Von der Allopathie

„Sohn, bleibe beim Metier!“ sprach sterbend Fleischer Stuß;
Hans schwur's, und hält den Schwur noch heut' als Medicus.


Die herabgeerbte ahnenreiche Heilkunst hat Vieles von ihrer Würde und Gewalt gebüßt, seit ihre Schüler mit deutschen Worten fechten statt mit lateinischen; mehr hat sie gebüßt, als bei Gelegenheit der Choleraseuche ein Heilkünstler den andern „Mörder“ hieß; am meisten hat sie gebüßt, seit Hahnemanns Stimme in Europa gehört wurde.


Hahnemann, der erste Homöopath, und seine Jünger alle heißen die Allopathen „Todschläger“, und die Allopathen heißen die neue Sekte eine Betrügerin „Giftmischerin“. Jede der Parteien reicht der andern den Preis der Charlatanerie — welche hat Recht mit diesem Vorwurf? — Ich meines Orts, der ich die kindliche Gabe des Glaubens besitze, ich glaube beiden, dass sie Recht haben. — —

Ich will meine Meinung vom Wesen beider Heilarten schlicht und deutlich sagen.

Die Allopathie vermag wenig oder nichts gegen chronische Krankheiten. Nur zu lindern verspricht sie; — was dies Lindern ist, werde ich unten zeigen. Ihre Hauptwirksamkeit bezieht sich auf die akuten, besonders entzündlichen, sowie auf die ansteckenden Geschwürkrankheiten.

Die akuten Krankheiten heilt sie dadurch, dass sie an deren Stelle ein chronisches Siechtum oder eine chronische Herabstimmung des ganzen Organismus setzt; solches bewirkt sie teils durch Medikamente, teils durch Blutentziehungen.

Nämlich jeder akute Anfall ist Heilversuch einer kräftigen Natur von einem eingedrungenen feindlichen Prinzip. Wenn der Organismus fühlt, dass er nicht vermögend ist, auf normale Weise einen feindlichen Andrang abzuwehren, so steigert er durch das Fieber oder die Entzündung seine Kraft und Tätigkeit zu einer abnormen Höhe. Diese Steigerung ist keine Krankheit, wie wir sie nennen, sondern Heilversuch; freilich aber kann sie den Tod bringen statt der Heilung, wenn statt der Behandlung mit Wasser, wonach schon der Instinkt eines solchen Kranken aufs entschiedenste verlangt, ihm eine zweckwidrige Diät aufgezwungen wird, besonders wenn Medizin und Blutentziehungen angewandt werden. Sobald der kämpfende Organismus mit den letzter n störenden und zerstörenden Gingriffen misshandelt wird, legt sich die sichtbare Wut der Krankheit, es verschwinden die Symptome, welche aber gerade die wahren Heilmittel der Natur sind, und es erfolgt entweder der Tod aus Schwächung, oder aus demselben Grund das Ablassen des Körpers vom Heilungsversuch. Somit ergibt sich der Organismus in das Elend, die Krankheitsstoffe, welche er durch Fieber und Entzündung ausstoßen wollte, in sich zu beherbergen; das chronische Siechtum oder die chronische Herabstimmung des Körpers ist nun vollendet. Nicht nur die ursprünglichen Krankheitsstoffe sind auf diese Weise im Innern festgebannt und bewirken das latente symptomlose Siechtum, sondern es sind auch die Medizingifte neu hinzugekommen.

Das nennt die Allopathie heilen — aber ist das heilen? Es ist verderben; lieber akut sterben als chronisch siechen und chronisch sterben.

Die Allopathie, in ihrer gänzlichen Unkenntnis der Natur und der Ursachen der Krankheiten, hält die Symptome, besonders das Fieber und die Entzündung, für die Krankheit selbst, statt dass die Hydropathie diese Symptome als notwendige Bundesgenossen jeder wirklichen Heilung erkannt hat und mit ihrer Hilfe kritischen stinkenden Schweiß oder andere kritische Ausleerungen, Ausschlag und Geschwüre hervorbringt, welche die Krankheitsursachen aus dem Körper abladen. Es ist keine Heilung möglich ohne diese in die Sinne fallenden Entleerungen der Krankheitsstoffe; wenn eine akute Krankheit aufhört, ohne dass jene Entleerungen erfolgen, so ist entschieden gewiss, dass der Körper nicht geheilt, sondern dem chronischen Siechtum übergeben ist. Diese Entleerungen, die unter den Händen der Wasserheilkunde jedesmal in jeder Krankheit erfolgen, liefern zugleich den Beweis, dass die Ursachen aller Krankheiten materielle Stoffe sind, wovon weiter unten. — —

So ist es beschaffen mit der allopathischen Heilung von akuten Krankheiten; denn allopathisch heilen, heißt durch Mittel heilen, welche Symptome erzeugen, die denen der behandelten Krankheit entgegengesetzt sind. Das ist der Irrtum; — nun kommt die Inkonsequenz: nämlich die Allopathie gebraucht seit lange homöopathische Mittel, wie z. B. gegen das Wechselfieber, die Syphilis etc. Gerade alle die Mittel, welche die Allopathie „spezifische“ nennt und auf die sie am stolzesten ist, sind rein homöopathisch, d. h. sie erzeugen Symptome, die denen der behandelten Krankheiten ähnlich sind.

Doch gestalten sich auch diese Heilmittel in der Hand der Allopathie zum Unheil, weil sie zu oft und stark davon erteilt. Dies Extrem hat wahrscheinlich den Hahnemann zum entgegengesetzten verleitet, das lächerlich ist statt fürchterlich.

Gegen Syphilis und Psora hat die Allopathie ihre Specifica; was aber richtet sie damit aus, die alte Heilmutter? Entweder sie drängt ganz pfuscherhaft durch äußere Ätzung oder gelehrter durch innerlich gegebene übergroße Dosen das Krankheitsgift in den Körper zurück, wo es in schrecklicher Umarmung festgehalten wird vom Medizingift, so festgebannt im Innersten, dass der Organismus fortan nicht fähig ist, das äußere Symptom zu bilden, d. h. nicht fähig ist zu versuchen, ob er die ganze Krankheit auf die Haut werfen könne. Dies gelingt ihm freilich bei diesen Leiden nie vollständig bis zur Heilung durch sich allein; aber so lange er es »och versucht, ist er der Heilung fähig; sobald das äußere Symptom fehlt, ist Heilung unmöglich, und es kostet oft viel Zeit und Mühe, einen solchen misshandelten Organismus dahin zu bringen, dass er wieder das Symptom bilde.

Unverständige Ärzte halten es für ein sicheres Zeichen der Heilung bei diesen Geschwürkrankheiten, wenn das Symptom in Folge bloß innerer Gaben verschwindet; das ist Täuschung; wenn die Dosen zu stark und häufig gegeben werden, wirken sie so lähmend und störend auf den Körper, dass derselbe nicht mehr die Kraft hat, das Symptom zu unterhalten, viel weniger noch sich zu heilen. Dann ist das innerste schwefelgelbe oder mercurgraue Siechtum für immer in dem unglücklichen Körper aufgepflanzt wie eine Fahne in einer verwüsteten Festung. Keine Allopathie, keine Homöopathie vermag von diesem Elend zu befreien — nur die Hydropathie kann dies Schwerste.

Nicht immer treten die Folgen allopathischer Behandlung so grell auf, wie sie hier geschildert sind, nicht wenn der misshandelte Organismus außergewöhnlich heilkräftig ist, auch nicht wenn der Arzt, in der Erkenntnis seiner schlimmen Kunst, nur unschädliche Dosen gibt und die Heilung allein der Natur überlässt. — Einen Arzt dieser Art habe ich gekannt, einen vielbeschäftigten, vielverdienenden, der nur Medikamente verordnete, von denen er glaubte, sie würden in dem gegebenen Fall ohne Wirkung sein. Das ist zwar Betrug; aber immer noch besser sich für Nichts bezahlen lassen, als für etwas Schlimmeres; der Mann wollte leben, ohne zu töten. Eine andere Klasse von Ärzten gibt es, die in ihrer Unschuld vergiften; eine dritte gibt es, doch die ist gering, die es wissen, was sie tun, wenn sie nach den Regeln ihrer Kunst einen akut Kranken behandeln, nämlich sie verwandeln die Akzidenz in eine Leibrente; sie sorgen wissentlich dafür, dass ihnen der Kranke tributpflichtig werde bis an seinen Tod; doch ist diese Klasse sehr gering, so selten wie alles Schreckliche.

Es ist noch ein Wort von der Wirksamkeit der Allopathie bei chronischen Übeln zu sagen.

Sobald chronische Leiden — gewöhnlich im Herbst und Frühjahr — den alarmierenden Charakter akuter Kämpfe annehmen, können die Ärzte wieder etwas, nämlich beschwichtigen, die Schmerzen lindern, d. h. den erneuten Naturversuch zur Heilung aufs Neue in Schlaf lullen, oder ihm die Hände knebeln, dem Rebellen; diese Schmerzen entstehen aus dem Aufraffen der Natur, aus dem zähen jämmerlichen Resignieren in ein Insurgieren gegen den Krankheitstyrannen. — (So ist geduldete Knechtschaft chronisches Siechtum; Revolution aber akute Krankheit, Heilversuch, der oft tötet, statt zu heilen — Polen).*)

*) Und nicht auch das chronisch hinsiechende, sklavisch elende Deutschland?
Anm, d. Herausgebers zur 4. Auflage. 1852.


Solche akute Anfälle in chronischen Leiden würden ohne die Dazwischenkunft der Ärzte, wenn nicht geheilt, doch genutzt haben, indem sie etwas von dem Krankheitsstoff ausgestoßen hätten. Dies ärztliche Beschwichtigen ist also ein Zähermachen der Leiden.