Abschnitt. 1

Sämtliche Pfeifen der Gesellschaft waren erloschen. Man atmete tief und schwer. Erregte Mienen, verstörte Blicke begegneten dem kühleren Beobachter, wohin sein Auge sich richten mochte. Nur Serenissimus sah in gewohnter wohlwollender, wohlgenährter Heiterkeit aus seinem Rahmen auf uns herab. Er stand unantastbar über dem wilden Kampf der Parteien; selbst der Doktor Wübbke hatte sich gehütet, ihn anzugreifen. Er konnte lächeln, nicht aber der Dirigens Dr. Hane, nicht die hochehrwürdige Geistlichkeit, nicht die hochlöbliche Arzeneiwissenschaft, nicht ein ehrbarer Kaufmannsstand. Es war nicht mehr so in Bützow wie sonst, nicht mehr so, wie es sein sollte: der respektwidrige, blutdürstige, revolutionäre Zeitgeist saß auf dem Stuhle, welchen der Doktor Wübbke leer gelassen hatte, der Pesthauch aus dem Lutetischen Sumpfe senkte sich auf unsere Häupter herab, und

„Wer dieses Duftes sog, es erscheinet flugs
Das Schwarze weiß ihm! Tugend, Erbarmen sind
Ihm Namen; Eide Schaum der Wogen;
Lästerung Witz, und nur Unsinn Weisheit“,


sang Friedrich Leopold, Graf zu Stolberg, im Junius dieses Jahres 1794 zum Klange seiner geweiheten Harfe. Übrigens waren wir fest entschlossen, in der Holzfrage dem Sansculottismus nicht nachzugeben. Wir hielten fest an dem Hergebrachten und schworen wie die Handwerksgesellen zu Osnabrück beim Eintritt ins löbliche Gewerk: nichts Altes ab- und nichts Neues zukommen zu lassen.

„In das Raspelhaus mit dem Rabulisten, dem Septembriseur!“ keuchte der atemlose Dirigens, und sämtliche anwesende Magistratspersonen und Ausschußbürger waren atemlos und entrüstet wie ihr würdiges Haupt, mein sehr werter Freund Dr. Hane.

„Es ist eine entsetzliche Zeit, eine Zeit der Trübsal und des Zornes“, seufzte die hohe Geistlichkeit, das Haupt melancholisch schüttelnd. „O über die Ruchlosigkeit der Menschen, das Heiligste ist vor ihren räuberischen Händen nicht mehr sicher: – wie lange wird’s noch dauern, so werden sie sogar –“

„Den Kirchenzehnten angreifen!“ sprach ich, J. W. Eyring, mit Wehmut, und der geistliche Herr forschte auf meinem Gesichte nach dem von ihm daselbst vermuteten ironischen Schimmern; jedoch vergeblich. Mit der Ruhe und dem Ernst des Grabes hielt ich den brennenden Fidibus auf den Kopf der Pfeife und sprach im Innersten meiner Seele:

„Aera sacerdotes a nobis saepe requirunt,
Et tantum reddunt aeris ob aera sonum.“

Ehrn Jobst Klafautius liebte mich nicht und verleumdete mich bei meinen bützowischen Mitbürgern als einen Voltairianer, ein Gefäß der Ungnade und einen heterodoxen Spötter. Wir waren schon Anno achtundsiebenzig, als in Braunschweig die „nothgedrungenen Beyträge zu den freywilligen Beyträgen des Herrn Past. Goeze“ im Druck ausgingen, aneinander geraten.

Man vertrank die große Aufregung des Abends. Man trank mehr als gewöhnlich und sprach natürlich mehr und im höhern Ton als gewöhnlich. Ein jeglicher hatte seine Anklagen und Beschwerden der satanischen, Tempel und Altar schändenden Zeit in das hohnlachende Angesicht zu werfen, und nur der Magister Albus saß stumm so nahe als möglich am Ofen, wärmte sich und hütete sich, seine dürre Freund-Hain-Gestalt in das Licht und unter die Augen unserer Wohlbehaglichkeiten zu schieben.

Alles in allem genommen gehörte der Magister Albus so wenig in die Herrenstube des Erbherzoges zu Bützow wie der Doktor juris Wübbke, den man soeben hinausgeworfen hatte.

Im brennenden Praga, jenseits der Weichsel, auf dem polnischen Leichenhaufen saß Peter Alexei Wassilowitsch, Graf von Suwarow-Rimnitzkoi, und schrieb seinen Bericht über den glorreichen Tag: „Hurra, Praga, Suwarow!“ – im Erbherzog zu Bützow an der Warnow erhob sich der Kämmereiberechner Bröcker und redete über die

Gänse von Bützow.

Nimmer sahe Rom eine verhängnisvollere Stunde! Nimmer gerieten teutsche Köpfe und Herzen durch ein Wort in schlimmere Gärung und Hitze! Niemals hatte der Kämmereiberechner Bröcker einen günstigern Moment zu seiner Rede auswählen können!

