Abschnitt. 1

Wenn es aller Erdgeborenen Last und Vergnügen ist, von Minute zu Minute, von Stunde zu Stunde, von Tag zu Tag langsam weiter zu kriechen bis zu jeder glücklichen oder unglücklichen Katastrophe, bis zu jenem Augenblick, wo Kriechen und Hüpfen, Tanzen und Hinken, jedes annehmliche oder unangenehme Mouvement zu Ende ist: so kann es doch nicht der Beruf dessen, der den Mantel Klios gefaßt hält, sein, in gleicher Weise sich weiter zu bewegen. Sprungweise reißt der Hippogryph den Historiographen wie den Poeten mit sich fort: dürres, quellen-, baum- und fruchtloses Land haßt das geflügelte Reittier, und der geschmackvolle Leser, die empfindsame Leserin sind ihm dankbar dafür; sie haben schon zu viel zu überschlagen, was mit ihrer augenblicklichen körperlichen oder geistigen Empfängnisfähigkeit nicht harmonieren will. Glücklich jener Schriftsteller, der allein für jenes süße Stündchen der Verdauung nach eingenommenem Mittagsmahl schreibt! Ihm allein blühen die angenehmsten Rosen der Popularität; ihm allein fallen jene hesperischen Früchte, welche der Drache des teutschen Buchhandels bewacht, von selber in den Schoß! Ihn erklärt das Volk für einen witzigen Kopf, und – hätte er Selbstgefühl, so würde dieses ihm nicht den niedrigsten Sitz auf dem Parnaß unter den Schöngeistern des menschlichen Geschlechtes einräumen! –

Ich, J. W. Eyring, besitze leider Selbstgefühl, ohne für das Verdauungsviertelstündlein zu schreiben; was die Weltgeschichte auf ihren ewigen Tafeln eingräbt, schreibe ich ab: den ganzen Monat November hindurch und den größten Teil des Dezembers bereitete sich das Städtchen Bützow mit echt teutscher Gründlichkeit auf die große, erschreckende Krisis, welche in seinem Schoße zum Ausbruch kommen sollte, vor.


Siehe, es umschritten die Erinnyen die stille Wohnung, das Haus der scharmanten und plaisanten Jungfrau und Mamsell Hornborstel. Sie klopften auch und traten auch ein, sie wurden von Scherpelzens Regina in das Visitenzimmer geführt, saßen stramm und steif nieder auf dem Kanapee, tauchten Rostocker Gebäck in die angenehme bräunliche Flut aus dem Land Arabien und trugen grüne oder blaue, gelbe oder bunte, gestickte oder ungestickte Pompadours oder sonstige Strickbeutel am Arm. Mit höllischer Ausdauer und Geschicklichkeit machten sie Filet, scheußliches Netzwerk zum Fang der Verbrecher von Bützow und dem Universo; sie schüttelten ihre Schlangenhaare, die sie entweder matronenhaft mit drohend nickender Haube oder mädchenhaft mit künstlichen Blumen und bunten Bändern dem Auge lieblich zu machen strebten. Sie kamen, und sie gingen. Einzeln, zu zweien oder truppweise durchwandelten sie die Gassen der Stadt, und – Grävedünkel ging ihnen aus dem Wege!

Wohlweislich ging ihnen Grävedünkel aus dem Wege; es war Feindschaft zwischen den dunkelsten Gefühlen des gekränkten weiblichen Busens und ihm, dem Wächter und Torhüter am Pfandstall. Er, der erbarmungslose Liktor des regierenden Konsuls, hatte begonnen, das neue Gesetz zu verwirklichen; – unnachsichtlich packte er zu – Kopf, Flügel, Hals, Schwanz – einerlei – da half kein Gigack, kein Gezappel und Gezeter, kein Drohen und Geschimpf, kein Kindergeheul; – fort mit den Verbrecherinnen, den Übeltäterinnen, hinab in den Tartarus! hinunter in den Abgrund! Es lebe das Recht, und die Welt gehe unter! An den Galgen mit den brummenden Jakobinern und dem Doktor Wübbke! Gack, gack, gack, gigack, – es gackelte bedenklich in dem Karzer an der Grävedünkelschen Amtswohnung; der Kämmereiberechner Bröcker magerte allmählich zu einem Schatten ab, und – die Erinnyen durchschritten mit ihren Pompadours die Gassen von Bützow!

Zum behaglichen Martinsfeste hatte ich mir meinen eigenen Martinsbraten aus dem Pfandstall vermittelst einer bedeutenden Summe klingender Landesmünze auszulösen, was natürlicherweise meinen Eifer, diese Historia würdig und gewissenhaft fortzusetzen, sehr erhöhte, mir jedoch gottlob den Appetit nicht verdarb.

Zu diesem Martinsbraten lud ich den werten Freund und Kollegen, den Magister Albus, ein, und er kam, ohne sich im kleinsten nötigen zu lassen. –

Der heilige Martin wurde ums Jahr 316 nach Chr. zu Stain in Niederungarn geboren; sein Vater war ein arger Heide und ein tribunus militum, der mit der Reitpeitsche wohl umzugehen wußte. Aus beiden Gründen entlief der Sohn dem Alten und wurde Bischof zu Tours, nachdem er vor dem Tor von Amiens den berühmten Schnitt in den Mantel getan hatte. Seit ihm einst bei einem Gastmahle der Kaiser Maximinus den Becher zuerst reichen ließ, ist er Schutzpatron der Trinker bei aller löblichen Christenheit; das ihm zugeschobene Werk: Professio fidei de trinitate ist ihm untergeschoben, denn er war ein jovialischer Herr und Heiliger, welcher sich so wenig als möglich sowohl mit profanen wie mit geistlichen Schreibereien abgab; an seinem Jubeltage aber, dem eilften November, erhielten und erhalten die Herren Pastöre vor und nach der Reformation ihre Zehntgänse, und das Volk briet und brät die ihm übriggebliebenen.

„Der heilige Martin soll leben, Herr Kollega!“ sprach ich mit der dem guten Mahle angemessenen Würde, und –

„Das soll er, Herr Kollega!“ sprach der Magister Albus.

Wir hatten den größten Teil des wohlbeleibten und wohlbereiteten Vogels im Magen, durch das Fenster sah der November:

„Rote Blätter fallen,
Graue Nebel wallen,
Kühler weht der Wind“;

im Ofen aber prasselte das Deputatholz; wir tranken Rheinwein, da die englische Blockade uns die roten Franzosen – und in dieser Beziehung, leider! – von unsern Seehäfen absperrte. Wir sahen das Wetter und uns durch die Gläser an; die Stunde der allersüßesten Vertraulichkeit und Mitteilung war gekommen, –

„Und wie steht Er anjetzo mit der Mamsell Hornborstel, Herr Kollega?“ fragte ich.

Der Kollaborator setzte das Glas auf den Tisch, ohne es mit den Lippen berührt zu haben, und sagte ruhig:

„Nicht wahr, ich bin ein recht dürrer Magister, Herr Kollega?“

„Nun, nun“, sagte ich begütigend und blickte auf die kärglichen Reste der Gans, „ich habe dürrere gekannt.“

„Ich nicht!“ entgegnete jener mit einer wahrhaften Grabesstimme und setzte hinzu: „Die Perücke trage ich auch nicht allein der Gravität und Amtsehrbarkeit wegen.“

„Es ist im Sommer wie im Winter eine recht angenehme und bequeme Tracht; die alten Egyptier trugen sie bereits, und zwar um des Klima willen.“

„Sie konnten höchstwahrscheinlich aber auch ihre Perückenmacher besser bezahlen“, seufzte der Magister. „Doch wir kamen von der Sache ab; kehren wir zu ihr, das heißt zur Mamsell Hornborstel zurück. Hochgeschätzter Herr Kollega, unser Kollega, der Konrektor Winckelmann, hat zu Seehausen in der Altmark nicht mehr Hunger ausgestanden, ehe er nach Rom ging und katholisch wurde, als ich, sowohl auf Universitäten als im Amte. Herr Kollega, die Mamsell Hornborstel ist mein Rom und um sie werde ich gleichfalls meinen Glauben mit Freuden vertauschen. Der auf so schmähliche Weise verewigte Konrektor Winckelmann war achtunddreißig Jahre alt, als er den Rubikon überschritt; ich bin ein Jahr älter. Ein Interesse für Ästhetik und klassische Schönheit habe ich nicht und gehe deshalb nicht nach Rom. Ich bin ein wenig trocken, und da es nicht meine Schuld, sondern meine Natur ist, so habe ich nicht Grund, mich dessen zu schämen. Wenn die Mamsell Hornborstel nicht klassische Schönheit besitzt, so besitzt sie doch jedenfalls Klassizität und würde mir für mein körperliches Wohlergehen von ebenso großem Nutzen sein als der Kardinal Albani dem armen Winckelmann. Ja, die Mamsell Hornborstel ist mein Italien, und ich gedenke hinzugelangen wie der Kollege Winckelmann.“

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage