Die Standestrachten

Neben den eigentlichen Volkstrachten finden sich vereinzelt auch verjährte Trachtenformen, die gewissen Ständen oder Berufen eigentümlich sind. In früheren Zeiten waren diese Unterschiede viel schärfer ausgeprägt, und sowohl Männer als Frauen waren schon von weitem an ihren Kleidern zu erkennen; nicht nur Bauern, Bürger und Adelige, sondern auch die verschiedenen Berufe der einzelnen Klassen hatten ihre bestimmten Merkmale.

Heutzutage sehen wir nur noch bei einzelnen Beamten und beim Militär den Stand in der Kleidung vertreten, und vielleicht kann das Grün des Jägers, das Weiß des Bäckers und das Schwarz des Schornsteinfegers auch als Standestracht aufgefasst werden. Bei den Frauen aber macht sich außer einer geringeren und grösseren Eleganz kaum noch ein Unterschied der Stände in der äußeren Erscheinung bemerkbar. Nur die Nonnen und die Krankenpflegerinnen machen davon eine Ausnahme.


Von alten Standestrachten haben sich in Niederland in allen grösseren Städten die Trachten der Waisenmädchen erhalten. Fig. 200 zeigt ein Waisenmädchen aus Amsterdam. Den Farben der Stadt entsprechend sind die beiden Hälften der Kleidung abwechselnd aus rotem und schwarzem Tuch angefertigt. Dazu kommt die weiße Haube, das weiße Brusttuch und die weißen Stulpen, die die Vorderarme bekleiden.



Fig. 200. Waisenmädchen aus Amsterdam.

Außer ihnen sind es namentlich die Dienstmädchen, die noch ziemlich allgemein in Holland durch ein besonderes Merkmal, die Haube, ausgezeichnet werden.

Häufig genug findet man in den Zeitungen Anfragen von gewissenhaften Hausfrauen mit der Bemerkung: Muts dragen vereischte (das Tragen der Haube wird verlangt), womit dem auch hier allgemeinen Drang nach oben soviel möglich gesteuert werden soll. Aber auch ein Dienstmädchen ist ein Mensch und wenn es Sonntags seine Haube abgelegt hat, sieht es oft noch eleganter aus als seine gestrenge Herrin.

Die Haube im Dienstmädchenstand findet sich auch heute noch, obgleich nur vereinzelt, in Hamburg (Fig. 201).

Fig. 201. Dienstmädchen aus Hamburg

Eine andere Berufstracht, die allgemein bekannt ist, tragen die leider immer mehr aussterbenden Wiener Wäscherinnen (Fig. 202). Jetzt, wo alles mit Dampf geht, hat sich der Beruf der Wäscherin für die großen Städte überlebt, und wie mir Eingeweihte versichern, ist auf dem berühmten Wiener Wäschermädelball kaum eine echte Wäscherin zu finden.

Fig. 202. Wäschermädel aus Wien. (Phot. O. Schmidt.)

Noch rascher als die Volkstrachten auf dem Lande werden diese spärlichen Überreste der einst so farbigen und schönen Ständetrachten der Städte vor der Nüchternheit des modernen Kampfes ums Dasein verschwinden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
200. Waisenmädchen aus Amsterdam

200. Waisenmädchen aus Amsterdam

201. Dienstmädchen aus Hamburg

201. Dienstmädchen aus Hamburg

202. Wäschermädel aus Wien

202. Wäschermädel aus Wien

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