freudiges Entgegenkommen, als er sich um den Posten des Nachtwächters bewarb. Und er bewährte sich zuerst vortrefflich. Treu bewachte er die Ruhe von Hof und Dorf, und wenn der „Dichtgeist“ über ihn geriet, bat er sich von seiner Kollegin im Gutshaus Papier aus, dass er ihr dann auch beschrieben wieder überreichte. Auch die Kinder wurden von ihm angestellt, und es setzte sie in heftige Verlegenheit, als er von ihnen verlangte, ein begonnenes Kirchenlied weiter zu dichten.

Leider ging sein Talent aber auch andere Wege, und die Verse, die er den jungen Leuten im Dorf machte, sollen sehr andere gewesen sein, als die der Gutsfrau gewidmeten „Oden“. „Zwei Seelen wohnen, ach, in meiner Brust,“ so konnte auch der „Dichter von Gravelotte“, wie er sich gern nannte, singen, und das wurde auch eines Tages der Grund, dass wir uns trennten. Es war kein ganz idealer Ausklang, und das ist immer schmerzlich - denn unerfüllte Aufgaben bleiben als Last auf dem Herzen. Von der Gutsfrau, seiner Kollegin, erzählte er später: „Kaum wier de Nacht vorbi, denn müsst’ ick all’ na de Ollsch hen - un denn güng dat Dichten los!“ Auch dies war Dichtung in dem Leben des alten Poeten, der ihr einmal freundlich erklärte: „Sei sünd de Silberschmied nu ick de Grofschmied!“ Sein kleines blaues Heft liegt noch in ihrem Schreibtisch und erinnert sie an die Episode des dichtenden Nachtwächters.

Auch „Vater Claus“. der Nachfolger des Dichters, war kein „Alltagsmensch“. In der Zeit der traurigen Arbeitslosigkeit, in der an allen Straßenecken des Städtchens alte und junge Leute müßig umher standen, die Hände in den Hosentaschen und einen müden, stumpfen Ausdruck im Gesicht, hatte der Gutsherr einen ganzen Trupp Arbeitsloser in der Wirtschaft beschäftigt. Ein Blick in ihre Klebekarte bewies, dass sie alle ausnahmslos „Wilhelm“ hießen. Eines Tages ging er in die Scheune, rief „Willem“ und hatte seinen Spaß daran, dass sämtliche „Arbeitslose“ auf ihn zugestapft kamen. Er benutzte dann die Gelegenheit um ihnen die Vorzüge des Namens „Willem“ in Bezug auf seinen gekrönten - nun verbannten - Träger vorzustellen. Mit diesen zahlreichen „Willems“ entspann sich bald ein herzliches Verhältnis. Und als eines Tages die Gutsfrau einsprang, um beim Strohabbringen bei der Dreschmaschine zu helfen, wo die Leute knapp waren, trat einer der „Willems“ zu ihr, um seine Forke mit der ihren zu vertauschen, weil sie bequemer zu handhaben sei!! Später, als es keine Arbeit mehr für sie gab und sie leider wieder oft müßig am Markte standen, flogen noch immer freundlich die Mützen, wenn sie dem Gutsherrn oder der Gutsfrau im Städtchen begegneten. So siegte ein bisschen Liebe über die Vorurteile der Partei.

Einer dieser „Willems“ nun war unser biederer Claus. Zwischen ihm und der Gutsfrau war ein besonders inniges Verhältnis, seit sie ihm einmal auf der Landstraße begegnete und er dann bald neben ihr im Wagen saß und so bequem und schnell sein Heim am Feierabend erreichte. Auf dieser Fahrt erfuhr sie von seiner Frau und seinen Kindern, und als es sich dann so „machte“, dass Claus mit einem durch seine „Rauchpassion“ gefahrvollen Gutsinsassen die Wohnung tauschte und aufs Gut zog, da war allgemeine Freude. Mit großer Treue und Gewissenhaftigkeit versah er aushilfsweise den Nachtwächterdienst, und kein Missklang störte die Harmonie! Zuweilen kam er ins Philosophieren und entwickelte der lauschenden Gutsfrau seine Ansichten über die Jetztzeit, in der die Weissagungen der Offenbarung Johannis mit sehr modernen Betrachtungen über Autos und Luftschiffe verquickt waren. Am Tage aber, so behaupteten lächelnde Beobachter, wanderte er ins Städtchen, um zu erkunden, wo zuletzt eingebrochen sei! Dass sein Jüngster, ein etwas ungezogener Bub, der ausgesprochene Herzensfreund der jüngsten Gutstochter wurde und infolgedessen die Gutsfrau vertrauensvoll „Mammeli“ nannte, erhöhte die Freude Vater Claus’s wesentlich. Und er blieb derselbe, als wieder ein festangestellter Nachtwächter, Knank mit Namen, seinen Posten einnahm - zuweilen selig schlummernd auf der Haferkiste thronte - und Claus in den Tag und seine Anforderungen zurücktrat.

Eine Perlenreihe verschiedenster Art! Mir fällt dabei eine Äußerung ein, die einem Gutsherrn, weit von hier, gemacht wurde, nachdem er oft mit Inspektoren und Förstern gewechselt hatte! „Wenn du silberne Hochzeit feierst, dann stehen die Inspektoren und Förster sich gegenüber Spalier - und das langt vom Schloss bis zur mehrere Kilometer entfernten Landstraße!“ Bei uns sind’s entschieden die Nachtwächter!
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gutsnachtwaechter
Bauernjunge

Bauernjunge

Schäfermeister

Schäfermeister

Viehmarkt

Viehmarkt

Bauerntanz

Bauerntanz

Hahn und Hennen

Hahn und Hennen

Landliebe

Landliebe

Mittagspause im Pferdestall

Mittagspause im Pferdestall

Ochsen vor dem Pflug

Ochsen vor dem Pflug

Schäfer mit seiner Herde auf dem Heimweg

Schäfer mit seiner Herde auf dem Heimweg

Schaf- und Ziegenhirtin

Schaf- und Ziegenhirtin

Pferd zum Beschlag in der Dorfschmiede

Pferd zum Beschlag in der Dorfschmiede

alle Kapitel sehen