Abschnitt. 1

Ich fand ihn – nämlich den Magister – sänftiglich schlafend. Mit dem Kopfe lag er auf dem Boëthio und schnarchte. Er schien die trefflichsten Tröstungen aus dem trefflichen Opus des fürtrefflichen Geheimenrates des Königs Theodorich hervorgezogen und sie sogleich nützlich auf den konkreten Fall angewendet zu haben. Er schnarchte sehr und orgelte durch alle Tonarten.
Dafür fuhr er aber auch um so hasenhafter in die Höhe, als ich ihm die Hand auf die Schulter legte.

„Wa – was?... ah, es ist der Herr Kollega; den Göttern sei Dank, ich träumte soeben von etwas ganz anderm.“


„Das will ich Ihm auf Sein Wort und Seine verstörte Miene hin glauben; doch jetzo rapple Er sich auf, ich bringe Ihm ganz passable Nachrichten aus der Welt der Lebendigen. Pro primo, Er hat Seinen Willen bekommen, Bützow befindet sich im vollständigen Aufruhr –“

„O Castor und Pollux!“ jammerte der Magister.

„Pro secundo, heute abend noch rücken die Schweriner Husaren ein und nehmen alle Anstifter und Rädelsführer der grausamen Gänserevolte am Kragen und –“

„Ach, du liebster Herr Jesus! Herr Kollega! Herr Kollega!“

„Und pro tertio hat Er, Magister Albus, als ein harmloses, verführtes und behornborsteltes Individuum und genialisches Schulmeisterlein zu machen, daß Er über die Grenze und zum Freund Nicolai in Berlin komme. Mit Mecklenburg, Bützow und Umgegend ist’s aus; die heilige Inquisition zu Schwerin würde ihm heillos den Marsch trommeln; und so wollen wir denn, verehrtester Herr Kollege, für Fuhrgelegenheit und die notwendige Reise-Equipierung sorgen. Für Sacharissa wird aber wohl kein Platz in der Chaise sein!“

Der Magister schauderte zusammen, drückte mir die Hand und wandte sich stumm ab. Ich erzählte ihm sodann in ausführlicherer Weise von dem, was ich beim Bürgermeister gehört, gesprochen und gesehen hatte; und das physiognomische Schauspiel, welches mir der Exkollaborator dabei zum besten gab, hätte selbst einen Lavater perplex machen können. Er hüpfte, er drehte und wendete sich auf seinem Stuhl, daß es ein Gaudium war, es anzusehen; zuletzt fiel er mir nochmals dankbarlichst um den Hals, und ich – wagte es jetzo, Johanna, die „altehrwürdige Pflegerin“, in das Hinterstübchen zu zitieren, sie mit dem geheimnisvollen Gaste bekannt zu machen und sie auf Konrad Geßners Bibliotheca universale schwören zu lassen, das erschreckliche Geheimnis zu bewahren. Mit großem Geschrei und recht kuriosen Gesticulationes schwor sie; ich traute ihr darum aber doch nicht über den Weg und nur bis zur Grenze meiner gynäkologischen Erfahrungen und behielt sie scharf im Auge. Sie hielt viele mit allerlei Interjektionen durchwebte Selbstgespräche sowohl in der Küche als auch auf der Treppe und hatte ein arges Wesen mit Kopfschütteln und Achselzucken; sie versalzte uns die Suppe und ließ den Braten anbrennen; alle Augenblicke horchte sie nach den Fenstern oder lief zur Haustür; – glücklicherweise trug ich den Schlüssel zu letzterer in der Hosentasche und gab ihn nicht heraus. Gegen drei Uhr holte ich persönlich den Kommentar des Diogenes Laërtius, sowie einige notwendige Kleidungsstücke, darunter das letzte reine Hemd des Magisters, und bestellte das Fuhrwerk, welches den Rebellen dem rächenden Arme herzoglicher Justiz-Canzeley entführen sollte, an die Hinterpforte meines Hausgartens. Gegen vier Uhr führte ich den in meinen Mantel gehüllten Kollegen zur wartenden Karrete, und nimmer hat eine zu entführende schmachtende Amorosa zitternder an dem Arme ihres Seladons gehangen als der Magister an dem meinigen.