Von dem Geschrei des rebellischen Volkes auf der Hausflur vor der Tür der Herrenstube im Erbherzog kam er auf das Geschrei der Gänse in den Gassen. Von alten, hochweisen Senats-Edikten gegen diesen abscheulichen Lärm, dieses Gackeln, Gackern, Zischen sprach er, und lauter Beifallsruf, leises Beifallsgemurmel würdigster Männer belohnte ihn, als er in bündigster Weise den Zusammenhang der Holzfrage mit der Gänsefrage dartat, dem Doktor Wübbke auch in dieser Hinsicht seine naseweise, vorlaute, gigackende Stellung anwies, Serenissimi landesväterlich wachsames Auge auf die Sachlage herniederzog und den Stall, den mauerumschlossenen Hofraum in die engste natur-, zivil- und kanonisch-rechtliche Verbindung sowohl mit dem Geschlecht Anser als auch mit dem rechtschaffenen, biedermännischen, patriotischen teutschen Bürgertum brachte.

Es war von der Gastpatronin der große Punschnapf auf den Tisch (????? ???????) gesetzet und vom Fürsten der Männer, dem göttergleichen Dirigens Dr. Hane, wacker in die Gläser des Kreises ausgelöffelt worden. Wir waren ein Vorwurf für Hogarths Grabstichel und schworen, weder des Volkes noch der Gänse jakobinischen Unfug länger zu dulden; wir reichten uns die biedern Hände über der buntbemalten, episkopalisch-chinesischen Schale, und der Kämmereiberechner weinte Tränen der Rührung über die ungeahnete Wirkung seiner Suada.

„Sie fressen außerdem das Stroh ab, womit man augenblicklich wieder des Frostes halben unseres hochlöblichen Gemeinwesens Pumpen und Wasserkünste verwahret hat!“ schluchzte er, an meine Schulter gelehnt, und als in diesem Augenblick Grävedünkel, der Viertelsmann, in unsern Kreis trat, uns die Bürgerstunde zu entbieten, sprach der Bürgermeister:

„Grävedünkel, Er erscheine morgen früh um zehn Uhr bei mir; anjetzo aber kann Er mich nach Haus bringen!“

Und Grävedünkel, welcher seinen heroischen Vorgesetzten auch nach der Punsch- und Polizeistunde verstand, erwiderte im heisern Baß:

„Zu Befehl, Herr Bürgermeister hochedelgeboren.“
Mit nicht ganz sicheren Stimmen sangen wir noch jenen Vers unseres Bundesliedes:

„Wer nach verbotnen Schätzen strebt,
Hat nie ein rein Gewissen;
Es foltert ihn, so lang er lebt,
Mit bösen Schlangenbissen.
Ein Irrlicht führt mit falschem Schein
Ihn in des Unglücks Gruft hinein.
Wir wollen weise sein!“

Wir waren weise, und ich führte den Magister Albus, der wenig Punsch vertragen konnte, sintemalen er wenig dran gewöhnt war, nach Hause, da ihm kein Grävedünkel zu Gebote war und die Kollegialität es erforderte, die Würde des Standes zu wahren. Auch er, der Kollaborator, war gerührt, beklagte seine jammervolle, hungrige, durstige Lage, nannte mich „Euere Magnifizenz“, sprach davon, Kriegsdienste am Rhein zu nehmen, und fing auf dem Marktplatz vor dem Hause der Mamsell Hornborstel an, laut zu weinen und zu schluchzen, lauter als der Kämmereiberechner nach seiner Rede.

Er schwärmte, wie von der Genieseuche angesteckt, er deklamierte, als sich in der Höhe ein Fenster öffnete und ein Wassertopf ausgegossen wurde:

„Laura, du blickst nach den funkelnden Sternen voll Sehnsucht: ach, wär ich
Doch der Olymp und säh mit so viel Augen dich an!“

„Magister – Kollaborator – Albus?!“ rief ich, ihn mit meinen zwei Augen ansehend; er aber antwortete, mich mit den Armen umschlingend:

„Blumen auf den Altar der Grazien von Schatz, Leipzig in der Dykischen Buchhandlung. O Sacharissa!“

„Magister, Magister! Stehe Er fest! Nehme Er sich zusammen. Was würden Seine Scholaren zu solchem Gebaren sagen?“

Einen Kuß drückte mir der Kollaborator auf den Mund und stammelte:

„Trunken sind wir,
Beide trunken,
Ich von Janthes
Holden Blicken,
Du von meinen
Freudentränen.
Hamann! Johann Hamann! Euere Magnifizenz, Munifizenz – o Sacharissa!“

„Wer ist denn diese Sacharissa, Magister?“ fragte ich, weniger entrüstet, als den Umständen eigentlich konform war, und Albus deutete geheimnisvoll winkend nach dem Fenster in die Höhe; ich aber sprach:

„Die Mamsell Hornborstel?! Nun bei allen Liebesgöttern, gratulor! gratulor! Da wünsche ich Ihm Glück von Herzen und den allerbesten Erfolg; jetzt aber komme Er nach Haus, um auszuschlafen –“

„Ich würde dieses Tal um keinen Thron verlassen,
Doch um ein Küßchen von Lanassen
Verließ’ ich’s gleich!“

wimmerte der Magister und fügte noch einmal hinzu:

„O Sacharissa!“

Es gelang mir, ihn in sein Bett zu bringen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage