Abschnitt. 1

Ich bin im Grunde genommen ein recht ruhiger und beschaulicher Mensch, und der regelmäßige, nach der Uhr abschnurrende Schuldienst hat auch viel dazu getan, mich zu einem Ordnung und Reinlichkeit liebenden Individuo zu machen. Jetzt hatte ich ein Staatsgeheimnis und Unordnung, Verwirrung und eine große Responsabilität auf dem Halse und im Hause und durfte nicht einmal meine Haushälterin um Rat fragen. So streckte ich unruhigen Gemütes meine fröstelnden und müden Glieder aufs Lager, um wenigstens noch einige Stunden zu ruhen, warf mich hin und wider, schlug mich herum mit der Frage, was mit dem närrischen Magister jetzt zu beginnen sei, fand keine Antwort und versank in einen wüsten Schlummer, während welchem ich von mancherlei unangenehmen und anstößigen Dingen, vorzüglich aber auch von meiner seligen Frau, welche den Kollegen im Hinterstübchen entdeckt hatte und ihn natürlich mit aller Gewalt und großer Wut austreiben wollte, träumte. Mit antiker Treue gegen den Gastfreund verteidigte ich den heulenden Kollaborator; da traf ein zinnerner Kaffeetopf, geschleudert von der Hand der Seligen, meine Stirn: aufrecht saß ich im Bett, merkte, daß ich geträumt habe, und bemerkte, daß der Morgen graulich dämmere. Erst ganz successive kam mir dann die Gewißheit, daß ich die Geschichte mit dem Magister Albus nicht geträumt habe, daß der Handel seine Richtigkeit habe und daß der Kollege ganz gewiß und sicher im Hinterstübchen hocke und auf meine Kollegialität, Weisheit und Umsichtigkeit sein Heil baue.

„Der Kerl hat mir da ein schönes Hornissennest aufgestört!“ seufzete ich. „O ihr waltenden Götter, was soll daraus werden?“


Schon regte sich’s in dem Parterre. Mit lauter Stimme begann Johanne ihr Tagewerk und ihren Morgenpsalm: Wer nur den lieben Gott läßt walten etc. Es regete sich auch bereits draußen auf der Gasse. Das Feuer in meinem Ofen wurde angezündet; ich hörte es krachen und prasseln; ich vernahm den Kehrbesen und den Wischlappen. Hähne kräheten, Hühner gackelten, das Rindvieh rief vor leerer Krippe mit dumpfer Stimme den schlaftrunkenen Pfleger und Hirten.

Es mußte ein Entschluß gefaßt werden, ich packte den, welcher allein des Geschichtsschreibers, der mit stoischer Ruhe vom erhabenen Gipfel des Gebirges dem Laufe der Weltbegebenheiten folgen soll, würdig war; – ich beschloß, die Dinge an mich und den Magister herankommen zu lassen und jedesmal dem Rate des Augenblickes zu folgen. So erhob ich mich denn, gefestigt in meiner Pflicht, das Gastrecht bis aufs äußerste zu wahren, ermutigt, sowohl dem geistlichen wie dem weltlichen Schwerte Trotz zu bieten, und ermöglichte es kühn, den einkarzerierten philologischen Vogel mit Speise und Trank zu versehen und ihm einen abgängigen, aber warmen Schlafrock zum Ersatz für das delabrierte schwarze, dünne Röcklein zuzuschieben.

Ich fand den Helden in der allerkläglichsten Verfassung; seine gestrige Bravour war zerflossen wie Nebel vor dem Winde, seine Maulfertigkeit war auf ein höchst insignifikantes Nichts reduzieret. Er hatte nicht geschlafen und saß auf seinem Lager, hatte das spitze Kinn auf die fleischlosen Knieplatten gelegt. Wenn ihn ein hochnotpeinliches Halsgericht in einer Viertelstunde zum Galgen hätte abführen wollen, so hätte er nicht lamentabler aussehen können. Ich ermunterte ihn ein wenig durch den warmen arabischen Trank, verabreichte ihm eine gestopfte Tobackspfeife, sowie den Boëthius, empfahl ihm das allertiefste Stillschweigen und überließ ihn seinen angenehmen Phantasien und Gedanken, da ich ihm im Hinterstübchen doch nicht von Nutzen sein konnte und es jedenfalls nötig war, die heutige Physiognomie von Bützow zu studieren.

Bimbam, bummbumm; bumbum, bimbam! klang’s harmonisch vom Turm und forderte die frommen Beter auf, mit ihrer Toilette und ihren Haushaltsgeschäften sich zu beeilen und den zweiten Pastor Ehrn Peter Blessing ja nicht warten zu lassen. Ehrn Peter Blessings Sermon war wohl gepfeffert, gesalzen und gewürzt, mit dem notwendigen Zucker bestreut, ofenwarm und konnte jeden Augenblick aufgetragen werden; aber die andächtige christliche Gemeinde von Bützow schien diesmal mit schlechterm sabbatlichen Appetit als sonsten aufgestanden zu sein. Nur wenige alte Mütterchen und männliche Greise folgten dem frommen Rufe der Glocken und trippelten mit ihren großen Gesangbüchern zur Kirche. Die Männer und Frauen aber standen einzeln und in Gruppen vor ihren Haustüren und schienen keine Lust zum homiletischen Kuchen zu haben. Stiere Blicke suchten in vager, blöder Seelenlosigkeit am grauen Himmelsgewölbe nach der ewigen Gerechtigkeit und schienen sie nicht zu finden. Verdrossen herabhängende Mundwinkel deuteten auf innerlichen Zwist und Hader; doch waren auch intrepide, irascible Charaktere vorhanden, welche die Nasen aufwarfen und Grimm schnaubten. Am Brunnen steckten die Mägde die Köpfe zusammen; aber wenn sie auch heftiger gestikulierten, so sprachen sie doch in leisern Tönen miteinander; – die Bevölkerung von Bützow hatte Ähnlichkeit mit einem in Brand geratenen Torfmoor, es schlugen keine hellen Flammen auf, aber es qualmte fürchterlich und roch sehr übel.

Bimbam, bummbumm; bimbam, bimbum! Das war wie Sterbeglockenklang; sämtliche abgeschiedene Bürgermeister, Prätorn, Ädilen und Grävedünkels schienen in diesem melancholischen Tönen wieder aufzuwachen; ihre Geister durchzogen die winterlichen Lüfte; sie riefen wehe, und die gespenstischen Schleppen ihrer Amtsgewänder strichen dicht über den Dächern hin.

„Es gibt noch viel Schnee“, sprachen die Wetterkundigen, und die Dohlen kreischten in der Höhe und fuhren um die Dachgiebel und reiheten sich auf den Firsten und reckten die Hälse wie die Zuschauer im Theater; sie wußten, daß drunten nicht alles in der Ordnung sei, sie wußten, daß es heute noch etwas zu sehen geben werde.

Ich öffnete das Fenster, reckte ebenfalls den Kopf vor, und volle Heiterkeit kehrte in mein Gemüt zurück. Mit Humor und Behagen nahm ich den Bericht meiner Eurykleia auf, welche ebenfalls nach gewohnter Weise vom Bronnen zurückeilte, und zappelnd mir nach ihrer Art die Vorgänge der Nacht zu kommunizieren trachtete. Schon hatte sich die Fama von dem Verschwinden des Magisters Albus über das Gemeinwesen verbreitet, und wild und ausschweifend waren die Phantasien über diesen Fall. Auch der Doktor Wübbke war spurlos verschwunden und nur ein Abdruck seiner Figur im jetzt gefrorenen Schlamm vor der Tür der Mamsell Hornborstel zu sehen. Des Magisters Hut war auch gefunden worden und lag übel zugerichtet auf dem grünen Tische des Rathauses, um nötigenfalls als Beweisstück gegen den unglücklichen Eigentümer bei der einzuleitenden Perquisition zu dienen. Auch ein abgerissener schwarzer Rockschoß war, arg besudelt, gefunden worden, doch war es nicht ausgemacht, ob er dem Magister oder dem Doktor Wübbke eigne. Der Pastor Primarius Klafautius trug seinen Bericht an die zuständige Behörde über das jakobinische Auftreten und Reden des Kollaborators kurz vor Beginn des Gottesdienstes eigenhändig zur Post, um nachher mit leichterem Herzen für den armen Sünder beten zu können.

