Verbesserung der Frauenkleidung

Wir leben inmitten einer kulturgeschichtlichen Umwälzung, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die weitere Entwicklung des menschlichen Geschlechts auszuüben berufen ist.

In den letzten Jahrzehnten haben Wissenschaft und Industrie den Schwerpunkt im Kampf ums Dasein in völlig neue Bahnen gelenkt. Bisher herrschte, wer die kräftigsten Muskeln besaß. Die Körperkraft half zu Ehren, Reichtum und Ansehen, und die Nachkommen dieser kräftigen Geschlechter in der Form von Adelsfamilien und altpatrizischen Sippen erfreuen sich auch heutzutage noch demgemäß einer gewissen Achtung.


Mehr und mehr haben sich die Lebensbedingungen geändert. Statt der Körperkraft werden jetzt Maschinen in Bewegung gesetzt; die Pferde sind durch Eisenbahnen und Motorwagen überflügelt, statt der Eilboten haben wir den Telegraphen und das Telephon, und während die Anforderungen, die an die menschlichen Muskeln gestellt wurden, in fortwährendem Sinken begriffen sind, steigen die Ansprüche an die Nerven mit rasender Geschwindigkeit.



Ein Mensch der Gegenwart hat in einem Tage mehr neue Eindrücke zu verarbeiten, als einer unserer Vorfahren vielleicht in vielen Monaten. Früher war man froh, wenn einmal in der Woche die Diligence ohne Zwischenfall den Ort ihrer Bestimmung erreichte ; eine Reise von Berlin nach Potsdam war ein Ereignis, das Wochen voraus seine Schatten warf; heute legt man die Zeitung unmutig beiseite, wenn sie nicht über eine große Schlacht, einige Morde und Verbrechen zu berichten weiß; man packt Abends seinen kleinen Handkoffer, legt sich in Berlin schlafen, um anderen Tages in Wien zu erwachen, als ob das etwas ganz Gewöhnliches wäre.

Die Zeit, in der die Geschlechter mit eisernen Muskeln herrschten, ist mit ihnen unwiderruflich dem Untergang geweiht, an ihrer Stelle erheben sich als Herrscher der Zukunft die Geschlechter mit stählernen Nerven.

Wir leben in einer Zeit des Übergangs, in der Nervenüberreizung, Nerven- und Geisteskrankheiten, die Zeichen der bestehenden Gärung, in erschreckender Weise zunehmen. Die unbrauchbaren Teile, dem Streit ums Dasein in seiner neuen Form nicht gewachsen, werden müde und gebrochen beiseite geschoben, nach ewig unabänderlichem Naturgesetze, und neue, kräftige Elemente nehmen die leere Stelle ein.

Während bisher die Frau dem an Muskelkraft ihr weit überlegenen Manne stets nachstehen musste, hat sie jetzt, in diesem Zeitalter sozialer Umwälzung, eine Stellung im öffentlichen Leben neben dem Manne eingenommen, denn in der Nervenkraft kann sie es vielen Männern gleichtun, manche sogar übertreffen.

Ob dieses Hervortreten der Frauen an die Öffentlichkeit in größerer Zahl eine vorübergehende oder eine bleibende Erscheinung ist, wird die Zukunft lehren. Meiner Ansicht nach dürfte auch hier wieder, wenn erst einmal der zukünftige Nervenmensch sich völlig entwickelt hat, der Mann dank seiner grösseren Fähigkeit zur individuellen Durchbildung den ersten Platz im Kampf ums Dasein behalten.

Einstweilen aber haben wir diesen Unterabschnitt der modernen gesellschaftlichen Kulturumwälzung, die Frauenbewegung, als soziales Moment zu berücksichtigen, und dazu, als besonders wichtig für unser Thema, die Folgen zu besprechen, die die moderne Frauenbewegung auf die Form der weiblichen Kleidung gehabt hat.

Wir können die Veränderungen, die an der weiblichen Kleidung in den letzten Jahrzehnten vorgenommen wurden, auf zwei verschiedene Einflüsse zurückführen, einen natürlichen, unbewussten, unwillkürlichen und einen künstlichen, bewussten und willkürlichen.

Der wichtigste Einfluss, der unbewusste, unwillkürliche ist die natürliche, notgedrungene Veränderung der weiblichen Lebensweise, auf welche oben bereits aufmerksam gemacht wurde.

Wie in der naturgemäßen Kleidung, der Volkstracht, so hat auch in der Mode die Beschäftigung der Frau mit körperlichen Übungen eine Frucht gezeitigt, die dafür mehr geeignet war. Neben Straßen-, Gesellschafts- und Haustoiletten haben sich für das Reiten und das Bergsteigen, das Turnen, das Schwimmen, das Baden, namentlich in Seebädern, und in reichstem Maße für das Radfahren besondere, durch die öffentliche Meinung anerkannte Kostüme entwickelt, die oft in sehr erheblichem Maße von althergebrachten Gebräuchen abweichen.

Die größte Revolution in der Kleidung haben entschieden diejenigen unter den Radfahrerinnen zu Stande gebracht, die statt des Rockes die Hose anzogen.

Sehr charakteristisch ist der Ausruf des kleinen Mädchens aus den Fliegenden Blättern beim Anblick seiner Tante im Radkostüm: „Mama, die Tante hat ja Beine.“

Es ist keine Schande mehr, wenn eine Dame öffentlich die Form ihrer Beine zur Schau trägt. Wer hätte das vor 20, ja vor 10 Jahren für möglich gehalten? Das Fahrrad hat Wunder getan, aber nicht nur in dieser Beziehung. Auch die Straßenkleider sind fußfreier, das Korsett ist bei allen sportübenden Mädchen und Frauen kleiner und leichter, zum Teil selbst völlig abgelegt worden, die Zahl und das Gewicht der Unterkleider sind bedeutend vermindert; die Bekleidung der Füße ist leichter und zweckmäßiger geworden.

Wir können den Wert dieses gesunden Strebens nach körperlicher Bewegung, nach leichterer zweckmäßiger Bekleidung, für die Erhaltung der Lebensfähigkeit des Menschengeschlechts nicht hoch genug anschlagen. Es ist ein natürliches Gegengewicht gegen die stets höher werdenden Ansprüche an die geistige menschliche Leistungsfähigkeit. Wo der Geist so voranschreitet, will der Körper auch sein Recht haben. Dieses im Geist der Zeit liegende, durch den Selbsterhaltungstrieb gebotene Wiedererwachen des Interesses am menschlichen Körper finden wir ebenfalls beim männlichen Geschlecht, das in noch weit höherem Masse dem Sport huldigt, und in noch ausgedehnterem Masse die Kleidung ablegt, oder auf das Notwendigste zurückbringt. Wir sehen es auch an dem größeren Interesse, das der Darstellung des Nackten in der Kunst entgegengebracht wird, an dem Geschmack der großen Masse bei öffentlichen Schaustellungen: an die Stelle der steifen, weitabstehenden Ballettröckchen sind die enganliegenden, die Form des Körpers scharf zeichnenden Kostüme getreten, an die Stelle der Zauberer und Taschenspieler die plastischen Gruppen und lebenden Bilder.

Allerdings meint auch hier wieder an vielen Plätzen eine hochwohllöbliche Polizei im Interesse der Sittlichkeit ihre väterliche Macht ausüben zu müssen, und leider sind die meisten ihrer Vertreter, bis in den Reichstag hinauf, weder künstlerisch noch wissenschaftlich genug entwickelt, um Nacktheit und Unsittlichkeit unterscheiden zu können; aber ich glaube, dass das Gesunde in der herrschenden Richtung sich trotz alledem Bahn brechen wird, dass die Zeit den Weizen von der Spreu scheiden wird, und so Gott will, blüht auch uns einmal solch ein goldenes Zeitalter von Schönheit und Kunst, wie es den alten Griechen einstmals beschieden war.



Neben dem Gefühl für das Schöne bricht sich aber in letzter Zeit auch das Interesse an den Erfolgen der Wissenschaft in immer weiteren Kreisen Bahn, und wie in allen anderen Fragen des menschlichen Daseins, so spielt auch in der Kleiderfrage die Hygiene eine stets größere Rolle.

Gegenüber dieser im stillen sich vollziehenden, allmählichen Umwandlung alter Sitten steht die bewusste, in Vereinen, Sitzungen, Zeitungen und Flugschriften sich kundgebende Bewegung der Reformkleidung des weiblichen Geschlechts.

Bereits im Jahre 1851 erfand Amelia Bloomer ein aus kurzem Rock und weiter Hose bestehendes Reformkostüm, das, von Mitmenschen und Witzblättern dem öffentlichen Spotte preisgegeben, nach wenigen Jahren das Zeitliche gesegnet hat. Im Jahre 1874 wurde in Boston eine Frauenvereinigung für Reformkleidung errichtet und nach wenigen Monaten wieder aufgelöst.

Derartige Beispiele lassen sich in großer Anzahl anführen; keine einzige Vereinigung jedoch ist bekannt, die mehr als einige kurze Jahre bestanden hat.

Dieser geringe Erfolg bei scheinbar so viel gutem Willen ist leicht zu erklären. Zunächst ist der gute Wille allein nicht genügend, es gehört auch einige Sachkenntnis dazu.

Als Beispiel, wie leichtfertig bisweilen eine „Verbesserung“ der Frauenkleidung anempfohlen wird, diene das beifolgende Reklamebild (Fig. 264), das in der Weihnachtsnummer des Figaro illustre im Jahre 1891 eine „Révolution dans la toilette“ ankündigte und auch von anderen Reformfirmen, in Holland und anderswo, adoptiert wurde.

Fig. 264. Reformkleidung aus Figaro illustré 1891. Fig. 265. Körperumrisse von Fig. 264.

Im begleitenden Text wird hervorgehoben , dass bei diesem Kostüm der Druck der Kleider zum Teil auf die Schultern übertragen wird, dass die schnürenden Bänder durch Knöpfe ersetzt sind, und in der Tat erscheint das Bild auf den ersten Blick recht ermutigend. Wenn wir aber den Körperumriss eintragen (Fig. 265), dann haben wir eine Missgestalt vor uns, die die kühnsten Träume des Rokoko noch bei weitem hinter sich lässt und den alten Sömmering in seinem Grabe zum Perpetuum mobile machen könnte.

Hier wird nicht nur die Taille im höchsten Maße zusammengepresst, sondern außerdem durch die Schulterbänder auch der obere Teil der Lungen in seiner Tätigkeit gehemmt, ein großer Fehler, den übrigens so manche andere, selbst von Ärzten empfohlene Reformkorsetten teilen.

Abgesehen von der mangelnden Sachkenntnis ist aber das Scheitern des Erfolgs einem allgemeinen Charakterzug zuzuschreiben, der die Frauen, welche in größeren Massen an die Öffentlichkeit treten, kennzeichnet. „Sie werden zu Hyänen,“ sagt Schiller. Alles ist in ihren Augen schwarz oder weiß, gut oder schlecht, ein Mittelding gibt es nicht. Statt die Vorzüge des Korsetts, seine Notwendigkeit für zahlreiche schlecht gebaute Frauen anzuerkennen und seine Fehler zu verbessern, wird kurzer Prozess gemacht, und die Losung: „Weg mit dem Korsett“ auf die Fahne geschrieben.

Außerdem aber geht dieser offizielle Radikalismus gepaart mit einer unergründlichen, nicht offiziellen Inkonsequenz.

Das Korsett wird im Hauptartikel verdammt, verhöhnt, mit Füssen getreten, weggeworfen — und im Reklameteil werden statt dessen die Gesundheitskorsetts, Reformkorsetts, Reformleibchen, Brustgürtel mit verlockenden Namen wie Hygiea, Liebling, Freiheit, Es ist erreicht. Heureka u. s. w. wärmstens empfohlen, und wenn man sie bei Licht betrachtet, sind sie genau dasselbe geblieben, und nur ein wenig hässlicher geworden. „Le roi est mort, vive le roi!“

Die Folge dieses radikalen Vorgehens ist, dass die besten Stützen einer Reformkleidung, die wirklich schönen Frauen, die den ganzen Zauber nicht nötig haben, sich zurückziehen, weil sie sich nicht kompromittieren wollen, und die hässlichen beschämt von dannen schleichen, weil sie nicht überzeugt genug von der guten Sache sind, um ihr mit dem Korsett den letzten Schein von Schönheit zum Opfer bringen zu wollen. Und der Mittelschlag, der übrig bleibt, fristet ein künstliches Bestehen, bis der Mangel an Erfolg Ermüdung und damit das Aufhören der idealen Bestrebungen herbeiführt.

Im Grunde genommen ist die heutige Reformkleidung nichts anderes als eine Wiederaufnahme des vor hundert Jahren modern gewesenen Empirekostüms.

Als Hauskleid, Peignoir und Morgentracht hatte diese Kleiderform schon lange Bürgerrecht erworben. Neu ist nur, dass es jetzt auch aus groben und schweren Stoffen hergestellt und auch auf der Straße getragen wird.

Was für das Empirekleid galt, wird auch für das Reformkleid gelten. Es wird sich aus praktischen und ästhetischen Gründen außer dem Hause nicht halten können. Außer den oben angeführten Gründen haftet dieser Tracht ein künstlerischer Fehler an, auf den Bildhauer Karl Maria Schwerdtner in einem fesselnden Vortrag in Wien zuerst aufmerksam gemacht hat. Beim Gehen pendelt das Bein aus der Hüfte, während das Reformkleid von der Schulter aus pendelt, so dass diese ungleich langen Pendelbewegungen den Gang erschweren und die Kleiderfalten unschön brechen. Daraus ergibt sich, dass dies Kostüm für die rasche Bewegung außer dem Hause ebenso unzweckmäßig wie hässlich ist.

Einer schärferen Kritik hält kaum eines der vielfachen, mit großen Worten angepriesenen sogenannten Reformkostüme Stand, auf die näher hier einzugehen ich gerne verzichte.

Alle diese Reformbestrebungen lassen sich vergleichen mit dem Versuch, ein baufälliges Haus neu zu tapezieren und anzustreichen, statt erst die Fundamente gehörig auszubessern. Das Haus scheint neu und bleibt doch ebenso baufällig wie vorher; ein leichter Windstoß — und es stürzt zusammen.

„Also sollen wir,“ wird mir die überzeugungstreue Reformlerin zurufen, „unsere Hände in den Schoß legen und ruhig das mordende, menschentehrende Folterwerkzeug weiter tragen?“

Meine Antwort, gnädige Frau, ist ja und nein. Ja, denn solange Sie noch Reformleibchen anbefehlen, beweisen Sie, dass Sie ein derartiges Kleidungsstück nicht entbehren können.

Ja, denn ein von künstlerischen Händen — es gibt auch in dieser Branche Künstlerinnen — in Paris genau nach dem Körper gebildetes Korsett ist immer noch hundertmal besser, gesunder und kleidsamer, als alle die zahlreichen, der spekulativen Phantasie unästhetischer Seelen entsprossenen Reformgedanken.

Ja, denn die meisten Frauen wollen lieber krank als hässlich sein.

Nein, denn wie alles in der Welt ist auch das heutige Korsett nicht vollkommen, und darum kann es verbessert werden. Nein, denn, wie oben nachgewiesen wurde, sind von 100 jetzt lebenden Frauen 5, sage fünf, die ein Korsett nicht nötig haben, und es liegt nur an Ihnen und Ihresgleichen, gnädige Frau, um die Zahl derselben zu vermehren.

Unter den zahllosen Modellen von Korsetten aller Art, die ich sah und die mir zugeschickt wurden, zeichnen sich die sogenannten Gesundheits- oder Reformkorsetten meist neben ihrer Unzweckmäßigkeit durch große Plumpheit aus; sehr viele darunter sind außerdem noch schlechter, als die jetzt üblichen, weil sie einen Teil der Kleiderlast auf die Schultern übertragen wollen. Damit kommt man aus dem Regen in die Traufe und verdirbt Unterleib und Oberleib zusammen.

Von den jetzt bestehenden Korsetten entspricht das französische „Corset ceinture“ (Fig. 230) bei leichter Kleidung und normalem Körper allen Anforderungen.

Von den sogenannten Verbesserungen ist nur eine Form hervorzuheben, die wirklich dem Anspruch der Verbesserung für korsettbedürftige Frauen genügt. Dies ist das Korsett von Frau Dr. Gaches-Sarraute, das von der Erfinderin in einem sehr elegant geschriebenen Buche bekannt gemacht wurde*).

*) Mme Gaches-Sarraute, Docteur en Médecine: Le Corset, étude physiologique et pratique. Paris, 1900, Masson.

Frau und Arzt zugleich, ist Frau Gaches-Sarraute mehr als irgendwer berechtigt, als Sachverständige in dieser Frage aufzutreten.



Bei der Konstruktion ihres Korsetts ging sie von der allein richtigen Auffassung aus, dass die knöcherne Unterlage des Skeletts auch die von der Natur aus bestimmte Stütze für die Kleidung sein müsse.

In Fig. 266 a, b, c sind die dicht unterhalb der Haut liegenden festen Teile des Beckengürtels mit punktierten Flächen bezeichnet, und ebenso der untere Teil des Brustkorbs; die gestreiften Teile unterhalb des Beckengürtels bezeichnen die Region, innerhalb welcher am Gürtel eine Last angebracht werden kann, ohne auf die weichen Teile der Bauchhöhle zu drücken. — Frau GachesSarraute war so freundlich, mir die Reproduktion zweier Abbildungen aus ihrem Buche zu gestatten (Fig. 267, 268), welche besser als viele Worte die Bedeutung ihres Korsetts illustrieren. Wo eine Stütze für die sinkende Büste nötig ist, wird dieselbe in Form eines Leibchens unabhängig vom Korsett angebracht.

Fig. 266 a, b, c. Die natürlichen knöchernen Stützpunkte für das Korsett.
Fig. 267. Normaler weiblicher Körper nach Dr. Gaches-Sarraute. Fig. 268. Dasselbe Mädchen mit Korsett Gaches-Sarraute.


Das Korsett GachesSarraute gestattet vor allem fehlerhaft gebauten und kranken Frauen, dem Körper eine bessere Form zu geben und hat außerdem orthopädische Zwecke, die jeder Arzt sich zu nutze machen kann.

Wissbegierige Leserinnen verweise ich auf das Original.

Mit voller Anerkennung aller dieser und ähnlicher ernsten Bestrebungen, die jetzige Frauenkleidung zu verbessern, müssen wir aber hervorheben, dass die Kleidung selbst nicht die Hauptsache ist, die verbessert werden muss. Der Schwerpunkt liegt tiefer.

Wie uns das Vorbild aus der klassischen Griechenzeit gelehrt hat, wird die Kleidung von selbst besser, leichter und schöner, sobald der Körper gesunder und schöner wird, und zu diesem Zwecke ist Körperpflege und Körperübung die Hauptsache.

Wenn wir zu der oben aufgestellten Übersicht der Schädlichkeiten, die die weibliche Schönheit bedrohen, zurückkehren, so finden wir zunächst 25 Frauen, die ihre Schönheit durch unzweckmäßige Behandlung bei Geburt und Wochenbett eingebüßt haben.

Derartige 25 können zunächst gerettet werden. Man lege das Korsett in der ersten Hälfte der Schwangerschaft ab, ersetze es durch eine den Unterleib stützende und hebende Leibbinde, und trage weite, leichte, lose Kleider. Nach der Geburt binde man den Leib so fest wie möglich ein. Am geeignetsten dazu ist die indische „Gurita“ (Fig. 269), ein doppelter Leinwandlappen, von dem die inneren Blätter fest angezogen, und die äußeren, gespaltenen, darüber so fest wie möglich zugeknüpft werden. Noch größeren Halt gewährt die Gurita, wenn man sie bis zum oberen Drittel des Oberschenkels (Fig. 269, a) verlängert. Man bleibe mindestens 10 Tage im Bette und trage die feste Binde mindestens 4 Wochen, vom Tage der Geburt angerechnet. Da die Scheu vor dem festen Binden namentlich in Deutschland und Frankreich, in geringerem Masse auch in Niederland einheimisch ist und auch von manchen Ärzten noch verteidigt wird, so kann man erwarten, dass eine Verbesserung der Auffassung gerade in diesen Ländern so manche Frau, die noch Mutter werden soll, zu retten im Stande ist.

Fig. 269. Indische Gurita

Von 100 im Jahre 1880 geborenen Mädchen könnten demnach 30 (die 5 normalen mitgerechnet) einen normalen, nicht korsettbedürftigen Körper behalten.

Des weiteren haben wir 20 Mädchen, die im 20. Jahr ihren Körper durch starkes Schnüren, Essigtrinken u. s. w. verdorben haben.

Die in 1880 Geborenen sind bereits verloren; aber die in 1890 Geborenen können wir noch retten. Wir lassen sie, da sie noch minorenn sind, keine Korsetten tragen, enthalten ihnen den Essig und andere Dinge und beschäftigen sie mit körperlichen Übungen, in leichten, lose sitzenden Kleidern, und wenn wir das tun, dann haben wir in 10 Jahren statt 30 schon 50 nichtkorsettbedürftige Körper.

Die 50 anderen aber werden das Korsett auch dann noch nötig haben, es sei denn, dass es der allgemeinen besseren Hygiene gelingt, auch der Schwindsucht, der englischen Krankheit und ähnlichen Zuständen eine größere Anzahl Opfer zu entziehen.

Mit besserer Hygiene in der Lebensweise kann aber auch jetzt schon sehr viel getan werden, und dadurch wenigstens mittelbar eine Verbesserung der Kleidung erzielt werden.

Zunächst ist der Gebrauch von Seife und Wasser auch in besseren Kreisen noch lange nicht so verbreitet, als wünschenswert ist. Die meisten begnügen sich mit einem sogenannten Reinigungsbad in der Woche. Das ist lange nicht genug. Wer sich erst einmal an das tägliche kalte Bad, das im Winter durch die kalte Dusche ersetzt werden kann, gewöhnt hat, der begreift nicht, dass es Menschen gibt, die diesen Genuss entbehren können. Die Blutzirkulation wird erhöht, die Haut erhält einen schöneren Teint (kaltes Wasser war bekanntlich das Schönheitsmittel der Ninon de Lenclos), der Körper wird abgehärtet gegen Kälte und Erkältung, man fühlt sich frischer und kräftiger.

Ein zweites Erfordernis ist regelmäßige Bewegung in frischer Luft; wen sein Beruf verhindert, dies selbst zu tun, der sollte wenigstens seinen Kindern diese Gelegenheit, wo nötig, aufdringen, um den Lungen die erforderliche Nahrung zu geben. Lawn-Tennis, Turnen, Schwimmen, Reiten und vor allen das Fahrrad geben Gelegenheit genug zu reichlicher und abwechselnder Körperübung.

Aber diese Übungen würden ihren Zweck verfehlen, wenn sie bis zur Übermüdung fortgesetzt würden, und da ist es wieder eine an und für sich scheinbar nebensächliche, in Wirklichkeit aber unendlich wichtige Frage, in welcher Weise ausgeruht werden soll. Bei uns wird in der Pause, beim Turnen z. B., gestanden, in selteneren Fällen gesessen; beides ist gleich verkehrt. In Amerika wird, wie mir Dr. Engelmann aus Boston erzählte, in allen Schulen, hauptsächlich in den Mädchenschulen, in liegender Stellung ausgeruht; entweder lang auf auf dem Boden oder auf etwas schrägen Bänken. Dies ist die einzige Lage, in der der Körper wirklich ausruhen kann, und es wäre zu wünschen, dass andere zivilisierte Staaten sich Amerika zum Vorbild nähmen. Auch zu Hause müssten wachsende Kinder stets Gelegenheit haben, lang aus liegen zu können; dass das Bedürfnis dazu naturgemäß besteht, weiß jede Mutter, der es schwer fällt, den Kindern das „Herumrekeln“ abzugewöhnen.

Ein drittes Erfordernis für die gleichmäßige Entwicklung des Körpers ist eine zweckmäßige Ernährung. Gute Fleischkost ist unentbehrlich, und wo sie durch ein Übermaß von weniger nahrhafter, dafür aber desto voluminöserer Pflanzenkost ersetzt wird, leidet die Schönheit der Körperformen, statt Muskeln wird Fett angesetzt, die Gedärme, die eine viel größere Masse an Nahrung zu beherbergen haben, dehnen sich aus und machen den Bauch dick und gespannt. Ein gutes Vorbild derartiger Ernährung sind die dicken Reisbäuche indischer Kinder. Solcherweise genährte Individuen stehen zu den mehr mit kräftiger Fleischkost gefütterten in demselben Verhältnisse wie das plumpe Hörnervieh zum zierlichen, zähen Körper des Raubtiers.

Ein vierter Fehler ist das Übermaß in der Kleidung. Durch die künstliche Wärme wird allerdings das Bedürfnis nach Nahrung geringer, anderseits aber die freie Bewegung erschwert und der Stoffwechsel aus beiden Gründen vermindert.

Die wichtigsten Fehler in der heutigen Lebensweise sind demnach in kurzen Worten: Zu viel Kleider, zu viel Essen, zu wenig Bewegung und zu wenig Reinigung der Haut.

Es ließen sich noch zahlreiche andere Vorschriften über Ernährung, Einrichtung der Zimmer u. s. w. anführen *), die genannten aber, viel kaltes Wasser und viel frische Luft, zweckmäßige Bewegung, zweckmäßige Kleidung und Nahrung sind die wichtigsten. Befolgt man sie, dann macht sich gar bald die Überzeugung geltend, dass man viel zu warm gekleidet ist, alle die fürchterlichen Erzeugnisse auf dem Gebiet der Unterkleidung, von dem dicken, geh?kelten, roten Unterrock der deutschen „Mulier domestica“, von der flanellenen Unterhose der Niederländerin bis zu der schmutzigbraunen „Kombination“ der Engländerin erscheinen überflüssig, und, von seiner schweren Last entfrachtet, bewegt sich der Körper freier und ungezwungener, die Rolle des Korsetts als „Schmuckträger“ ist leichter geworden, es nimmt an Schwere und Umfang ab im Verhältnis mit der Abnahme der Kleiderlast, und damit schwindet seine Schädlichkeit für den Körper. Namentlich innerhalb des Hauses ist es ratsam, leichte, lose Kleider zu tragen. Der oben erwähnte japanische Kimono, der bei vielen holländischen und indischen Frauen sich schon lange eingebürgert hat, ist zum Hauskleid vortrefflich geeignet.

[i]*) In vortrefflicher, übersichtlicher Weise sind dieselben besprochen in der sehr empfehlenswerten Broschüre von David Hansemann: „Die Krankheiten aus den Gewohnheiten und Missbräuchen des täglichen Lebens“. Berlin, G. Reimer, 1900.[/b]

Auf der Straße muss man sich nun einmal nach der herrschenden Mode richten. Doch gestattet die Mode, fußfreie Kleider zu tragen, und es empfiehlt sich, dass alle Damen davon Gebrauch machen, die nicht überwiegende Gründe haben, ihre zu plumpen oder zu großen Füße oder ihre krummen Beine zu verbergen.

Außer dem Kleid, das der herrschenden Mode entsprechen muss, und dem eventuell nötigen Korsett genügt als Vervollständigung der Kleidung ein Hemd, ein Unterrock, Beinkleider und lange Strümpfe, die am Korsett über dem Hemd befestigt werden. Bei größerer Kälte und außerhalb des Hauses kann statt der dünnen Batisthose eine wärmere von Tuch oder Samt getragen werden.



Als Fehler in der Frauenkleidung, die schon jetzt ohne weiteres verbessert werden können, finden wir:

1. Zu starkes Schnüren des Korsetts.
2. Zu viel Unterkleider.
3. Zu schwere und zu lange Kleider (letzteres namentlich außerhalb des Hauses zu vermeiden).
4. Zu enge Schuhe.
5. Strumpfbänder.

Was diese letzteren anbetrifft, so sind, außer den ganz langen Strümpfen, die am Korsett befestigt werden, namentlich für Kinder, die kurzen Socken empfehlenswert.

Wie ich mich in Paris, Wien und München, in seltenen Fällen auch in Berlin überzeugen konnte, gibt es verschiedene Damen, die sich genau nach der Mode zweckmäßig und in einer Weise kleiden, die den Körper in keiner Art schädigt und dabei doch schön ist. In ihnen ist das höchste bisher erreichte Entwicklungsstadium der Frauenkleidung verkörpert. Solche Frauen sehen unbekleidet, in jedem Stadium der Entkleidung und in voller Kleidung schön aus.

Dass trotz der gegebenen Möglichkeit, sich schön zu schmücken, nur wenige davon Gebrauch machen, liegt weniger an dem Mangel von Mitteln, sich die Kleider zu verschaffen , als vielmehr an dem Mangel an Geschmack, die für sie passenden Kleider auszusuchen. Manchen genügt es, ein passendes Oberkleid gefunden zu haben, nur bei wenigen ist der Sinn für Harmonie in der Kleidung so weit entwickelt, dass sie auf die Wahl der einzelnen Teile der Unterkleidung die gleiche Sorgfalt verwenden. Gesehen wird es ja doch nicht! Die wenigsten Frauen wissen sich so zu kleiden, dass alles, was sie anhaben, zu ihnen und ihrer Umgebung passt. Wie das Oberkleid mit den Unterkleidern, so müssen diese mit dem Körper, das Ganze mit den Möbeln, oder auf der Straße mit der Umgebung einen harmonischen Eindruck machen. Aber ebenso wie ein vollendeter Körper findet sich ein vollendeter Geschmack nur bei wenigen Frauen. Hierin sind auch heute noch die Französinnen allen ihren Schwestern bei weitem überlegen.

Fassen wir zum Schlüsse die Moral der gefundenen Tatsachen zusammen, dann lautet diese:

Die heutige moderne Frauenkleidung ist das bisher erreichte Endergebnis einer jahrtausendlangen Entwicklung der Körperverzierung. Auch sie bildet nur eine Stufe zu einer stets weiter fortschreitenden Ausbildung, bei der, wie bisher, in erster Linie die Schönheit des Schmuckes den Ausschlag gibt, sie vollzieht sich ganz allmählich durch Selektion von selbst, indem die fehlerhaften Formen immer wieder durch bessere verdrängt, die Übertreibungen der Mode von selbst wieder ausgeglichen werden. Auch die Reformbewegung der letzten Jahre ist nichts weiter als eine vorübergehende Mode, die auf den normalen Entwicklungsgang der Frauenkleidung ungefähr denselben Einfluss haben wird, wie seinerzeit die Homöopathie auf die Allopathie.

Die Frauenkleidung ist festen, unabänderlichen Gesetzen unterworfen, sie dient ausschließlich zum Schmuck des Körpers und wird geringer und dadurch besser, wenn der Körper schöner wird. Eine Verbesserung der Frauenkleidung lässt sich nur erreichen, wenn man die Gesetze, denen sie unterworfen ist, sorgfältig beobachtet. Mit anderen Worten: Man suche nicht die Frauenkleidung zu verbessern, sondern beginne mit der Verbesserung des Inhalts, mit der Frau.

Wenn wir uns vorurteilslos fragen, wie dies Ziel zu erreichen sei, so gibt es darauf nur eine Antwort: Das einzige Mittel, eine Verbesserung und Verschönerung der Frau zu erreichen, ist eine gesunde und auf die gleichmäßige Ausbildung des Körpers gerichtete Erziehung des heranwachsenden Geschlechtes.

Die Reform der Frauenkleidung liegt in der Hand der Mütter. Aber nicht dadurch werden sie ihren Zweck erreichen, dass sie sich selbst in phantastische Gewänder hüllen, sondern dadurch, dass sie den Körpern ihrer Töchter die sorgfältigste Pflege angedeihen lassen. Was dort versäumt wurde, das rächt sich später im großen Kampf ums Dasein, der unerbittlich vernichten wird, was menschlicher Unverstand geschwächt hat.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
264. Reformkleidung aus Figaro illustre. 1891 und 265. Körperumrisse von Fig. 264

264. Reformkleidung aus Figaro illustre. 1891 und 265. Körperumrisse von Fig. 264

266 a, b, c. Die natürlichen knöchernen Stützpunkte für das Korsett

266 a, b, c. Die natürlichen knöchernen Stützpunkte für das Korsett

267. Normaler weiblicher Körper nach Dr. Gaches-Sarraute und 268. Dasselbe Mädchen mit Korsett Gaches-Sarraute

267. Normaler weiblicher Körper nach Dr. Gaches-Sarraute und 268. Dasselbe Mädchen mit Korsett Gaches-Sarraute

269. Indische Gurita

269. Indische Gurita

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