Fortsetzung

Für das Entstehen und den Verlauf ansteckender Krankheiten sind sowohl persönliche Anlagen wie zeitlich wechselnde Zustände von größter Bedeutung. Neben den als Disposition (Krankheitsbereitschaft) bezeichneten Umständen unterschied man von alters her den Begriff der Konstitution, als den Verlauf von Krankheiten bestimmende Umstände, und neuerdings hat man sich wieder mehr als früher mit dem Konstitutionsbegriff beschäftigt.

Aus den bisher angeführten Anschauungen von Lubarsch ergibt sich als wesentlich, dass für die Krankheitserscheinungen die Erreger oder andere schädigende Einflüsse allein nicht bestimmend sind. Anlage und Konstitution sind für Ausbruch und Verlauf einer Erkrankung ausschlaggebend. Damit ist gegenüber den Schlussfolgerungen, die aus den bakteriologischen Entdeckungen des vorigen Jahrhunderts gezogen wurden, eine andere Stellung eingenommen: die Verschiedenartigkeit der Krankheitsbilder wird nicht mehr von den Eigenschaften der lebenden Erreger allein bestimmt.


Rudolf Virchow hat im Jahre 1858 die Zellularpathologie geschaffen. Er wies auf die Bedeutung der Zellen hin, aus denen der tierische Organismus aufgebaut ist. Durch mikroskopische Untersuchungen erbrachte er den Nachweis krankhafter (pathologischer) Veränderungen an den Zellen. Nach seiner Lehre galten die festen Körperbestandteile als Sitz der Krankheit. Für ihn gab es überhaupt keine allgemeinen Krankheiten, sondern nur örtliche Erkrankungen. Gleich den Ergebnissen der Bakteriologie wurde auch diese Lehre gegen den Willen ihres Begründers übertrieben. Im letzten Jahrzehnt wandelten sich diese Anschauungen. Man fasste die Krankheiten als Reaktion des menschlichen Körpers auf das Eindringen der Bakterien auf und bildete den Begriff der Disposition und Konstitution. Flüssige und feste Bestandteile des Organismus gelten nun im Allgemeinen als gleich wichtig. Konstitution bedeutet dem Wort nach „Zusammensetzung“; man kann es aber auch in dem Sinne verstehen, den es in der Politik hat, und mit „Verfassung“ übersetzen. Spricht man doch auch im landläufigen Sinne von „körperlicher Verfassung“. Die Konstitution jedes Körpers ist eine veränderliche Größe, sie schwankt nach Alter, Klima und Jahreszeit; sie ist auch verschieden den verschiedenen Krankheitseinflüssen gegenüber. Nach Vogel ist die Gesamtkonstitution nichts Einheitliches, sondern, wie schon der Name besagt, zusammengesetzt, und zwar aus den Einzelkonstitutionen der Zellen, Gewebe und Organe. Nach dieser veränderten Einstellung wird der Mensch wieder als Ganzes aufgefasst. Vorher hatte die Fülle der Einzelbeobachtungen auch auf praktischem Gebiete zu einem weitgehenden Spezialistentum geführt. Wie Professor F. Müller sagt: „In dieser Zeit studierte man gewissermaßen nur noch das kranke Gehirn, Herzkrankheiten, Leber-, Magen-, Hautleiden, aber nicht mehr den kranken Menschen; die Übersicht über das Ganze ging verloren. . . . Nicht das einzelne kranke Organ, und nicht, wie Virchow gelehrt hatte, die Zelle soll die Einheit sein, sondern die ganze Person, in ihrer individuellen Eigenart. . . . In der Praxis bleibt uns nur übrig, das Individuum mit allen seinen Eigenschaften, die es zurzeit darbietet, als Ganzes aufzufassen.“

Es ist leicht zu verstehen, dass, wie Pfaundler bemerkt, die konstitutionellen Veranlagungen begreiflicherweise nicht zu einzelnen scharf umrissenen Krankheitsbildern führen können, sondern dass sie wegen der Vielgestaltigkeit der menschlichen Anlagen naturgemäß ineinander übergehen müssen. Damit steht die heutige Medizin den Erscheinungen des vielgestaltigen Lebens aber doch von einer höheren Warte aus gegenüber, als dies in der abgelaufenen Periode der reinen Bakteriologie, der Zellularpathologie und des Spezialistentums der Fall gewesen ist und sein konnte.

Und von diesem Standpunkt aus wird der Laie nun auch begreifen können, dass gar nichts damit gesagt ist, wenn er sich denkt oder hört: Die Grippe tritt jetzt mild auf, oder: Sie ist diesmal weit gefährlicher als während der letzten Periode. Noch leichter wird er verstehen, dass seine Frage an den Arzt keine Antwort zu finden vermag, wenn er wissen will, wie heftig die Epidemie werden wird, wie lange sie dauern kann oder welcher Art diesmal bei der Grippe die Komplikationen oder die Nachkrankheiten sein mögen. Diese Dinge hängen ja gar nicht unmittelbar von der Infektionskrankheit ab, sondern von der Anlage und Verfassung der Kranken und auch davon, ob diese rechtzeitig geeignete Hilfe in Anspruch nahmen oder die Krankheit verschleppten. Also nicht zuletzt von der Behandlung und Pflege, die diesen während ihres Leidens versagt blieb oder zuteil ward. Nicht weniger wichtig ist bei dieser, wie auch für andere Krankheiten das Klima und die jeweilige Witterung.

In Laienkreisen bezeichnet man wahllos alles als „Grippe“, besonders aber alle irgendwie katarrhalischen Erscheinungen. Mit Recht ist gesagt worden: „Was man sich nicht erklären kann, sieht man getrost als ,Grippe' an.“ Es ist ungeschickt, in oberflächlicher Weise Grippeerkrankungen zu konstruieren und so Beunruhigung unter die ohnedies schon genug geplagte Bevölkerung zu tragen. Angst und Furcht rufen unnötige Massensuggestionen herum, denen Mancher trübe Stunden verdankt. Die anfänglich hohen Erkrankungsziffern, die nach jeder einsetzenden Epidemie-Welle zu verzeichnen sind, hat man nicht grundlos als Folge des öffentlichen Geredes gebucht. Nun soll aber hier durchaus kein leerer Beschwichtigungsversuch unternommen werden. Auch ist nicht beabsichtigt, dass sich nun jeder über Disposition, Anfälligkeit oder Konstitution einen eigenen Vers bilden soll; dies zu beurteilen ist Sache des Arztes.

Vor den täglich laut genug angepriesenen Vorbeugungs- und Heilmitteln kann nicht dringend genug gewarnt werden. Es gibt keine Vorbeugungsmittel! Wenn sie in ihrer Harmlosigkeit auch keinen weiteren Schaden stiften können, so verliert der Erkrankte dabei doch Zeit, das Leiden wird verschleppt und der Zustand oft recht bedenklich verschlimmert. Wer sich erkrankt fühlt, soll sofort das Bett aufsuchen und ohne Zögern einen Arzt rufen lassen. Bemerkt sei noch: es gibt keine Grippe ohne Fieber; aber auch hier sind, im Sinne der oben dargestellten schwankenden Anfälligkeits- und Konstitutionsbegriffe, die Grenzen fließend. Für viele, wenn auch nicht alle chronisch Erkrankten ist die Grippe keine geringe Gefahr. Nach allem bisher Gesagten ist es wohl begreiflich, dass und warum sich ihr Verlauf recht mannigfaltig zu gestalten vermag. Die Gefahr der Rippenfellentzündung oder rasch verlaufender Lungenerkrankungen ist durchaus nicht gering zu schätzen. Deshalb ist es in ernsten Fällen geboten, für sachgemäße Pflege zu sorgen und diese im Bedarfsfall im Krankenhaus zu suchen. Wohlangeordnete und auf Erfahrung beruhende Pflege ist bei schweren Fällen im höchsten Grade wichtig und ausschlaggebend, da es ein Allheilmittel für Grippe nicht gibt und geben kann, solange eine sichere Krankheitsursache nicht festgestellt ist. Zum Heile des Erkrankten sieht die heutige Medizin mehr aufs Ganze, statt unbekannten Erregern die für den Augenblick nötige Behandlung zu opfern. Wenn das Prophezeien auch von zweifelhaften Erfolgen begleitet zu sein pflegt, so darf man doch wohl behaupten, dass sich kaum mehr „Spezialisten für Grippe“ heranbilden werden.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Grippefurcht