Ich ging wie die Mehrheit der Bützower an diesem Tage nicht in die Kirche; aber ich schickte meinen sämtlichen Hausstand hin, um sodann den verfolgten Kollegen wenigstens für einige Augenblicke aus seiner trübseligen Dämmerung hervorzuholen. Beim hellen Tageslichte gewährte er einen noch elendern Anblick als beim Lampenschein; – er war übel, sehr übel zugerichtet; das Schicksal hatte seine Schuljungen bitter an ihm gerächt. Jede Bewegung verursachte ihm die ärgsten Douleurs; nur mit Stöhnen konnte er sich niedersetzen, nur wimmernd konnte er sich erheben, und sein Gesicht zeigte alle sieben Farben der Newtonischen Lehre und glich der Erde nach der Sündflut; wo Täler waren, erhuben sich Gebirge, – die große Revolution zu Bützow hatte ihren Anfang auf der Visage des Magisters Albus genommen! –

„Nun, was hält Er vom Boëthius, Kollega?“ fragte ich, um des Geschlagenen Geist ein wenig aufzurichten; aber dieser wandelte taumelnd auf andern Pfaden.

„Wenn ich mein Manuskript über den Laërtier Diogenes hier hätte“, wehklagete er, „so würde ich heute abend noch durch- und über die Grenze gehen. Er könnte mir einen Brief an Seinen Korrespondenten Nicolai in Berlin mitgeben und zehn Taler als Darlehn vorstrecken und vielleicht, was Er noch von meinen Habseligkeiten retten wird, später nachschicken. Er würde sich einen Gotteslohn erwerben, und ich wollte mich schon durchschlagen mit dem Diogenes und der Allgemeinen deutschen Bibliothek –“

„Die ist ja nach Kiel emigrieret!“ warf ich ein; aber der Magister fuhr, ohne die Unterbrechung zu beachten, fort:

„Und Korrekturen hab ich auch schon in Leipzig für die Weimarschen und Jenischen Leute gelesen. Ich dächte, es sollte schon recht gut gehen und vielleicht besser als hier zu Bützow.“

Ein lautes Klopfen an der Haustüre jagte uns aus dieser Unterredung jählings auf. Der Magister schoß in die dunkelste Ecke zurück, bereit, in jedem Moment seinen Zufluchtsort im Hinterstübchen wiederzugewinnen; ich rekognoszierte fürsichtig durchs Fenster und fuhr ebenfalls terrifizieret weg:

„Grävedünkel!“

Da stand er in krummbeinichter Grimmigkeit, wild blickend, mit bereiftem Schnauzbart, in voller Amtstracht: mit Dreimaster, Säbel und gewichtigem, glänzendbeknopftem Stabe, der Wächter der Gesetze, das Schreckbild des bösen Gewissens! Da stund er und begehrte von neuem und heftiger pochend Einlaß!

„Courage, Mut, Tapferkeit, Kollega!“ flüsterte ich. „Fort mit Ihm ins Loch; – wir sind noch nicht zum testamentum nuncupativum, zum mündlichen Testament, wie mein Freund, der Bürgermeister Hane, sagen würde, gekommen. Schnell ins Gebüsch, und rühre Er sich nicht, was auch vorgehen mag; noch ist’s nicht Matthäi am letzten, und ein Rekommandationsschreiben an den Buchhändler und Schriftgelehrten Nicolai soll Er auch haben.“

Der Magister evaporierte trotz seiner steifen Gliedmaßen mit wundervoller Agilität, und hüstelnd stieg ich hernieder, den gefahrdrohenden Boten und Alguacil einzulassen. Er suchte den Magister nicht bei mir! Er hatte nur den Auftrag, mich in höflichster Form nach beendigter Kirche zum dirigierenden Bürgermeister zu zitieren. Er gab sein Mandat unter der Haustüre ab und stapfte nach ernstem Gruße ab und verschwand um die Ecke, verfolgt von den unheilkündenden Blicken des Volkes, das er leider allzusehr verachtete und das ihm nicht so wohl wollte, als er verdiente.

Ich benachrichtigte den Magister in vinculis von der Botschaft, ließ ihn in neuen Ängsten und Befürchtungen und rüstete mich, dem gewichtigen Rufe vom kurulischen Stuhl Folge zu leisten.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage