Abschnitt. 2

Ich, J. W. Eyring, der ich die Menschen ein wenig zu kennen glaube, ohne ein Anhänger Lavaters zu sein, ich faßte gerührt und bewegt die Hand meines jüngeren Amtsbruders.

Es war nicht der rheinische Wein, sondern die allgemeine Menschenliebe, welche aus mir sprach, als ich sagte:


„O, Herr Kollega, Herr Kollega, gedenke Er auch an Triest und den niederträchtigen Mörder Arcangeli, gedenke Er an den Schlingel, den Taugenichts Casanova, und was einem sonst noch auf der Reise und am Reiseziel zustoßen kann. O Albus, Albus, die Ehe, matrimonium, coniugium, connubium ist ein viel heimtückischeres, wenn auch manchmal ebenso anlockendes Land als jene schöne Halbinsel. Da gibt es außer Ungeziefer und Mördergruben aller Art auch feuerspeiende Berge aller Art; einige werfen Feuer aus, andere wieder nur Rauch und abermals andere Schlamm, was aber ebenfalls sehr widerwärtig und verdrießlich ist. Und – Magister – hat Er auch wohl an die Geschichte des Landes gedacht? Welche Eroberer und welche Sklaven! Hunnen und Vandalen, Longobarden und Franken, Araber, Franzosen, Hispanier, Teutsche, einzeln und durcheinander! Das hat oft arge Devastationen gegeben, und Kaiser und Päpste, einheimische und fremde Condottieri, Frundsberg und Bourbon, Ludovico Moro, Cäsar Borgia! Erinnere Er sich, das war ein toll Durcheinander. O Magister, hat Er auch wohl an seine preußische Majestät, die Gräfin Lichtenau und den geheimen Kämmerierer Rietz, hat Er an unsern hochverehrungswürdigen dirigierenden Herrn Bürgermeister gedacht? Unsere guten Bützower und Bützowerinnen haben diesen Ruf ebenso arg und schlimm zertrampelt als die Barbaren den italischen Boden; – ich warne Ihn, Kollega, ich warne Ihn!“

„Herr Kollega“, sprach der Kollaborator mit Fassung, „ich lasse die Geschichte der Vorzeit auf sich beruhen, – da ist viel Sage und Mythus. An den geheimen Kämmerierer Rietz glaube ich nicht!“

„Und der Herr Bürgermeister?“

Der Magister zuckte die Achseln und hielt mir das leere Glas hin.

„Herr Kollega“, sprach er, „es ist meiner bescheidentlichen Meinung nach nicht ausgemacht, wer bei jenem Histörchen mit dem längsten Gesichte und dem schlechtesten Gewissen abgezogen ist. Ich halte und schätze die Mamsell Hornborstel für eine höchst respektable und ingenieuse Person, welche ihrer Würde niemalen etwas vergeben haben kann und welche noch heute sich nicht das mindeste bieten läßt.“

„Auch letzteres erfüllet mich mit Bangen und Sorgen für Sein Wohlergehen, Herr Kollega Albus. Sie lässet sich nichts bieten; aber sie verstehet es, den andern Leuten sehr viel zuzumuten.“

Der Magister hielt wiederum sein leeres Glas her, rückte mir dabei so nahe als möglich, sah über die Schulter nach der Tür und flüsterte sodann in mein Ohr:

„Herr Kollega, es kann keine Meinungsverschiedenheit zwischen ihr und mir bestehen; wir sind beide – Anhänger der – Konstitution vom Jahre siebenzehnhundertundneunzig; – wir sind politisch einig!“

„Herr Kollega“, flüsterte ich überrascht zurück, „da gratuliere ich Ihm von ganzem Herzen; aber –“

„Aber der Herr Kollega meinen, weil man im Erbherzog im letzten Winkel sitze und von all den Großmäulern und Dickköpfen überschrien werde und vernünftigerweise seinen Mund halte, so bringe man nur seine Zeit damit hin, die unnützen Buben das ?????????, ich gackele, du gackelst, er gackelt, abwandeln zu lassen und zu Hause den Diogenes Laërtius zu emendieren? Fehlgeschossen, weit fehlgeschossen! Man hat seit des Aristoteles Zeiten das Recht, ein politisches Tier zu sein; es ist ein Menschenrecht, das man sich nicht nehmen läßt. Man läßt einem hohen Ober-Schul-Kollegio zu Schwerin allen seinen Willen; aber die Zeitungsblätter liest man auch, wenn auch erst aus dritter Hand, und seinen gesunden Menschenverstand konservieret man nach besten Wissen und Kräften. Nein, nein, dumm machen lassen wir uns nicht mehr, und der vierte August des Jahres siebenzehnhundertneunundachtzig war ein großer Tag; der Genius der Menschheit weiß es, und die Mamsell Hornborstel – Sacharissa weiß es auch!“

Jetzt war mir mit einem Male vieles Dunkele aufgeklärt. Wahrlich, es war eine nicht wenig glorreiche Idee, den Kollaborator zum Martinsbraten einzuladen und ihn mit dem herzen- und zungenlösenden lyäischen Trank vom Rheinstrom zu tränken. Hier war Bützow von einer neuen Seite: die Parteien traten scharf voneinander, die Gironde schied sich vom Sumpfe, Madame Roland und Vergniaud, d. h. Mamsell Hornborstel und der Magister vom dirigierenden Bürgermeister Dr. Hane. Aber was hatte die Gironde mit der Montagne, die Mamsell Hornborstel mit dem Doktor Marat-Wübbke zu tun?

„Solche temporären Verbindungen zwischen diametral entgegengesetzten Ansichten und Lebensläufen sind gestattet, wenn es sich um die Erkämpfung oder Festhaltung der höchsten Menschengüter handelt!“ sprach der Magister und ging in der Überzeugung von der Wahrheit seiner Expektoration auf. „Es gibt kein anderes Mittel, den Incivismus in hiesiger Stadt in Trümmer zu schlagen. Verlieren wir die Gänsefreiheit, so verlieren wir damit alles, was uns noch fähig machte, an der großen Republik der Zukunft als edle und aufgeklärte Bürger und Bürgerinnen teilzunehmen. Wir haben noch gestern nachmittag die Sache beim Kaffee durchgesprochen, und ich habe Sacharissa versichert, daß auch Madame Roland mit dem hochseligen Bürger Robespierre mehr als einmal zu einem guten Einverständnis zu kommen gesucht habe.“

„O Albus, Albus, was ist er für ein Patron!“ rief ich mit äußerster Verwunderung. „Ei, ei, ei, da sitzt er mir gegenüber als ein Lamm, so kein Wasser trüben kann, und ist doch der Wolf, welcher das Schütt aufzieht. Wer hätte das in Ihm gesucht, und bitt ich Ihn, was soll hochlöbliches Ober-Schul-Kollegium zu Schwerin zu solchen Dingen sagen? Das ist ja der reine Klub der Feuillants, Magister! Und der hat im Hause der Mamsell seinen Sitz? Und den hat Er mitgegründet? Und den besucht Er tagtäglich nach der Nachmittagsschule? Was wird hohes Ober-Konsistorium und Ministerium dazu sagen, wenn der Lauf der Zeit solche Ungeheuerlichkeiten zutage fördert?“

„Sacharissa und ich fürchten weder den Lauf der Zeit noch herzogliches Schulkollegium noch sonst ein Kollegium. Wir sind zwei antique Klassiker; wir sehen hinweg über die Kerker der Tyrannei und blicken nach dem ätherischen Gestirn der Freiheit, wir setzen uns auf den prophetischen Dreifuß zu Delphi und prophezeien, wir lauschen mit dem Ohr an der Wand der Zukunft; große Tage nahen sich mit großen Schritten dem morschen Reiche der Teutschen. Wir warten auf den Flug der Winfeld-Adler in den Lüften, und –“

„Die Luft erfüllt sich mit hehrem Flügelschlag, und sie kommen, sie nahen mit kapitolinischem Triumphgeschrei und lassen sich nieder auf dem Forum von Bützow; sie kommen langhälsig weiß und grau und gefleckt, die Gänse von Bützow, und Grävedünkel, ein gefessselter Titane, sitzt selber in seinem Pfandstall und singt die Hymne vom Fest des höchsten Wesens her:

Dieu bon, dieu bon, donne à la terre
La paix, la liberté!“

„Es wird erhaben, es wird erhebend, es wird rührend sein, certum est; – übrigens aber, bester Kollega, denke ich, wir rauchen anitzt mit dem ehrlichen Pfarrer von Grünau eine Pfeife balsamischen Tobacks zu unserm Kaffee. Wir haben eine gute Mahlzeit getan, den Erretterinnen der römischen Burg sei Dank!“

„O Sacharissa!“ erseufzete mein politisch-amoroser Tischgenoß.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage