Die Inangriffnahme des Baues der Sibirischen Eisenbahn bildet eines der glorreichsten Ereignisse der verflossenen Regierung und krönt in würdigster Weise die Aufklärungspolitik des Kaisers Alexander III.

Die Inangriffnahme des Baues der Sibirischen Eisenbahn bildet eines der glorreichsten Ereignisse der verflossenen Regierung und krönt in würdigster Weise die Aufklärungspolitik des Kaisers Alexander III. Durch Allerhöchstes Reskript vom 17 März 1891 wurde dem Großfürsten-Thronfolger Nikolaus Alexandrowitsch, jetzt glücklich regierenden Kaiser, der Auftrag zu Teil, die Grundsteinlegung zum Bau „eines ununterbrochenen Schienenweges durch ganz Sibirien“ am russischen Gestade des Stillen Ozeans zu vollziehen. „Ihre hochbedeutsame Mitwirkung bei der Inangriffnahme dieses von Mir unternommenen wahrhaft nationalen Werks — hieß es in dem Reskript des Zar-Friedensstifters — möge von Neuem als Gewähr dienen für Mein inniges Bestreben, den Verkehr Sibiriens mit den übrigen Teilen des Reichs zu erleichtern und dadurch diesem Meinem Herzen nahe stehenden Lande Meine wärmste Fürsorge für sein friedliches Gedeihen darzutun“. Am 19 Mai desselben Jahres geruhte der Großfürst-Thronfolger in Wladiwostok eigenhändig den ersten Grundstein der Großen Sibirischen Eisenbahn zu legen.

Nach dem Willen des erhabenen Begründers der Sibirischen Bahn wurde dem Bau dieses Schienenweges ein ganz ausnahmsweiser, der hochwichtigen staatlichen Bedeutung dieses großen Unternehmens durchaus entsprechender Charakter verliehen. Zur allgemeinen Leitung des Baues des Sibirischen Schienenweges und zur Durchführung der damit in engstem Zusammenhange stehenden Hilfsunternehmungen zur Förderung der Kolonisation und der industriellen Entwicklung der von der Eisenbahn zu durchschneidenden Gebiete wurde eine besondere Oberbehörde errichtet — das Komitee der Sibirischen Eisenbahn, unter dem unmittelbaren Präsidium des Thronfolgers, der auch nach der Besteigung des Thrones Seiner Vorfahren den persönlichen Vorsitz im Komitee beibehielt. Zum Bestände des Komitee gehören die Minister: des Innern (D. Sipjagin), der Landwirtschaft und der Domänen (A. Iermolow), der Finanzen (S. Witte), der Verkehrswege (Fürst M. Chilkow), des Krieges (A. Kuronatkin), der Verweser des Marineministeriums (P. Tyrtow) und der Reichskontrolleur (P. Lobko). Außerdem wurden durch besondere Kaiserliche Reskripte zu Gliedern des Komites ernannt: der Staats-Sekretär J. Durnowo, die General-Adjutanten P. Wannowski und N. Tschichatschow, und der Staats-Sekretär A. Kulomsin. Letzterer ist mit der Verwaltung der Angelegenheiten des Komitees betraut. Die Eisenbahnangelegenheiten werden vom Komitee unter Beteiligung des unter dem Vorsitz des Staats-Sekretärs D. Solski bestehenden Ökonomie-Departements des Reichsrats beprüft. Zu den Sitzungen des Komites werden erforderlichen Falls hinzugezogen: der Minister das Kaiserlichen Hofes (Baron W. Fréedericksz), der Justizminister (N. Murawjew) und der Minister des Auswärtigen (Graf M. Murawjew), sowie die sibirischen General-Gouverneure. Die Geschäftsführung des Komitees wird von der Kanzlei des Ministerkomitees besorgt. Die Ausführung der Vorarbeiten hinsichtlich der die Kolonisation Sibiriens und andere Hilfsunternehmen der Sibirischen Bahn betreffenden Fragen ist einer besonderen, beim Komitee unter dem Vorsitz des Staatssekretärs Kulomsin bestehenden und aus den Vertretern der mitbeteiligten Ressorts gebildeten Vorbereitungs-Kommission anvertraut. Für die unmittelbare Leitung des Baues der Sibirischen Bahn wurde eine besondere Verwaltung beim Ministerium der Verkehrswege eingesetzt, sowie für die Übersiedlungs-Angelegenheiten — eine besondere Verwaltung beim Ministerium des Innern.


Für die Sibirische Eisenbahn wurde im Interesse des Transitverkehrs und zur Erzielung möglichster Kostenersparnis bei diesem viele Millionen beanspruchenden Unternehmen die kürzeste Richtung gewählt, welche zum großen Teil längs dem 55 Parallelkreise verläuft und die Kornkammer Sibiriens, die fruchtbarsten und verhältnismäßig am stärksten bevölkerten Gegenden dieses Landes, durch schneidet. Mit dem Bau der Sibirischen Bahn wurde von zwei entgegengesetzten Seiten begonnen. Als deren Ausgangspunkt im Westen erscheint die letzte Station der Samara-Slatoustbahn-Tcheljabinsk (eine Kreisstadt des Gouvernements Orenburg).

Bis 1900, d. h. im Verlauf von weniger als 9 Jahren, ist ein Schienenstrang von 5.400 Km Länge gelegt worden, was für jedes Baujahr eine Strecke von 600 Km ergibt. Ein solches Resultat muss als sehr erfolgreich anerkannt werden, besonders wenn man einerseits die Schwierigkeiten, die bei der Durchlegung des Schienenweges in dem stark kupierten Terrain des Tomskischen und des Jenisseiskishen Gouvernements, sowie in dem vielfachen Überschwemmungen ausgesetzten Transbaikalischen Gebiet zu überwinden waren, andererseits aber die zahlreichen großen Ströme, zu deren Überbrückung eine Gesamtlänge von mehr als 48 Km Brücken erbaut, werden mussten, in Berücksichtigung zieht. Die mächtigste dieser Brücken, welche über den Jenissei führt, hat eine Länge von 895 m, bei einer Spannweite der Brückenbögen von 150 m. Was die Schnelligkeit der Ausführung des Baues anbelangt, so steht die Sibirische Bahn ohne Gleichen da und übertrifft sogar die ihr in vielen Beziehungen ähnliche Kanadische Pacific-Bahn (4.700 Km.), deren Herstellung 10 Jahre erforderte.

Mit der Eröffnung der Schifffahrt im J. 1900 wird bereits die Möglichkeit geboten sein, eine ununterbrochene, mit Dampfbetrieb unterhaltene Verbindung zwischen dem Europäischen Eisenbahnnetz und der Stadt Wladiwostok, teils mit der Eisenbahn, teils auf Dampfschiffen herzustellen und zwar nach folgendem Fahrplan: von Tscheljabinsk bis Sretensk mit der Eisenbahn (4.421 Km.), wobei die Überfahrt über den Baikalsee (64 Km.) auf einem besonderen, zur Aufnahme eines ganzen Eisenbahnzuges eingerichteten Eisbrecher-Dampfers vor sich geht; von Sretensk bis Chabarowsk längs dem Schilkaflusse und dem Amur (2.240 Km.) mit dem Dampfer, und endlich von Chabarowsk bis Wladiwostok (766 Km.) wiederum mit der Eisenbahn. Eine solche Reise beansprucht im Ganzen etwa 2 1/2 Wochen. Zur Erleichterung der Fahrt auf der Sibirischen Eisenbahn sind besondere Kurierzüge eingeführt, die wöchentlich zwischen Moskau und Irkutsk verkehren. Diese Züge enthalten Schlafwagen, Speisewagen, Bibliothek, Baderaum, Turnsaal, und überbieten an Bequemlichkeit die besten Expresszüge Europas. Die Reise von Paris oder London nach Wladiwostok beansprucht gegenwärtig etwa 3 1/2 Wochen, während für die Fahrt nach Ostasien auf dem Seewege über Suez nahezu 6 Wochen erforderlich sind. Hieraus ist ersichtlich, in welchem Masse bereits jetzt, dank der Sibirischen Eisenbahn, der Verkehr Europas mit den Ländern des fernen Ostens beschleunigt wird. Dieser Verkehr dürfte noch weitere Erleichterungen erfahren durch die bevorstehende Vollendung der 1899 in Angriff genommenen Baikal-Umgehungsbahn, (250 Km.) sowie der 1897 von einer russischen Privat-Gesellschaft innerhalb der Grenzen der Mandschurei unternommenen Chinesischen Ostbahn (1.536 Km.) mit ihrer südlichen Zweiglinie (1.050 Km.). Durch diese Bahn wird die Sibirische Hauptlinie auf kürzestem Wege mit Wladiwostok und den von der Chinesischen Regierung an Russland zur zeitweiligen Nutznießung abgetretenen eisfreien Häfen der Kwang-tung-Halbinsel — Port-Arthur und Dalnij (Talienwan) verbunden.

Nach Vollendung der beiden obenerwähnten Bahnlinien wird eine ununterbrochene Eisenbahnverbindung zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean durch Europa und Asien hergestellt sein. Die Gesamtlänge des großen Sibirischen Schienenweges, d. h. der Sibirischen Hauptbahn und der Mandschurischen Linie mit allen ihren Abzweigungen wird 8.870 Km. betragen.

Die bequemste Reiseroute für die Fahrt von einem Ozean zum anderen ist folgende: Havre -Paris –Köln-Berlin-Alexandrowo-Warschau-Moskau-Tula-Samara-Tscheljabinsk-Irkutsk-Wladiwostok. Die Gesamtlänge der ganzen Strecke beträgt 11.950 Km., von denen 10.240 Km. oder 6/7 des ganzen Wegs auf die Gr. Sibirische Eisenbahn (6.510 Km.) und das Eisenbahnnetz des Europäischen Russlands (3.730) entfallen, während sich an den übrigen 1.710 Km. (1/7 der Strecke) die Eisenbahnen Westeuropas beteiligen, nämlich Frankreich mit 480 Km., Belgien mit 160 Km. und Deutschland mit 1.070 Km.

Zur Erleichterung des Exports sibirischer Produkte ins Ausland hat das Komitee der Sibirischen Eisenbahn einen neuen Transportweg nach den westeuropäischen Märkten durch den Hafen von Archangelsk und das Weiße Meer eröffnet, dadurch dass im nord-östlichen Teile des Europäischen Russlands eine Bahn (von 866 Km. Länge) zwischen der Stadt Perm und dem Binnenhafen Kotlas am Dwinaflusse erbaut worden ist.

Die vorläufigen Betriebsergebnisse der Sibirischen Bahn, soweit sie in dem Umfang des Personen- und Warenverkehrs zu Tage treten, haben gleich in der ersten Zeit die anfänglichen Erwartungen bei Weitem übertroffen. Auf den west-und mittel-sibirischen Teilstrecken sind seit dem Oktober 1895, als die ersten Transporte begannen, bis zum Jahre 1899, in dem sich bereits die ganze Linie von Tscheljabinsk bis Irkutsk am Personen- und Warenverkehr beteiligte, befördert worden.

Im Jahr 1895 Passagiere 211.000 Waren 57.000 Tonnen (nur 3 Monate)
Im Jahr 1896 Passagiere 417.000 Waren 184.000 Tonnen
Im Jahr 1897 Passagiere 600.000 Waren 443.000 Tonnen
Im Jahr 1898 Passagiere 1.049.000 Waren 700.000 Tonnen
Im Jahr 1899 Passagiere 1.075.000 Waren 657.000 Tonnen
Zusammen. Passagiere 3.352.000 Waren 2.041.000 Tonnen

Unter den Ausfuhrwaren Sibiriens nimmt Getreide die erste Stelle ein (42% der Gesamtausfuhr) und geht zum größten Teil ins Ausland über die Häfen: Reval, Libau, St. Petersburg und Riga. In zweiter Reihe stehen die Erzeugnisse der Vieh-und Geflügelzucht: Fleisch, geschlachtetes Geflügel, Butter (die in besonderen Schnellzügen mit Kühlvorrichtung hauptsächlich auf den Londoner Markt gebracht wird). Talg, Häute, Wolle, Eier. An Durchfuhrwaren befördert die Sibirische Bahn zunächst hauptsächlich Tee. dessen Transport mit jedem Jahre steigt (1897 — 28.000 Tonnen, 1898 — 36.000 Tonnen). Eingeführt werden nach Sibirien bis heute vorzugsweise Eisen und Eisenwaren, Zucker, Manufakturwaren, Maschinen und Petroleum.

Die schnelle Zunahme des Personen- und Warenverkehrs auf der Sibirischen Bahn veranlasste die nachträgliche Bewilligung von Geldmitteln zur Verstärkung der Leistungsfähigkeit dieser Bahn und zur Erhöhung der Fahrgeschwindigkeit in der ersten Zeit bis auf 37 Km. in der Stunde (die auf den amerikanischen Bahnen im Überlandverkehr angenommene Geschwindigkeit) für Personenzüge und bis auf 21 — 23 Km. in der Stunde für Warenzüge. Bei dieser Geschwindigkeit würden zur Zurücklegung der gegen 8.500 Km. betragenden Strecke von Moskau bis Wladiwostok oder Port-Arthur nach Beendigung der ganzen Magistrallinie 10 Tage erforderlich sein; der Preis für eine Fahrkarte I. Klasse in Schnellzügen mit Schlafplätzen soll nach dem geltenden Differentialtarif 248 M. betragen. Die Reise von Paris oder London nach Schanghai wird unter diesen Umständen 16 Tage dauern und in der I. Wagenklasse 690 M. kosten, statt 34 — 36 Tage und 1.950 M., die jetzt die Überfahrt auf dem Seewege erfordert. Bei weiterer Steigerung der Fahrgeschwindigkeit auf der Sibirischen Bahn bis zu der in Europa erreichten Maximalgrenze wird die Fahrzeit im Überlandverkehr zwischen dem Atlantischen und dem Stillen Ozean späterhin bis auf 10 Tage vermindert werden können.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Große Sibirische Eisenbahn