„Nehme Er den Passagier ja recht gut in acht, Krischan“, sprach ich zu dem Rosselenker, „Er weiß, was ich Ihm versprochen habe.“

Und Krischan wußte es, er blinzelte mit den Augen schlau mich an; – der Magister schluchzte zum letztenmal an meinem linken Schulterblatt.

„Allons, Courage, Kollege!“ rief ich. „Hat Er den Boëthius? Hat er die Geneverflasche?!“
„Alles, alles!“ wimmerte der Exkollaborator.

„Na, denn steige Er ein und bestelle Er meine schönsten Komplimente an Herrn Nicolai. Wenn ich Ihm dafür noch etwas bei der Mamsell Hornborstel ausrichten kann, so bin ich Sein gehorsamster Serviteur.“

Kopfüber, mit einem krampfhaften Aufschnellen und Losreißen, stürzte sich der Magister Albus in die wackelnde Kutsche. Krischan peitschte auf die Gäule, mit Gerumpel setzte sich das Fuhrwerk in Bewegung und polterte um die Ecke der Gartenmauer –

Lösch, o Jüngling mit der Trauermiene,
Meine Fackel weinend aus;
Wie der Vorhang an der Trauerbühne
Niederrauschet bei der schönsten Szene,
Fliehn die Schatten – und noch schweigend horcht das Haus! –

Ich horchte, bis der letzte dumpfe Ton des rollenden Kastens in der Ferne verlorengegangen war; dann erweckte mich aus der Melancholei ein anderer Ton, ein anderes Geräusch.

Der Demos von Bützow stürmte Grävedünkels Behausung und den Pfandstall! Ich schlich, natürlich auf Seitenwegen, zurück zum Bürgermeister! –

Da ich jetzt den unglückseligen Magister von der Seele los war, so konnte ich mit Heiterkeit und Behagen dem Developpement der Dinge zusehen. Aber nur mit dem Pinsel Michelangelos in der Hand wäre ich dem Dinge gewachsen. Nur mit dem Griffel des alten Homeros könnte ich diesen Kampf der Götter und Menschen würdig ausmalen.

Wer warf den ersten Stein auf die Grävedünkelschen Fensterscheiben? Wer holte die erste zappelnde, gigackende Gans aus dem vergitterten Gefängnis?
Der Herr Justizrat von Raven, welcher später die Verteidigung der Inkulpaten übernahm, und die hochlöbliche herzogliche Justizkanzlei zu Schwerin haben es ebensowenig erfahren können wie ich, J. W. Eyring, Historiographus Buetzoviensis.

Was half es, daß Grävedünkel auf die Ordre löblicher Bürgermeisterei wie ein Held kämpfte? Er bekam fürchterliche Prügel und salvierte sich und den Seinigen nur mit Mühe und Not das nackte Leben.

Schon der Chänoboskos, der Gänsehirt, allein war eine Gestalt, wert, den kommenden Jahrhunderten in Erz gegossen aufbewahret zu werden, und vom Meister Scherpelz mochte es wirklich heißen: Quis Herculem vituperet? Gewaltig waren die Gevattern Martens und Haase, Schmidt und Holzrichter, Compeer, Jakobs, Harnisch, Narbe, Zimmermeister Ebel und Zebell, Hoyer und Rhode, aber auch ihrer Weiber Mut und Tapferkeit war nicht gering zu schätzen.

Bis in den tiefsten Keller der Stadtkämmerei drang das Geschrei des Volkes und jagte dem Kämmereiberechner Bröcker, der daselbst hockte, immer erneuete Schauer des Todes durch das zitternde Gebein. In seinem Kämmerlein saß der Pastor Primarius Klafautius; in Bangen und Beben sang er im Innersten seiner Seele: „Wenn mein Stündlein vorhanden ist“ – und bekam zu weiterm Trost von der Primaria gar spitzige, anzügliche Redensarten zu hören. In Todesängsten schwebte ein ganzer wohlweiser Magistrat, und einzig und allein mein biederer Freund und Gönner, der Herr Bürgermeister Dr. Hane, war nur wütend. Wenn der Kämmereiberechner im tiefsten Keller kauerte, so traf ich den Bürgermeister hoch oben auf dem Hausboden; da sah er furiose auf die Schweriner Landstraße durch den beginnenden Schneefall, ohne Zeit für mich übrig zu haben.

