Die Grippefurcht

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1922
Autor: Paul Adolf Märkel, Erscheinungsjahr: 1922

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Themenbereiche
Enthaltene Themen: Krankheit, Arzt, Patient, Grippe, Epidemie, Grippeerkrankungen, Influenza, Massenerkrankungen, Erreger, Bazillen, Infektionskrankheiten,
Je trüber die jeweilig herrschende Stimmung war, umso mehr erwartete man von jeder Grippeperiode, dass sie die schlimmste von allen bisherigen Epidemien werden müsse. Gleichzeitig mit den Nachrichten über neue Massenerkrankungen steigerte sich die Furcht vor dieser Krankheit in allen Schichten der Bevölkerung. Zu keiner Zeit war die allgemeine Stimmung so reizbar wie in den letzten Jahren, und die Menschen sind in erschreckend hohem Maße geneigt, Massensuggestionen zum Opfer zu fallen. Die Neigung zu Schwarzseherei und hypochondrischer Übertreibung ist aber viel bedenklicher als das Leiden, vor dem man bangt. Als im Jahre 1919 die Grippeerkrankungen Überhandnahmen, entstand das wilde Gerücht, „Unterleibstyphus“ und „Lungenpest“ bedrohten die Menschen Europas mit Ausrottung. Kein Wunder, da man sich allgemein Weltuntergangsstimmungen hingab. Da diese Befürchtungen nicht eintrafen, beruhigten sich die erregten Gemüter. Man lernte aber nichts daraus, sondern begann bei der nächsten Epidemie das ängstliche Gerede abermals. Vielleicht wiederholen sich auch jetzt diese Unkenrufe, denn die Zeiten sind seitdem nicht besser geworden. Grippe oder Influenza sind beides Namen für dieselbe Art der Erkrankung. Die Pestbazillen sind genugsam bekannt, und die Erreger dieses Leidens haben nichts mit der Grippe zu schaffen.

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Inhaltsverzeichnis
Trotz reichlicher Bemühungen kennt man bisher den Erreger der Grippe nicht. Der Influenzabazillus, den Richard Pfeiffer 1892 festgestellt haben wollte, fand unter den Ärzten auf die Dauer so gut wie keine Gläubigen. Man konnte diesen vermeintlichen Erreger als Schmarotzer sowohl bei Gesunden wie im Verlaufe anderer Infektionskrankheiten, die nichts mit Influenza zu tun hatten, Nachweisen. Professor Liebscher gelang es, den Pfeifferschen Bazillus in zehn Prozent seiner Untersuchungen in der Nase und ihren Nebenhöhlen bei völlig gesunden Leuten einwandfrei nachzuweisen. Daraus geht hervor, wie verkehrt es war und ist, die Diagnose (Erkennung der Krankheiten) der Grippe vom Vorhandensein des Pfeifferschen Stäbchenbazillus abhängig machen zu wollen. Der Marburger Kliniker Professor Eduard Müller äußerte sich darüber im Jahre 1918: „Die Forderung, dass die Diagnose Influenza nur beim Nachweis der Influenzabazillen gestellt werden darf, ist wissenschaftlich unbegründet und praktisch undurchführbar.“ Ausdrücklich bemerkt er, dass der Influenzabazillus nicht spezifisch (artmäßig) für die Grippe sei, da er unter anderem auch bei Keuchhusten vorkäme und sich nur in einem Teil der Grippefälle fände. Er sagt geradezu: „Seine ätiologische (krankheitsbestimmende) Bedeutung für die Grippe ist noch durchaus unsicher, ja unwahrscheinlich.“ Und diese Ausfassung besteht heute noch zu Recht. Das Krankheitsbild der Grippe ist noch nicht völlig einheitlich. Und es muss vorweggenommen werden, dass der tödliche Ausgang kaum jemals durch die Grippe erfolgt, sondern durch ihre Komplikationen (Zusammensetzung, Vereinigung mit anderen Erkrankungsarten). Eduard Müller wies mich darauf hin, dass bei Grippe naheliegende Verwechslungen mit Tuberkulose vorkamen, und dass sogar auf dem Sektionstisch der Unterschied zwischen diesen beiden Erkrankungsformen mitunter sehr schwierig sei. Diese Feststellungen erwecken zunächst den Eindruck, dass die gewaltige Furcht vor der Grippe berechtigt ist. Und doch verhält es sich nicht so.

Wenn es schon für den wissenschaftlich Geschulten keine geringe Aufgabe ist, den Wandlungen der Anschauungen auf medizinischem Gebiete zu folgen, so bleibt die Laienwelt meist durchaus in Irrtümern befangen. Durchschnittlich ist man in diesen Kreisen kaum über den Standpunkt der Wissenschaft von vorgestern auch nur einigermaßen unterrichtet. Und aus dieser Lage ergeben sich die schwerwiegendsten Irrtümer und oft geradezu verhängnisvollsten Missverständnisse. Als Beispiel diene die Annahme einer Gleichsetzung von Grippe mit Unterleibstyphus oder Lungenpest und die daraus entstandene hochgradige Erregung der Gemüter. Ging man doch 1918 so weit, zu glauben, die Ärzte verschwiegen die ihnen bekannte „schreckliche“ Tatsache. In Laienkreisen weiß man durchschnittlich nicht, dass sich in der Einschätzung der Krankheitserreger, soweit es sich um Bazillen handelt, ein bedeutender Anschauungswandel vollzogen hat. Während man sich in der Masse vor dem Erreger der Grippe fürchtet, wenden die Arzte längst ihre Achtsamkeit ganz anderen Erscheinungsformen des Leidens zu, die ihnen mehr Sorge bereiten: den möglichen Komplikationen und Nachkrankheiten.

Zur weiteren Klärung der allgemeinen Sachlage folgen wir hier zunächst Professor Otto Lubarsch.*) Er schreibt in einem Abschnitt über die krankheiterregenden und krankheitsauslösenden Einflüsse: Nachdem um die Mitte des neunzehnten Jahrhunderts die Anschauung immer mehr Boden gewonnen hatte, dass die ansteckenden (Infektions-) Krankheiten durch mikroskopisch kleine Lebewesen verursacht würden, ist diese Ansicht zum endgültigen Siege geführt worden durch die großen Entdeckungen Robert Kochs. Ihm, einer Anzahl seiner Schüler und anderen Gelehrten gelang es, für eine Reihe Infektionskrankheiten die Krankheitserreger einwandfrei zu erweisen. Diese Ergebnisse bewirkten, dass eine ganze Zeitlang weite wissenschaftliche Kreise allein den Spaltpilzen eine Bedeutung für die meisten ansteckenden und ihnen ähnlichen oder entsprechenden Krankheiten zuschrieben und allen anderen Grundursachen — in erster Linie der persönlichen und zeitlichen Krankheitsanlage — jede Bedeutung absprachen. Die erst in den neunziger Jahren des vorigen Jahrhunderts einsetzende Gegnerschaft schoss dann insofern wieder über das Ziel hinaus, als sie in den krankmachenden Spaltpilzen nur auslösende Ursachen sehen wollte und den Hauptnachdruck wieder auf die Krankheitsanlage legte. Auch diese Auffassung ist nicht richtig. Die Frage ist, welche Erreger eingedrungen sind, die nun auf den gesamten Verlauf und Ausgang der Erkrankung mitbestimmend wirken. So entsteht Tuberkulose nicht, wenn nicht Tuberkelpilze in den Körper eingedrungen sind, und Wundstarrkrampf nur dann, wenn Tetanusbazillen im Spiele waren. . . . Aber die Spaltpilze bestimmen allein weder den Ausbruch noch den Verlauf einer Infektionskrankheit. Dass zum Ausbruch ansteckender Krankheiten nicht die Anwesenheit der eigenartigen (spezifischen) Kleinlebewesen genügt, geht aus einer ganzen Reihe sicher bewiesener Tatsachen hervor. Es ist keineswegs so selten, dass krankmachende Spaltpilze, aber auch tierische Parasiten (Schmarotzer) im Körper von Menschen vorkommen, ohne dass bei ihnen die spezifische Krankheit oder überhaupt irgend eine Krankheit ausbricht. So beherbergen wir regelmäßig in unserer Mundhöhle Kettenpilze (Entzündungs- und Eitererreger), die unter gewissen Umständen schwere Halsentzündungen, ja auch Lungenentzündungen hervorrufen können; in ungefähr acht bis dreizehn Prozent der untersuchten Fälle hat man bei ganz gesunden Personen Diphtheriebazillen, die für Tiere erhebliche Giftigkeit besaßen, im Rachen gefunden und ihre Anwesenheit durch Wochen verfolgen können, ohne dass irgendwelche Krankheitserscheinungen in Rachen oder Nase sich entwickelten. So fand man während Choleraepidemien bei ganz gesunden oder nur leicht an Durchfall leidenden Menschen eine große Menge von Erregern dieser Krankheit. Auch die Erreger des Typhus und der Ruhr fand man in den Entleerungen ganz gesunder Menschen häufig, und zwar sowohl bei solchen, die einmal die Krankheit überstanden, als auch solchen, die niemals ruhr- oder typhuskrank gewesen waren, wonach man „Dauerausscheider“ und „Bazillenträger“ unterschieden hat, die für die Weiterverbreitung der Erkrankung von größter Bedeutung sind. . . . Diese Tatsachen beweisen, dass die Anwesenheit pflanzlicher oder tierischer Parasiten, die unter Umständen krankheiterregend wirken können, nicht genügt, um den Ausbruch einer Infektionskrankheit zu erklären, ja selbst ihr Eindringen in das Körperinnere und die Blutbahn genügt nicht, um den Ausbruch der Krankheit sicher zu veranlassen. Hier ist eben in erheblichem Maße entscheidend die Krankheitsanlage, das heißt diejenigen wechselnden Lebensbedingungen, welche die lebendigen Gewebe den eingedrungenen Kleinlebewesen darbieten. Denn in ganz außerordentlicher Weise sind diese Wesen von den äußeren Ernährungsbedingungen abhängig. . . . Demnach besteht eine besondere Veranlagung (Disposition) für Infektionskrankheiten, in dem Sinne, dass für die meisten krankmachenden Kleinlebewesen der Nährboden weder bei jedem Individuum einer Art noch bei dem einzelnen Individuum zu jeder Zeit ein gleich günstiger ist. Für das Verständnis der Infektionskrankheiten ist dies von sehr erheblicher Bedeutung. Es ist bedauerlich, dass zum Schaden der wissenschaftlichen Forschung und unter gänzlich unnötiger Beunruhigung der Laienwelt dieser Grundgedanke noch keine genügende Anerkennung gefunden hat.

*) Die Gesundheit, ihre Erhaltung, ihre Störungen, ihre Wiederherstellung. 2 Bände. Verlag der Union Deutsche Verlagsgesellschaft, Stuttgart.

034 Die Anatomie des Doktor W. van der Neer. Von Michiel Janszon van Mierevelt. Delfter Krankenhaus 1617

034 Die Anatomie des Doktor W. van der Neer. Von Michiel Janszon van Mierevelt. Delfter Krankenhaus 1617

042 Die Anatomie des Doktor Frederik Ruysch. Von Johann van Neck. Amsterdam 1683

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