II. Die Geheimrätin Charlotte Ursinus

Die Geheimrätin Charlotte Ursinus, geboren 1760, Witwe seit 1800, verhaftet 1803, und gestorben erst 1836, nicht auf dem Richtplatze, sondern aus der Schlesischen Festung Glatz.

Sie war eine Frau von Geist und Bildung, mit einer imposanten Gestalt und sehr einnehmenden Gesichtszügen. Im Besitz eines ansehnlichen Vermögens verstand sie es, ihr Haus zu einem Glanzpunkt der damaligen vornehmen Gesellschaft zu machen. Als 19jähriges blühendes Mädchen hatte sie einen ehrenwerten, herzensguten, aber für ihr Alter zu bejahrten, und noch dazu kränklichen und etwas tauben Mann geheiratet, mit welchem sie in einer friedlichen und gegen ihre Neigung kinderlosen Ehe lebte. Auch sie trat in ein intimes, von ihrem Mann gebilligtes Freundschaftsverhältnis zu einem Mitbewohner ihres Hauses, einem holländischen Kapitain Rogay, der zeitweilig krank war, und dann von ihr mit fast mehr als mütterlicher Sorgfalt gepflegt wurden allein dennoch nach Jahr und Tag, gegen den Wunsch und Willen der dadurch tief gekränkten Ursinus, den Umgang vollständig abbrach, und durch keine Bitten und Briefe zur Änderung seines Entschlusses zu bewegen war. Vielleicht hatte er die Überzeugung gewonnen, daß er in dieser Atmosphäre nicht genesen könne, vielleicht auch trug er den Todeskeim schon in sich; denn er starb bald nachher, wie die Ärzte meinten, an der Lungenschwindsucht. Drei Jahre später, im September des Jahres 1800, schied auch ihr Mann aus dem Leben, der heute noch wohl und vergnügt seinen Geburtstag gefeiert hatte, über Nacht aber von einer heftigen Kolik befallen wurde, welche die am Bett sitzende Gattin durch Hausmittel zu Stillen bemüht war. Der Angriff auf seinen schwächlichen Körper mußte jedoch zu deftig gewesen sein; die am anderen Tage herbeigerufenen Ärzte erklärten seinen Zustand für rettungslos und stellten einen Nervenschlag in Aussicht, welcher denn auch nach einigen Stunden den Leidenden erlöste. - Auf diese Weise verlassen, zuerst von ihrem Hausfreund und nun auch von ihrem Gatten, erinnerte sich die Ursinus der liebsten unter ihren wenigen mütterlichen Verwandten, einer alten Tante in Charlottenburg, und machte ihr im Januar 1801 einen Besuch, welcher wegen Unwohlseins der Tante verlängert wurde, und bei dem immer zunehmenden Übelbefinden die Nichte nötigte, ihre meiste Zeit am Krankenbette zuzubringen, bis in der Nacht vom 23. auf den 24. Januar auch diese, an deftigen Krämpfen leidende Patientin ihren Geist aufgab. - Zwar erklärte die Ursinus, dieser so unerwartete Todesfall habe sie dergestalt entmutigt und trübsinnig gemacht, daß der Gedanke an einen Selbstmord sich ihrer bemächtigt habe. Indessen die Sorgen um die Beerdigung der guten Tante und um die Teilung ihres bedeutenden Nachlasses verscheuchten jenen schwarzen Gedanken ganz. Im Gegentheil überließ sie sich, nach Berlin zurückgekehrt, sehr bald wieder ihren gewohnten Vergnügen und Zerstreuungen, und so finden wir sie am Abend des 5. März 1803 in einer Gesellschaft bei einer Partie Whist. Da nähert sich ihr bestürzt und verlegen ein Bediente mit der halblauten Meldung, im Vorzimmer befinde sich Polizeimannschaft, deren Chef die Frau Geheimrätin dringend zu sprechen verlange. Ohne eine Miene zu verziehen. legt sie die Karten auf den Tisch entschuldigt sich wegen der momentanen Unterbrechung: es sei nur ein Missverständnis; sie werde alsbald wieder da sein. Allein es verstrichen mehrere Minuten banger Erwartung: sie kehrte nicht zurück; wohl aber verbreitete sich im Saal die Kunde, sie sei, einer Vergiftung verdächtig, in das Kriminalgefängnis abgeführt worden! - Und wer hatte ihr diesen unerhörten Affront bereitet? Niemand, als sie selbst; ihre Sorglose Dreistigkeit, um nicht zu sagen die Frechheit, zu welcher der Mensch, dem viel schon geglückt, sich verleiten lässt. Ihr eigener Bediente nämlich war in der vorigen Woche krank geworden, und erhielt von seiner teilnehmenden Gebieterin das eine Mal Fleischbrühe, das andere Mal Rosinen, nach deren Genuss er beide Male von Übelkeit und heftigem Erbrechen befallen wurde; am dritten Tage bot sie ihm Milchreis an, goss aber denselben, als er ihn zu essen verweigerte, in den Schüttstein. Diese auffallende Verwendung einer doch für ihn bestimmten Speise machte ihn stutzig und misstrauisch; er durchsuchte heimlich die Wandschränke des Wohnzimmers, und fand in der Tat ein weißes Papiersäckchen mit der Aufschrift ,,Arsenik“ - Am andern Morgen erschien die um seine Gesundheit besorgte Hausfrau wiederum mit gebackenen Pflaumen, die er zwar mit Dank annahm, allein unberührt ließ, und nach ihrer Entfernung heimlich durch die Kammerjungfer zum Apotheker schickte, dessen erbetene Prüfung sehr bald ergab, dass die Pflaumen Arsenik einhielten. - So hatte also die Ursinus bloß durch das unbesonnene Wegschütten des Milchreises die ganze darauf folgende Katastrophe selbst herbeigeführt. Ganz Berlin war in Aufregung. Überall hörte man: ,,die stolze Geheimrätin hat ihren Bedienten vergiftet! Und wenn sie dessen fähig war, so ist sie auch schuld an dem Tode ihrer Tante - und ihres Mannes, der heute gesund und morgen eine Leiche war - ja am Ende auch ihres schon vor 6 Jahren verstorbenen Liebhabers“, flüsterte man sich in vertrauteren Kreisen zu.


Und in der Tat lag einige Berechtigung in diesen Rück-Schlüssen von der Gegenwart auf die Vergangenheit. Denn im Besitz von Arsenik war die Ursinus gefunden worden; plötzlich und unter sehr auffallenden Umständen war wenigstens ihr Mann, zum Teil aber auch die Tante gestorben, und zwar beide im Beisein Niemandes, als der so Beschuldigten selbst. Nimmt man nun hierzu ihre Charaktereigenschaften, wie sie freilich erst die Untersuchung entschleiert hat: einerseits ihre Eitelkeit, Gefallsucht und Sinnlichkeit, andrerseits die Sentimentale Heuchelei mit nicht empfundenen Gefühlen, bei gänzlicher Herz- und Gewissenlosigkeit; so ist es nur zu wahrscheinlich, daß sich das Publikum nicht irrte. Ihr Liebhaber mußte geopfert werden, weil er sie verlassen hatte; ihr Mann, weil er für sie zu alt und kränklich war, die Erbtante, weil sie auch schon lange genug gelebt hatte, und sehr vermögend war; der Bediente endlich - darüber schwebt ein Dunkel - nach dessen eigener Vermutung freilich nur - weil er in Folge eines mit ihr gehabten Streites den Dienst quittieren wollte, und Mancherlei über ihre bisher vergeblichen Versuche, sich wieder zu verheiraten, durch sie selbst erfahren hatte, was er dann bei einer neuen Herrschaft ausplaudern konnte. Was galt ihrem Stolze und ihrer Selbstsucht ein Menschenleben, wenn es darauf ankam, sich selbst eine Beschämung, eine Demütigung zu ersparen!

So viel ist nach den gegen sie vorliegenden Beweisen unzweifelhaft: hätte sie sich vor einem heutigen Schwurgericht zu verantworten gehabt, so wäre sie dem Schicksal der Brinvillier nimmermehr entgangen; ihre damaligen Richter aber, noch gebunden durch ein strenges Schuldbeweisgesetz, sprachen sie von der Anklage in Beziehung auf ihren Geliebten nicht bloß, sondern selbst in Beziehung auf ihren Gatten völlig frei, verurteilten sie dagegen wegen dringenden Verdachtes der Vergiftung ihrer Tante, und wegen wiederholten Versuchs einer Vergiftung ihres Bedienten zu lebenslänglichem Festungsarrest. Auch wurde dem Letzteren wegen seiner geschädigten Gesundheit eine anständige Rente zugesprochen, die er noch 20 und einige Jahre lang bezog, und deshalb hieß er der Mann, der vom Gifte lebe. Der Ursinus war ein höheres Alter beschieden, und noch in ihrem 70. Jahre wurde ihr sogar die Gnade zu Teil, die Festungsgebäude zu verlassen und in der Stadt Glatz selbst wohnen zu dürfen - ein Ereignis, welches die Überglückliche in ihrem neuen elegant eingerichteten Logis durch einen splendiden Damenkaffee feierte. Obwohl sie nun in der Stadt allgemein nur unter dem Namen der Giftmischerin bekannt war, so erschien dennoch die Mehrzahl der geladenen Gäste, sollte aber für diese Unschicklichkeit auf das Empfindlichste beschämt werden. Irgend jemandem, den die Dreistigkeit der Sträflingin nicht minder, als die Würdelosigkeit der Erschienenen empört haben mochte, war es nämlich gelungen, den Zuckerguss der dabei servierten Torten mit einem die Verdauung störenden und zu sehr beschleunigenden Medikament zu vermischen - und man kann sich das Entsetzen Aller denken, als Eine nach der Anderen unter dem Einfluss von Übelkeit und Leibschmerzen nach Hausen eilt und nach ärztlicher Hilfe verlangt, weil Alle sich für vergiftet halten.

Die Brinvillier, als sie sich überführt sah, bekannte ihre Schulde ein solches Opfer der Wahrheit zu bringen, hat die verstockte Berliner Sünderin nie über sich vermocht. Noch in ihrem 76. Jahre, als der Tod ihr nahte, behauptete sie, als eine verkannte Unschuldige zu sterben! -