Abschnitt. 2

Man schrieb den vierten November des Jahres 1794; von der See her hatte sich der gewohnte Nebel über das Obotritenland gelagert; wir hatten keine Ahnung davon, daß an diesem Tage Suwarow Praga mit Sturm nahm und zwölftausend Bürger, Weiber und Kinder niedermetzelte; wir hatten unsere eigenen Kämpfe zu bestehen und waren vollauf damit beschäftigt. Bürgerschaft und Magistrat lagen einander arg in den Haaren wegen der Verteilung des Gemeindeholzes.

Die schnell eingetretene Kälte hatte diesen faulen Fleck der städtischen Verwaltung zu einer brennenden Frage gemacht; die Gemüter waren um so erhitzter geworden, je mehr das Wetterglas gefallen war; die Ratssitzung am Morgen hatte einer Pariser Konventssitzung geglichen, am Abend zankte man in der Honoratiorenstube des Erbherzogs sich weiter. In Anbetracht aber, daß ich mein Deputatholz eingezogen hatte, und in Anbetracht, daß der bekannte Mister Edmund Burke in seinem Buche Vindication of natural society berechnet, daß seit Anfang der Historie sechsunddreißigtausend Millionen Menschen durch Kriege der Könige und Eroberer umgekommen seien, saß ich den Tag über ruhig, las Mangelsdorfs Hausbedarf aus der Geschichte (Halle und Leipzig bei Ruff) und Ephraim Moses Kuhs hinterlassene Gedichte (Zürich, bei Orell, Geßner, Füßli und Compagnie 1792) und ließ mich nichts anfechten.


Erst um acht Uhr abends ging auch ich in den Gasthof, und wenn es mit Recht heißt: „nulli vitio unquam defuit advocatus“, keinem Laster fehlte jemals ein Advokat, so bin ich gern in diesem Punkte mein eigener Rechtsbeistand und brauche keinen andern.

Durch den Nebel schienen rötlich die Lichter des Städtleins, einen rötlichen Schein warf meine Laterne in die bützowsche Finsternis, mit unheimlichem Gegurgel suchte die Warnow ihren Weg durch die Nacht, und an der Ecke des Marktes stieß ich auf einen andern bemäntelten Laternenträger, der ebenfalls den Dreimaster tief in die Stirn gezogen hatte und mit seinem messingbeknopften Stabe vorsichtig die gefährlichen Stellen seines Pfades austastete.

Und wir erhoben beide die Laternen, uns zu beleuchten, und wir sprachen beide:

„Allerschönsten guten Abend, Herr Kollega!“

Auch der Kollaborator Magister Albus befand sich auf dem Wege zum Erbherzog.

Der arme Teufel! Er saß nirgends so warm als in seiner Schulstube oder im Klub der Honoratioren; seine Großmutter hatte ihn in Greifswalde studieren lassen und den Rest ihres Vermögens seiner Schwester vermacht, er hatte sich kümmerlich als Präzeptor, Korrektor oder dergleichen durchgeschlagen in Pommern, Mecklenburg, im Lande Sachsen und war als ausgehungerter Wandersmann bei uns angelanget, um daselbst weiter zu hungern. Sein schwarzes Röcklein hatte längst die Wolle an den Dornbüschen des Lebens zurückgelassen; seine Kniehosen waren des Rockes würdig, seine schwarzen Strümpfe waren gestopft und seine Schuhe geflickt, und er war nach mir der gelehrteste Mann in Bützow. Deputatholz bekam er jedoch nicht, und die Verteilung des Gemeindeholzes konnte auch von keinem Einfluß auf seine Behaglichkeit sein. Er pflegte zweimal in der Woche bei mir zu essen und hatte keine Geheimnisse vor mir; ich aber hatte mir längst vorgenommen, seine Umstände durch Rat und Tat verbessern zu helfen, hatte jedoch leider noch nicht die Gelegenheit dazu gefunden.

Wir setzten unsern Weg natürlich Arm in Arm fort und näherten uns dem Erbherzog, dessen Fenster nach gewohnter Weise feurig in der Nacht erglänzten, in dem man aber an diesem Abend nicht sang:

„Die Pflicht befiehlt, das Wohlergehn
Des Nächsten nicht zu neiden,
Man soll, wenn Arme hülflos stehn,
Sie speisen, tränken, kleiden.
Der wahre Mensch sieht ihre Pein,
Um Trost und Hülfe zu verleihn;
Wir wollen Brüder sein;“

Im Gegenteil, auf der weiten Hausflur stand die Gastpatronin inmitten eines aufgeregten Haufens ergrimmter Plebejer aus der Bürgerstube, vergeblich bemüht, die Erregtheit derselben durch sanfte Worte oder durch drohend erhobene Fäuste zu beschwichtigen.

Als sie uns erblickte, machte sie sich und uns mit den Ellenbogen Raum durch das Volk und rief:

„O meine Herrens, meine Herrens, is dat eine Welt, is dat eine Welt!... Nu holt dat Muul, ji Dicksnuuten, will ji?! O meine Herrens, der Herr Doktor Wübbke sind drinnen bei die Herrens ans Wort von wegen dem Holze; aber wat helpt’t Reden? seggt Spölk; das Holz is verteilet, und wer was gekriegt hat, hält’s fest, und den Herrn Doktor Wübbke haben sie vor’n Jakobiner aufgesetzet und woll’n ‘n aus’m Klub schmeißen, und – Vadder Nuddelbeck, ick schla’ ihm noch die Näse in, wenn bei keine Ruh givt! – und diese hier stehn vor’n Doktor Wübbke und wollen mich in meine eigene vier Wände die Marselljäse und Karmanjole singen, und hier Schmidt der Schneider, und Holzrichter und Compeer und Scherpelz und so viel ihrer der Deubel aus dem Loch gelassen hat, brüllen mich und die Herrens die Ohren voll, als wären alle Pariser Satans hier in Bützow und im Erbherzog losgelassen, und wollen mich hier ‘nen Konvent und ‘nen Berg aufsetzen –“

„Dat will wi! dat will wi! un’n Vivat für’n Herr Doktor Wübbke!“ schrie der Haufen, und die Gastpatronin stemmte die Arme in die Seiten, stellte sich fester auf ihren Füßen, aus weitgeöffneten Nasenlöchern Trotz, Hohn und Verachtung blasend.

„‘n Vivat für’n Doktor Wübbke!“ brüllte die Bürgerstube, „und nochmals, und abermals! und Freiheit! und Gleichheit, und –“

Alle aufgesperrten Mäuler blieben aufgesperrt – die Tür der Herrenstube war plötzlich mit großem Gepolter aufgerissen worden; schwere Tabakswolken und ein Getümmel streitender Männer drängten sich hervor; – aus dem Dampf flog gleich einem schwarzen Kometen eine zerzauste Beutelperücke unter das Volk auf der Hausflur, und ihr nach folgte der Doktor Wübbke, der Advokat und Bützower Danton, im hohen Schwung geschleudert von den kräftigen Armen der Patrizier. Mit Sausen fuhr er aus den Lüften herab in die Arme der Wirtin, welche in ihrem Fall den Schneider Schmidt, den Schuster Haase und den Fuhrmann Mertens mit sich zu Boden riß. Über dem Gezappel und Gezerr aber stand großartig und würdig auf der Schwelle der Honoratiorenstube der dirigierende Bürgermeister Dr. Hane und rief mit gewaltiger Stimme:

„Silentium! Man schweige – man brülle, man räsoniere nicht! Man respektiere seine von Gott eingesetzte Obrigkeit, halte seine ungewaschenen Schnauzen und verfüge sich nach Hause, ein jeglicher zu seiner Frau, daß sie ihm nach Verdienst den Buckel und den Kopf wasche.“

Und neben dem dirigierenden Herrn erschien der Pastor Primarius Ehrn Jobst Klafautius, erhob die Hände und in ihnen das geistliche Schwert, indem er milde Georg Beiers Geistliche Schlafhaube, mit tröstlichen Sprüchen aus der Heiligen Schrift zusammengenähet, zum Besten des Bützowschen Stadtfriedens dem tumultuierenden Haufen über die Ohren zu ziehen strebte.

Ob diese erwünschte Ruhe aber ohne den harten Fall des Doktor Wübbke so bald eingetreten wäre, steht dahin. Er ist ein gescheiter, ein kluger, ein mundfertiger Mann, der Herr Doktor; aber er war augenblicklich auf den Kopf gefallen und ließ sich ohne weiteres Geschrei nach Hause abführen. Auch dem wilden Volke seiner Anhänger – dem Schwanz Robespierres – imponierte die patrizische Gewalttat; man verlief sich mit dumpfem Gemurr, es gab Ruhe im Erbherzog, und ich durfte mit dem Magister Albus ohne weitere Verhinderung meinen Platz am Tische in der Herrenstube einnehmen.

Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Gänse von Bützow. Sage