Die Geißelfahrer

Aus: Das Buch für Alle. Illustrierte Familienschrift. Zeitbilder. Heft 1. 1921
Themenbereiche
Enthaltene Themen: Mittelalter, Religion, Irrungen, Wirrungen, Rittertum, Juden, Judenhass, Bürgerschaft, Fürsten, Welthandel, Kreuzzüge, Orient, Gewerbe, Reichtum, Armut, Kirchen, Klöster, Papst, Kaisertum
Die Geißelfahrer. — Irrungen und Wirrungen, unaufhörliches, aber auch ungeklärtes, revolutionäres Drängen nach neuer machtvoller Lebensentfaltung und neuen, Sicherheit verbürgenden Rechtsordnungen charakterisieren das vierzehnte Jahrhundert als Übergangsperiode. Weit zurück lagen die Einheitlichkeit und jugendliche Kraft des frühen Mittelalters, seit der Glanz der Staufenherrlichkeit in bittersten Enttäuschungen erloschen war und die schreckliche, die kaiserlose Zeit des Interregnums unheilvoll nachwirkte. Alte Ideale lagen wie im Stich gelassene Banner im Staub, und für die neuen, mehr nur dunkel geahnten als klar erfassten, fehlten die großen wegweisenden Führerpersönlichkeiten.

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Das Rittertum verübte rohe Gewalttätigkeiten, Kirche und Klöster waren vielfach entartet. Eifersucht und eigensüchtiges Machtbegehren hetzten die Fürsten gegeneinander und schwächten das Kaisertum, das sich nur zur Not gegen Übergriffe der in Avignon unter französischen: Einfluss stehenden Päpste behaupten konnte. Zwischen der Bürgerschaft und dem Adel, geistlicher und weltlicher Macht loderten unaufhörliche Fehden, und in den übervölkerten engen Städten taten sich früher in solcher Schroffheit nicht gekannte soziale Gegensätze auf. Seit nach den Kreuzzügen der Welthandel mit dem Orient sich entwickelte und Gewerbe aufblühten, wuchs der Reichtum und schieden sich Armut und gedrückte Abhängigkeit.

Alle Gruppen suchten sich in Bünden zusammenzuschließen, um ihre Rechte zu wahren, Unrecht zu steuern, aber trotz alledem blieben der „Landfrieden“ und die gedeihliche Entwicklung der Gilden und Zünfte bedroht. Verfall und Aufbau rangen miteinander. In dieser drückenden Unsicherheit und Ungeklärtheit wirkten Katastrophen, Erdbeben und Seuchen, wie sie zu anderen Zeiten auch vorgekommen sind, viel aufregender, verwirrend und erschütternd.

Nachrichten von einem großen Erdbeben im südöstlichen Alpengebiet im Januar 1348, von Überschwemmungen und Erscheinungen von Kometen und Feuerzeichen am Himmel wurden maßlos übertrieben und als Anzeichen furchtbarer Geschicke, drohenden Weltunterganges gedeutet. Zunächst wandte sich die erregte Masse gegen die Juden und warf ihnen vor, Brunnen vergiftet und Seuchen gefördert zu haben, während der wirkliche Grund des Unwillens der Arger war über die zunehmende Verschuldung an diese aus dem Warenhandel verdrängten, Geldgeschäfte treibenden Israeliten. Als im gleichen Jahr die Kunde kam von einer verheerenden Pestilenz, die von der Gegend am Schwarzen Meer kommend sich über ganz Südeuropa ausbreite und die blühendsten Städte entvölkere, da verwirrte die Angst vor dem angeblich unentrinnbaren Verderben, dem „schwarzen Tod“, die Gemüter bis zum Wahnsinn.

In Schwaben und Franken, am Rhein und in der Schweiz, aber auch in Mittel- und Norddeutschland rauchten die Städte von Judenbränden, trieb man die Misthandlungen und Abschlachtung der vermeintlich am Unheil Schuldigen mit unmenschlicher Rohheit. Die Verwilderung der Sitten wurde so groß, dass sich die einen in taumelnden Sinnengenuss stürzten, um wenigstens die knappe Spanne Leben, ehe der schwarze Tod auch sie erwürgte, auszukosten, und die anderen trieb die Verzweiflung in abergläubische Seelenpein. Dass die Seuche nur deshalb so überhandnehmen konnte, weil die Bevölkerung in den engen Städten zu dicht zusammengepfercht war, die krummen und schmalen Straßen von Unrat starrten, daran dachte niemand, und keiner erhob Einspruch dagegen, dass die zahllosen Leichen inmitten der Stadt beerdigt wurden.

Da trat plötzlich und merkwürdigerweise mit einem Mal fast über ganz Deutschland verbreitet eine seltsame religiöse Sekte auf, die zu Hunderten und Tausenden in langen Prozessionen die Städte durchzog. In Büßerkutten oder nur mit einem Hemd bekleidet, schwere Kreuze schleppend, plärrten sie ihre Trauergesänge durch die Straßen und geißelten sich bis aufs Blut, weil nur diese selbstvollstreckte Strafe vor dem Zorn Gottes und elendem Verderben retten könne. Mit Scheu und Bewunderung blickte das Volk auf die schwärmerischen Büßer. Schauerlich klang ihr wehklagender Psalm: „Nu schlaget euch sehr zu Christi Ehre! Um Gottes willen lasset die Sünde fürder!“ Kerzen und Fahnen von Samt und Goldstoff wurden ihnen vorangetragen, mit allen Glocken wurde geläutet und alle Türen den frommen Bußpredigern aufgetan. Bald zeigte sich jedoch, dass nicht nur wirkliche Reue und Trauer über die eigene Sünde die treibenden Motive waren, sondern vielfach Erbitterung über Missbrauch priesterlicher Macht, Widerspruch gegen die Sakramentslehren und gegen die Duldung schreiender Miststände. So plötzlich, wie der Flagellantismus aufgetreten, so verschwand er — vielfach noch ehe die Pestkrankheit in den betreffenden Städten Opfer gefordert hatte, als sich zeigte, dass auch unreine erotische Empfindungen sich einmischten und die Frauen daran teilnahmen.

Eine päpstliche Bulle verbot im Oktober 1349 die Geißelfahrten, und geistliche und weltliche Obrigkeit machten mit Strenge dem Unwesen ein Ende. Nur aus der Verworrenheit dieses in Dumpfheit und ständiger Unsicherheit, im Bann ungesunder Hemmungen und anderseits ungebärdiger Ausschreitungen lebenden Geschlechtes sind die Irrungen jener Übergangszeit begreiflich. Bei solcher Schwäche wurde der Zwang des Nachahmungstriebes Herr der Massen und verdunkelte Tausenden den Sinn in schrecklichem Wahn wie dem der Geißelfahrten.

Die Geißelfahrer

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