Wie ein Fanal leuchtete sein apoplektisch-rotes Gesicht aus der Luke, und der Herr Leutnant von Schlappupp hätte es recht gut als ein solches nehmen können, wenn er mit seinem Unteroffizier, seinem Trompeter und seinen acht Husaren vom Wege abgekommen wäre.

Aber der reisige Zug und der Herr Leutnant hielten noch eine halbe Stunde von Bützow vor einer Schenke, um sich für die großen und gefährlichen Taten, welche sie zu vollbringen hatten, durch eine Herzstärkung tüchtiger zu machen. So oft auch der Bürgermeister zu seiner Klappe lief und die Nase in den schneidenden Wind und das Schneegestöber hinaussteckte, er sah und hörte nichts von der sehnlichst erwarteten Hülfe.

„O Himmel, wenn sie mich in der Bredouille stecken ließen!“ stöhnte der Dirigens, auf einer alten Kiste sitzend. „Niederträchtig wäre es, miserabel wäre es! Höre einer, wie sie brüllen – Bröckern hängen sie ganz gewiß auf!... o, die verfluchten, die verfluchten Gänse; das soll ja einem den Geschmack und Gout an ihnen für alle Ewigkeiten verderben! Sie lassen mich stecken, Rektore, sie lassen mich stecken, sie lassen mich in der Patsche sitzen. Sie haben zwölf Stück in der Schachtel, aber sie sind zu blank und zu teuer und können ‘nen Ritt durch den Schnee nicht vertragen. Sie lassen sie nicht heraus – kein Gedanke dran. Herr Gott, ich wollte, ich hinge auch schon am Strick und baumelte ruhig herab; da hätte ich zum ersten Male Ruhe in meinem Leben. O Bützow, Bützow, wer hätte das von dir gedacht!“

Wieder sah der Bürgermeister durch die Luke; aber es war nunmehr so dunkel, daß er mit einem heftigen Wurf die Klappe schloß und einen Fluch ejakulierte, vor welchem die Ratten und Mäuse in ihre Schlupflöcher zurückfuhren, vor welchem der Staub aufwirbelte und der Kalk von der Decke fiel.
In demselben Moment erklang ein winselnder Ruf: „Herr Burgemeister, Herr Burgemeister, man verlangt nach Ihm!“ aus den niedriger gelegenen Räumen des Hauses, und ächzend stieg der Konsul auf mich gestützt hernieder.

Auf der Flur des Hauses stand inmitten der angstvoll zusammengedrängten Hausdienerschaft stramm, strack und frech die Jungfer Scherpelzin, setzte dem Vater der Stadt einen höhnischen Knicks hin und sprach:

„Herr Burgemeister, meine Herrschaft, die Mamsell Hornborstel, schicket mich mit einem Kumpliment und läßt höflich fragen, wie lange der Spektakul noch dauere und ob Er gar nichts darzu und dargegen tun wolle? Und wenn Er nur seine Lust an die Ängsten und Krämpfe von die unbeschützte Jungfrauen und Wöchnerinnen hat, so soll Er’s nur sagen, und meine Mamsell und die Mamsell Tütge und die Mamsell Kottelmann wollen eine Eingabe an der Regierung machen von wegen die Gänse und die Angst und Not und wollen um ein allergnädigstes Einsehen bitten und Ihn mitsamt Seinem hochlöblichen Magistrat als einen Schwachmatikus und Hasenfuß dem durchlauchtigen Herzoge vor die Nase hinstellen. Guten Abend!“

„Halte Er mich, Pabst“, sprach der Bürgermeister mit ersterbender Stimme zu seinem zweiten Liktoren, „Rektore, jetzt falle ich in Ohnmacht.“

In diesem Augenblick blus der Trompeter, dem Herrn Leutnant von Schlappupp und seinen acht Husaren voran, in Bützow herein, und fünf Minuten später hatte sich die Stille des Grabes über die Stadt geleget. Sämtliche Posaunisten der himmlischen Heerscharen hätten keinen größern Effekt hervorbringen können.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage