Rabbi Nachman und die jüdische Mystik

Rabbi Nachman von Bratzlaw, der 1772 geboren wurde und 1810 starb, ist vielleicht der letzte jüdische Mystiker. Er steht am Ende einer ununterbrochenen Überlieferung, deren Anfang wir nicht kennen. Man hat diese Überlieferung lange Zeit zu leugnen gesucht; sie kann heute nicht mehr angezweifelt werden. Man hat nachgewiesen, dass sie von persischen, dann von spätgriechischen, dann von albigensischen Quellen gespeist wurde; sie hat die Kraft des eigenen Stromes behauptet, der allen Zufluss aufnehmen konnte, ohne von ihm bezwungen zu werden. Freilich werden wir sie nicht mehr so ansehen dürfen, wie ihre alten' Meister und Jünger es taten: als „Kabbala“, das heißt: als Übergabe der Lehre von Mund zu Ohr und wieder von Mund zu Ohr, in solcher Weise, dass jedes Geschlecht sie empfinge, aber jedes in einer weiteren und reicheren Offenbarung und Ausdeutung, bis am Ende der Zeiten die restlose Wahrheit verkündet würde; doch werden wir ihre Einheit, ihre Besonderheit und ihre starke Bedingtheit durch die Art und das Schicksal des Volkes, aus dem sie heraufwuchs, anerkennen müssen. Die jüdische Mystik mag recht ungleichmäßig erscheinen, oft trübe, zuweilen kleinlich, wenn wir sie an Eckhart, an Plotinos, an Laotse messen; sie wird ihre Brüchigkeit nicht verbergen können, wenn man sie gar neben den Upanischaden betrachten wollte. Sie bleibt die wunderbare Blüte eines uralten Baumes, deren Farbe fast allzu grell, deren Duft fast allzu üppig wirkt, und die doch eines der wenigen Gewächse innerer Seelenweisheit und gesammelter Ekstase ist. Die mystische Anlage ist den Juden von Urzeiten her eigen, und ihre Äußerungen sind nicht, wie es gewöhnlich geschieht, als eine zeitweilig auftretende bewusste Reaktion gegen die Herrschaft der Verstandesordnung aufzufassen. Es ist eine bedeutsame Eigentümlichkeit des Juden, die sich in den Jahrtausenden kaum gewandelt zu haben scheint, dass sich die Extreme bei ihm aneinander entzünden, schneller und mächtiger, als bei irgend einem anderen Menschen. So geschieht es, dass mitten in einem unsäglich begrenzten Dasein, ja gerade aus seiner Begrenztheit heraus plötzlich mit einer Gewalt, die nichts zu bändigen versucht, das Schrankenlose hervorbricht und nun die widerstandslos hingegebene Seele regiert Für diese Macht des Unbegreiflichen in enger Stille mag uns die Gottesvision Elijahus ein Sinnbild sein.

Ein Anderes, Wesentlicheres kam hinzu. Wenn jede Seele sich ihre natürliche Substanz aus den kräftigen, wertbetonten Bildern formt, die sie mit ihren Sinnen aufgenommen und mit ihrem Gefühl gefaßt hat, so scheint die Seele des Juden dieser natürlichen Substanz arm zu sein. Unvergleichlich mehr motorisch als sensorisch veranlagt, reagiert er auch in seinem ganz innerlichen geistigen Leben sehr viel intensiver, als er empfängt. Er gestaltet das Empfangene mehr zu Wortgedanken, Begriffen, als zu Bildgedanken, Vorstellungen, aus. Den vom Subjekte unabhängigen Gegenständen unendlich fremd, nur für die den Funktionen des Subjektes unterworfenen Gegenstände verständnisvoll (sogar für Spinoza ist die Natur more geometrico darlegbar), existiert der Jude weniger in Substanz, als in Relation. Er hat den höchsten Sinn für die allgemeinen und offenbaren, wie für die heimlichen und besonderen Beziehungen des Kosmos und der Psyche und weiß sie in mathematischen Formeln und in logischen Definitionen festzulegen oder in Rhythmen und Melodien auf das Meer der Ewigkeit auszuschicken. Aber er hat einen geringen Sinn für die ganze Wirklichkeit eines Baumes, eines Vogels, eines Menschen, der für sich ein absolutes, unerschöpflich reiches, so geartetes Dasein einschließt. Und sehr selten vermag er schaffend Dinge, Gegenstände, Gestalten sichtbar, greifbar, fühlbar hinzustellen. Und so verläuft auch sein Leben selbst mehr in der Beziehung, als in dem Wesen: er opfert sich dem Nutzen hin, wenn er eine enge, er bringt sich einer Idee dar, wenn er eine weite Seele hat; niemals aber oder fast niemals lebt er mit den Dingen, sie geruhig pflegend und fördernd, liebreich zu der Welt und sicher in seinem Bestände. Es gibt jedoch ein Element, das all dies in gewisser Weise ersetzt, indem es der Seele des Juden einen Kern, eine Sicherheit, eine Substanz gibt, allerdings keine sensorische, objektive, sondern eine motorische, subjektive. Das ist das Pathos. Ich vermag es nicht zu analysieren, noch auch in eine Definition zu fassen. Es ist ein eingeborenes Eigentum, das sich einst mit allen anderen Qualitäten des Stammes aus dessen Orte und dessen Geschicken heraus gebildet hat. Will man es immerhin umschreiben, so darf man es vielleicht als das Wollen des Unmöglichen bezeichnen. Es streckt die Arme aus, das Schrankenlose zu umfangen. Es trägt eine schlechthin unerfüllbare Forderung, wie das Pathos Mose und der Propheten die Forderung der absoluten Gerechtigkeit, wie das Pathos Jesu und Pauli die Forderung der absoluten Liebe; oder eine schlechthin unerfüllbare Absicht, wie des Pathos Spinozas die Absicht, das Sein zu formulieren; oder ein schlechthin unerfüllbares Verlangen, wie das Pathos Philons und der Kabbala das Verlangen nach der Vermählung mit Gott, die im Sohar „Siwwug“ genannt wird. So wird die Seele, die in den wirklichen Dingen keinen Boden finden kann, von ihrer Leere und Unfruchtbarkeit erlöst, indem sie in dem Unmöglichen Wurzel schlägt.


Kommt demnach die Kraft der jüdischen Mystik aus einer ursprünglichen Eigenschaft des Volkes, das sie erzeugt hat, so hat sich ihr des weiteren auch das Schicksal dieses Volkes eingeprägt. Das Wandern und das Martyrium der Juden haben ihre Seelen immer wieder in die Schwingungen der letzten Verzweiflung versetzt, aus denen so leicht der Blitz der Ekstase erwacht. Zugleich aber haben sie sie gehindert, den reinen Ausdruck der Ekstase auszubauen, und sie verleitet. Notwendiges, Erlebtes mit Überflüssigem, Aufgeklaubtem durcheinanderzuwerfen, und in dem Gefühle, das Eigene vor Pein nicht sagen zu können, am Fremden geschwätzig zu werden. So sind Schriften wie der „Sohar“, das Buch des Glanzes, entstanden, die ein Entzücken und ein Abscheu sind. Mitten unter rohen Anthropomorphismen, die durch die allegorische Ausdeutung nicht erträglicher werden, mitten unter öden und farblosen Spekulationen, die in einer verdunkelten, gespreizten Sprache einherstelzen, leuchten wieder und wieder Blicke der verschwiegenen Seelentiefen und Offenbarungen der letzten Geheimnisse auf. Das Pathos erniedrigt sich oft genug zur Rhetorik; diesem Sündenfall waren die Juden von jeher ausgesetzt, und nicht immer bloß die mittelmäßigen. Aber immer wieder macht sich das Pathos frei und ist reiner und größer als zuvor. Am größten, wenn es die Gefahr erkennt, die ihm vom Worte droht. Sich mitteilend, weil es nicht anders kann, fühlt es doch die Unzulänglichkeit aller Mitteilung, fühlt die Unaussprechlichkeit des Erlebnisses, und glüht auf in Angst, von der eigenen Rede geschändet zu werden. „Komm und schau!“ heißt es im „Sohar“; „Denken ist der Anfang von allem, was ist; aber also seiend ist es in sich beschlossen und unbekannt . . . Das wirkliche Denken ist mit dem Nichts verbunden und löst sich nicht von ihm.“ Und als ein fremder Greis den Jüngern Simons ben Jochai, des legendären Urmeisters der Kabbala, die Unvergänglichkeit der Energie verkündet — „Nichts fällt ins Leere, auch nicht die Worte und die Stimme des Menschen; alles hat seinen Ort und seine Bestimmung“ — , da fahren sie vor ihm zurück, aber sie fürchten nicht für sich, sondern für ihn, der gesprochen hat; sie reden zu ihm : „O Greis, was hast du getan? Hätte es nicht besser getaugt, das Schweigen zu bewahren? Denn nun bist du davongetragen, ohne Segel und Mast, auf einem Ungeheuern Meer. Wenn du aufsteigen wolltest, könntest du es nicht mehr, und im Niedersinken findest du den Abgrund ohne Boden.“

In der Zeit des Talmuds war die mystische Lehre noch ein Geheimnis, das man nur einem „Meister in Künsten und kundig des Flüsterns“ anvertrauen durfte, und von den Essäern wissen wir aus Josephus, wie sorgsam sie das Mysterium behüteten und die geheimen Schriften, die ihnen als uralt galten. Erst später greift die Lehre über das Gebiet der Sekte und der persönlichen Übergabe hinaus. Die erste uns erhaltene Schrift, das pythagoreisierende „Buch der Schöpfung“, ist wahrscheinlich zwischen dem siebenten und dem neunten Jahrhundert entstanden, und der „Sohar“ stammt — jedenfalls in seiner jetzigen Redaktion — aus dem Ende des dreizehnten; zwischen beiden liegt die Zeit der eigentlichen Entwicklung der Kabbala. Aber noch lange bleibt die Beschäftigung mit ihr auf enge Kreise beschränkt, mochte sie sich auch über Frankreich, Spanien, Italien und Deutschland bis nach Ägypten und Palästina erstrecken. All die Zeit bleibt auch die Lehre selbst dem Leben fremd: sie ist Theorie im neoplatonischen Sinn, Gottschauen, und verlangt nichts von der Wirklichkeit menschlichen Daseins; sie fordert nicht, dass man ihr nachlebe, sie hat keine Fühlung mit dem Handeln, das Reich der Wahl, das der späteren jüdischen Mystik, dem Chassidismus, alles bedeutete, ist ihr nicht unmittelbar lebendig; sie ist außermenschlich und berührt sich nur in der Betrachtung der Ekstase mit der seelischen Realität. Sie steht zwei anderen Mächten im Judentum gegenüber, der harten, allem persönlichen Leben feindlichen, um das „Gesetz“ besorgten Strenggläubigkeit und dem von Aristoteles bestimmten, naturfernen Rationalismus, aber sie setzt dem Ethos der einen und dem des anderen kein eigenes entgegen, und so dringt ihr Sinn nicht ins Volk.

Erst in den letzten Zeiten dieser Epoche werden neue Kräfte offenbar. Die Vertreibung der Juden aus Spanien gab der Kabbala den großen messianischen Zug. Der einzige energische Versuch der Diaspora, im Exil eine kulturschaffende Gemeinschaft und eine Heimat im Geiste zu begründen, hatte in Trümmern und Verzweiflung geendet. Der alte Abgrund tat sich wieder auf, und aus ihm stieg wieder, wie immer, der alte Erlösungstraum empor, ragend und gebieterisch wie nie zuvor seit den Tagen der Römer. Die Sehnsucht brennt: das Absolute muss Wirklichkeit werden. Auch der Messianismus der Juden war von jeher ein Wollen des Unmöglichen. Die Kabbala konnte sich ihm nicht verschließen. Sie nannte das Reich Gottes auf Erden „die Welt der Vollendung“. Sie nahm die Inbrunst des Volkes in sich auf. Und als sie es tat, zog sie im Volke ein, wie der Messias selbst in seiner Stadt.

Die um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts beginnende neue Ära der jüdischen Mystik, die den ethisch-ekstatischen Akt des Einzelnen als Mitschaffen an der Erlösung verkündet, wird durch Isaak Lurja eröffnet. Er, der hundert Jahre vor Locke lehrte, alles Seiende bestehe aus Substanz und Erscheinung und es sei keine objektive Erkenntnis gegeben, war in seinen Gedanken über die Emanation der Welt aus Gott und die demiurgischen Zwischenpotenzen fast durchaus von der älteren Kabbala abhängig; aber in seiner Darstellung der unmittelbaren Wirkung der Menschenseele, die sich läutert und vollendet, auf Gott und Welterlösung gibt er den alten Weisheiten eine neue Gestalt und eine neue Folge.

Schon im Talmud heißt es, der Messias werde kommen, wenn alle Seelen in das leibliche Leben eingetreten sein würden. Die Kabbalisten des Mittelalters glaubten zu erkennen, ob die Seele eines Menschen, der vor ihnen stand, aus der Welt des Ungeborenen in ihn niedergestiegen oder mitten in ihrer Wanderung bei ihm eingekehrt sei. Der Sohar und die spätere Kabbala bauten die Lehre aus, die wir bei Lurja endgültig gefasst finden. Es gibt danach zwei Formen der Metempsychose: den Kreisgang oder die Wanderung, Gilgul, und den Überschwung oder die Schwängerung, Ibbur. Gilgul ist das Eintreten von Seelen, die auf der Fahrt sind, in einen Menschen im Augenblicke seiner Zeugung oder Geburt. Aber auch ein bereits mit einer Seele begabter Mensch kann in irgend einem Moment seines Lebens eine oder mehrere Seelen empfangen, die sich mit seiner vereinigen, wenn sie mit ihr verwandt, das heißt, aus derselben Ausstrahlung des Urmenschen entstanden sind. Die Seele eines Toten verbindet sich der eines Lebenden, um ein unvollendetes Werk, das sie im Sterben lassen musste, vollbringen zu können. Ein hoher abgeschiedener Geist steigt in ganzer Lichtfülle oder in einzelnen Strahlen zu einem unfertigen hinab, um bei ihm zu wohnen und ihm zur Vollendung beizustehen. So wird Prophetie geboren. Oder zwei unvollkommene Seelen vereinigen sich, um einander zu ergänzen und zu läutern. Kommt über eine dieser Seelen Schwäche und Hilflosigkeit, dann wird die andere ihre Mutter, trägt sie in ihrem Schöße und nährt sie mit dem eigenen Wesen. Auf allen diesen Wegen vollzieht sich die Reinigung der Seelen von der Urtrübung und die Erlösung der Welt aus der ersten Verwirrung. Ist dieses getan, haben alle die Wegreise vollzogen, dann erst zerbricht die Zeit, und das Gottesreich hebt an. Als letzte steigt die Seele des Messias ins Leben herab. Durch ihn geschieht die Vergöttlichung der Welt.

Lurjas eigentümliche Tat ist, dass er diesen Weltprozess auf die Haltung einiger Menschen stellen wollte. Er verkündete, eine unbedingte Lebensführung derer, die sich der Erlösung weihen, in Tauchbädern und Nachtwachen, in ekstatischer Betrachtung und absoluter Liebe gegen alles und alle, würde die Seelen gleichsam in einem Sturme läutern und das messianische Reich herbeirufen.

Das Grundgefühl, dessen ideelle Äußerung diese Lehre war, fand nahezu hundert Jahre später seinen elementaren Ausdruck in der großen messianischen Bewegung, die den Namen Sabbatai Zewis trägt. Sie war eine Entladung der unbekannten Volkskräfte und eine Offenbarung der verborgenen Wirklichkeit der Volksseele. Die scheinbar unmittelbaren Werte, das heile Leben und der Besitz, waren plötzlich schal und nichtswürdig geworden, und die Menge vermochte es, diesen zu verlassen wie ein überflüssiges Gerät und jenes nur noch mit leichter Hand zu halten wie ein Gewand, das dem Laufenden entgleitet und das er, wenn es ihn allzusehr hemmt, die Finger öffnend fahren lässt, um nackt und frei das Ziel zu ereilen. Der vermeintlich von der Vernunft regierte Stamm entbrannte im Eifer um die Botschaft.

Auch diese Erhebung brach zusammen, jämmerlicher und entsetzlicher zugleich als irgend eine der früheren. Und nun verinnerlicht sich der Messianismus wieder. Das eigentliche Zeitalter der Mortifikation beginnt. Der Glaube, durch mystische Übung die oberen Welten zwingen zu können, dringt immer tiefer ins Volk ein. Um das Jahr 1700 vollzieht sich jener asketische Zug der Fünfzehnhundert in das heilige Land, der in Tod und Elend aufgeht. Aber auch Einzelne bereiten sich in rücksichtsloser Entäußerung. In Polen namentlich reift in vielen der Wille, sich und die Welt zu entsühnen. Manche von ihnen ziehen, da keine einzelne Kasteiung ihnen genugtun kann, auf die Wanderung, „in die Verbannung“, wie sie es nennen, nehmen nirgends Speise oder Trank an, und wandern so, von ihrem Willen getragen, bis mit ihrer Kraft auch ihr Leben erlischt und sie auf fremdem Orte unter Fremden tot hinfallen.

Diese Märtyrer des Willens sind die Vorläufer der letzten und höchsten Entwicklung der jüdischen Mystik, des um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenen Chassidismus, der sie zugleich fortsetzte und widerlegte. Der Chassidismus ist die Ethos gewordene Kabbala. Aber das Leben, das er lehrt, ist nicht Askese, sondern Freude in Gott. Chassid bedeutet: der Fromme; aber der Chassidismus ist kein Pietismus. Er entbehrt aller Sentimentalität und Gefühlsostentation. Er nimmt das Jenseits ins Diesseits herüber und lässt es in ihm walten und es formen, wie die Seele den Körper formt. Sein Kern ist eine höchst gotterfüllte und höchst realistische Anleitung zur Ekstase, als zu dem Sinn und dem Gipfel des Daseins. Aber die Ekstase ist hier nicht, wie etwa bei der deutschen Mystik, ein „Entwerden“ der Seele, sondern deren Entfaltung; nicht die sich beschränkende und entäußernde, sondern die sich vollendende Seele mündet in das Absolute. In der Askese schrumpft das geistige Wesen, die Neschama, zusammen, sie erschlafft, wird leer und trübe; nur in der Freude kann sie wachsen und sich erfüllen, bis sie, alles Mangels ledig, zum Göttlichen heranreift Niemals hat eine Lehre das Gottfinden mit einer solchen Kraft und in einer solchen Reinheit auf das Selbstsein gestellt.

Wieder war es Polen, das sich schöpferisch erwies, und vor allem die steppenreiche Ebene der Ukraine. Polen hatte eine feste, durch die fremde, verachtende Umwelt in sich gestärkte jüdische Gemeinschaft, und zum erstenmal seit der spanischen Blüte entwickelte sich hier ein eigenes Leben in Werken und Werten, eine dürftige und gebrechliche aber selbständige Kultur. Waren so die Voraussetzungen für geistiges Wirken überhaupt gegeben, so konnte eine mystische Lehre doch nur auf dem Boden der Ukraine emporwachsen. Hier herrschte seit den kosakischen Judenmetzeleien unter Chmielnicki ein ähnlicher Zustand der tiefsten Unsicherheit und Verzweiflung, wie jener, der einst nach der Vertreibung aus Spanien die Kabbala verjüngte. Und dann war der Jude hier nicht, wie in den übrigen polnischen Ländern, ein Städter, der in dem engen rabbinischen Studium vertrocknete oder in der Atmosphäre der geschäftigen Masse verflachte, sondern zumeist ein Dörfler, einsamer und sich selbst näher, begrenzt im Wissen, aber ursprünglich im Glauben und stark in seinem Traume von Gott.

Der Begründer des Chassidismus war Israel aus Miedzyborz, der „Baal schem“, das ist Meister des wunderwirkenden Gottesnamens, genannt wurde. Um ihn und seine Jünger spann sich eine farbenreiche und innige Legende. Er war ein schlichter, wahrhaftiger Mann, unerschöpflich an Inbrunst und lenkender Gewalt.

Die Lehre des Baalschem ist uns sehr unvollkommen erhalten. Er selbst schrieb sie nicht nieder; und auch mündlich teilte er, wie er einmal sagte, nur das mit, was ihn wie ein allzu volles Gefäß überquellen machte. Unter seinen Schülern scheint er keinen als würdig erfunden zu haben, seinen Gedanken restlos aufzunehmen; ein Gebet von ihm wird überliefert: „Herr, dir ist bewusst und offenbar, wie vieles in mir an Erkennen und Vermögen ruht, und da ist kein Mensch, dem ich es kundtun könnte.“ Von dem aber, was er lehrte, scheint das meiste ganz unzulänglich niedergeschrieben worden zu sein, oft gänzlich entstellt. Beim Durchblicken einer solchen Niederschrift soll er einmal ausgerufen haben: „Hier ist nicht ein Wort, das ich gesagt hätte.“

Dennoch ist der wirkliche Sinn seiner Grundlehren unverkennbar.

Gott, so lehrt der Baalschem, ist das Wesen jedes Dinges. Wer, ungeblendet vom Scheine, in das Wesen der Dinge schaut, der schaut Gott. Gott spricht nicht aus den Dingen, sondern er denkt in den Dingen; und so kann er nur mit der innersten Kraft der Seele empfangen werden. Ist diese Kraft freigemacht, dann ist es dem Menschen an jedem Orte und zu jeder Zeit gegeben, sich mit Gott zu vereinigen. Jede Handlung, die in sich geweiht ist, mag sie noch so niedrig und sinnlos erscheinen dem von außen Herankommenden, ist der Weg zum Herzen der Welt. In allen Dingen, auch in den scheinbar völlig toten, wohnen Funken des Lebens, die in die bereite Seele fallen. Was wir das Böse nennen, ist kein Wesen, sondern ein Mangel; es ist „Gottes Exil“, die unterste Stufe des Guten, der Thron des Guten; es ist — in der Sprache der alten Kabbala — die „Schale“, die das Wesen der Dinge umgibt und verhüllt.

Es gibt kein Ding, das böse und der Liebe unwürdig wäre. Auch die Triebe des Menschen sind nicht böse; „je größer ein Mensch, desto größer ist sein Trieb“; aber der Reine und Geheiligte macht aus seinem Triebe „einen Wagen für Gott“, er löst ihn von aller Schale ab und lässt seine Seele sich daran vollenden. Der Mensch soll seine Triebe in ihren Tiefen fühlen und sie besitzen. „Er soll den Stolz lernen und nicht stolz sein, den Zorn kennen und nicht zürnen. Der Mensch vermag sich mit allen Wonnen zu kasteien. Er vermag zu blicken nach welchem Orte er will und sich nicht über seine vier Ellen hinaus zu verlieren; Worten des Scherzes zu lauschen und sich zu betrüben. Und so geschieht es, dass er hier sitzt und sein Herz ist oben, er isst und vergnügt sich in dieser Welt und genießt aus der Welt der geistigen Seligkeit.“ Das Schicksal des Menschen ist nur der Ausdruck seiner Seele: wessen Gedanken an unreinen Dingen umherstreifen, erlebt Unreines, wer sich ins Heilige versenkt, erfährt das Heil. Des Menschen Denken ist sein Sein: wer an die obere Welt denkt, ist in ihr. Alles äußere Gesetz ist nur ein Aufstieg zum inneren; der letzte Zweck des Einzelnen ist, selbst ein Gesetz zu werden. In Wahrheit ist die obere Welt kein Außen, sondern ein Innen; es ist „die Welt des Gedankens“.

Ist demnach das Leben des Menschen in jedem Punkte und in jeder Tätigkeit dem Absoluten geöffnet, so soll er es auch in Weihe leben. Jeder Morgen ist eine neue Berufung. „Er erhebe sich eilend und in Eifer von seinem Schlafe, denn er ist geheiligt und ein anderer Mensch worden und ist würdig zu erzeugen und ist wie Gott, der die Welten erzeugt.“ Auf allen Wegen findet der Mensch Gott, und alle Wege sind voll der Einung. Aber der reinste und vollkommene ist der Weg des Gebetes. Wer in seinem Feuer betet, in dessen Kehle redet Gott selbst das innere Wort. Dieses ist das Erlebnis; das äußere Wort ist nur sein Gewand. „Wie von brennenden Hölzern der Rauch emporsteigt, aber die schweren Teile am Boden haften und zu Asche werden, so steigt vom Gebete nur der Wille und die Inbrunst empor, aber die äußeren Worte zerfallen zu Asche.“ Je höher die Inbrunst, je gewaltiger die Intentionskraft, Kawwana, desto unbedingter ist die Vereinigung. „Es ist eine große Gnade von Gott, dass der Mensch nach dem Gebete am Leben bleibt, denn nach der Natur müsste er sterben, weil er seine Kraft begraben und in sein Gebet eingetan hat, wegen der Kawwana, die er hegt ... Er denke vor dem Gebete, dass er bereit ist zu sterben um der Kawwana willen.“ Aber das Gebet soll nicht in Pein und Buße, sondern in großer Freude geschehen. Freude allein ist wahrhafter Gottesdienst.

Die Lehre des Baalschem fand bald Eingang im Volke, das ihrer Idee nicht gewachsen war, aber ihr Gottesgefühl mitschwingend empfing. Die Frömmigkeit dieses Volkes hatte von jeher einen Hang zum mystisch Unmittelbaren; sie nahm die neue Botschaft auf wie einen erhobenen Ausdruck ihrer selbst. Die Verkündigung der Freude in Gott wirkte nach einem Jahrtausend freudenbarer, freudenfeindlicher Gesetzesherrschaft wie eine Befreiung. Dazu kam, dass das Volk sich bisher einer durchaus unfruchtbaren, wirklichkeitsfremden, tatenlosen, aber nie angezweifelten „geistigen Aristokratie“ von Talmudgelehrten gegenüber gesehen hatte. Nun wurde es mit einem Schlage von diesem Gegensatz erlöst und auf den eigenen Wert gestellt. Nun wurde ihm gesagt, nicht das Wissen entscheide über den Rang eines Menschen, sondern die Reinheit und Weihe seiner Seele, das ist: seine Gottnähe. Die neue Lehre kam wie eine Offenbarung dessen, was man bisher nicht zu ahnen wagte. Sie wurde wie eine Offenbarung aufgenommen.

Natürlich sagte die Orthodoxie der neuen Ketzerei, der Chassidut, den Krieg an und führte ihn mit allen Mitteln, Bannspruch, Synagogenschließung und Bücherverbrennung, Gefangennahme und öffentlicher Misshandlung der Führer, schrak auch vor Denunziationen an die Regierung nicht zurück. Dennoch konnte hier der Ausgang des Kampfes nicht zweifelhaft sein: die religiöse Starrheit konnte der religiösen Erneuerung nicht standhalten. Ein gefährlicherer Gegner erstand dieser später in der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, die im Namen des Wissens, der Zivilisation und Europas gegen den „Aberglauben“ auftrat. Aber auch sie, die die Gottessehnsucht des Volkes widerlegen wollte, hätte der Bewegung, die diese Sehnsucht stillte, nicht ein Fußbreit Bodens abzuringen vermocht, wenn nicht im Chassidismus selbst eine Zersetzung begonnen hätte, die ihn zu der Entartung brachte, in die er heute versenkt ist. Ihre erste Ursache bestand darin, dass der Chassidismus auch nach außenhin eine Forderung des Unmöglichen war: dass er vom Volke eine seelische Intensität und Sammlung verlangte, die es nicht besaß. Er gab ihm die Erlösung, aber um einen Preis, den es nicht zahlen konnte. Als die Brücke zu Gott wies er eine Reinheit und Geklärtheit des Blickes, eine Spannung und Konzentration des geistigen Lebens, deren immer nur wenige fähig sind; er aber sprach zu vielen. Und so entstand aus der Seelennot des Volkes eine Institution von Mittlern, welche Zaddikim, das ist Gerechte, genannt wurden. Die Theorie des Mittlers, der in beiden Welten lebt und das Bindeglied zwischen ihnen ist, durch den das Gebet emporgetragen und der Segen herabgebracht wird, entwickelte sich immer üppiger und überwucherte zuletzt alle andere Lehre. Der Zaddik machte die chassidische Gemeinde reicher an Gottessicherheit, aber unendlich ärmer an dem einzig Wertvollen: dem eigenen Suchen und Eifern. Dazu kam der wachsende äußere Missbrauch. Zuerst wurden nur wirklich Würdige, meist Schüler und Schülers-Schüler des Baalschem, zu Zaddikim erhoben. Aber weil der Zaddik von seiner Gemeinde reichlichen Lebensunterhalt bekam, um sich ganz seinem Dienste ergeben zu können, drängten sich bald niedrige Menschen zur Pfründe, und weil sie nichts anderes bieten konnten, verschafften sie sich durch allerlei Wundertuerei ein Anrecht. Allmählich entstanden richtige Dynastien von Zaddikim. Mochte deren Prachtliebe auch zuweilen der Größe nicht ermangeln, so riss doch gleichzeitig eine Gaukelei und Heuchelei ein, die die Reineren abstieß, die Bestimmbaren erniedrigte und die dunkelste Menge herbeizog. So artete der Chassidismus zuletzt in wüstes Sektenwesen aus.
Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Geschichten des Rabbi Nachman