Die moderne europäische Frauenkleidung

Draußen auf der Heide blüht die bescheidene wilde Rose in ihrer einfachen Schönheit, drinnen im Garten aber prangen die wunderbarsten Gebilde, die Gloire de Dijon, Souvenir de Mal Maison, La France, Marechal Niel und tausend andere Blüten in allen Farben, in reichem Blätterkleid, mit berückendem Duft im lieblichsten Wechsel. Und doch sind auch sie lauter Rosen, denen die Kunst und Geduld des Gärtners solch seltsame, bezaubernde Formen gegeben hat, und wir bewundern und lieben die Königin der Blumen in jeglicher Gestalt, in der sie sich uns zeigt.

Ein ähnliches Gefühl beschleicht uns, wenn wir die einfache Volkstracht mit den farbigen und seltsamen Hüllen vergleichen, mit denen die Frauen, den Launen der Mode folgend, ihre zierlichen Gestalten verzieren. Aber wie bei der Rose in ihren verschiedenen Offenbarungen, so wissen wir auch bei der Frau, dass unter den wechselnden farbigen Hüllen stets dieselbe schöne Blüte versteckt ist, und wenn die letzte Hülle fällt, steht das nackte Weib auch heute noch in derselben vollkommenen Schönheit und Vollendung vor uns, wie vor Tausenden von Jahren, „so herrlich wie am ersten Tag“.


Was das Treibhaus für die Rosen, das ist die Mode für die Frauen.

Streng genommen hat die Mode bereits von dem Augenblick an bestanden, als die Menschen anfingen, ihre Körper zu verzieren.



Wir haben oben bereits gesehen, dass das Schamgefühl nichts anderes ist, als Verlegenheit und Beschämung über das Fehlen eines von der herrschenden Sitte vorgeschriebenen Zierrates. Von jeher ist dies Gefühl bei der Frau viel stärker gewesen als beim Mann; denn die Frau hält mit viel mehr Liebe und Zähigkeit an den althergebrachten Gebräuchen fest, während der tatkräftige Mann viel eher zu Neuerungen geneigt ist; die Frau vergegenwärtigt das konservative, der Mann das fortschrittliche Element in der Familie. Wir haben auch gesehen, dass die Frauen, in noch viel höherem Maße als der Mann, kein Opfer scheuen, bereitwillig die größten Schmerzen aushalten und sogar ihren Körper verstümmeln lassen, um ihn der herrschenden Sitte gemäß schmücken und verzieren zu können.

Eines der sprechendsten Beispiele hierfür ist die scheußliche Sitte der Infibulation, der sich noch heute viele Mädchen der Sudanesen, Somali und Galla ohne Murren unterwerfen, weil sie wissen, dass sie dadurch in den Augen des Mannes an Wert steigen.

Diese blinde Unterwerfung unter die herrschenden Gebräuche, dieses ängstliche Festhalten an allem Hergebrachten, das tiefe Gefühl der Scham, verletzten Eitelkeit und Entehrung, das sich mit dem Wegnehmen des gebräuchlichen Kleidungsstückes oder Zierrates verbindet, bestand bei den beinahe nackten Naturvölkern von jeher in gleich starkem Masse wie bei den höchst entwickelten kultivierten Völkern. Eine Feuerländerin schmiert mit derselben gewissenhaften Sorgfalt auf ihren nackten Körper die vorgeschriebenen weißen und schwarzen Längsstreifen, mit der die Japanerin die künstlichen Falten ihrer zahlreichen farbigen Kimonos übereinander zurechtlegt. In diesem Sinne hat die Mode von jeher bestanden.

Wenn wir aber heutzutage von der Mode im europäischen landläufigen Sinn sprechen, dann verstehen wir darunter nicht jenes natürliche Festhalten an der durch das Herkommen geheiligten Kleidung, die für die Trägerin oder den Träger ein geschätztes Abzeichen seines Standes und seiner Herkunft ist, sondern vielmehr ein erst den letzten Jahrhunderten eigentümliches Streben nach einer gemeinschaftlichen, die persönliche Stellung möglichst verbergenden Kleidertracht, die jedermann ermöglichen soll, es allen anderen gleichzutun. Und nun einmal die Mode in diesem Sinne von der Tradition geheiligt ist, ist es wiederum die Frau, die ihren Gesetzen mit noch weit ängstlicherer Gewissenhaftigkeit gehorcht als der Mann.

Die heutige Herrenmode empfängt in letzter Zeit ihre Gesetze größtenteils aus London, die Damenmode wird immer noch von Paris aus beherrscht, während früher auch Italien, Spanien und die Niederlande einen schwerwiegenden Einfluss ausübten. Seit der glänzenden Zeit der französischen Ludwige jedoch ist Paris die Hauptstadt der Mode geworden und ist es bis heutigen Tages geblieben.

Die männliche moderne Kleidung hat sich völlig das arktische Prinzip: Hose, Ärmeljacke und Stiefeln, angeeignet, die weibliche dagegen ist dem tropischen Prinzip mit dem um die Körpermitte befestigten Rock treu geblieben. Auch die zeitweise von der Mode vorgeschriebene, mehr oder weniger ausgiebige Entblößung der Arme und des Oberkörpers und das Streben, dessen Formen möglichst deutlich hervortreten zu lassen, entspricht völlig den tropischen Überlieferungen der Betonung des Oberkörpers. Die Strümpfe und Schuhe, das einzige Kleidungsstück, was rein arktisch ist, sind bei den Frauen meist viel leichter und dünner gearbeitet als bei den Männern.

Trotz dieser Übereinstimmung im großen ganzen ist das moderne weibliche Kostüm doch sehr beträchtlich von der natürlichen Form abgewichen und hat in verschiedenen seiner Unterteile eine wichtige und tiefgreifende Veränderung erfahren.

Der tropische Rock hat sich geteilt in das auch den Oberkörper verhüllende Oberkleid und den Unterrock, später hat sich davon das Hemd und noch später die Unterhose losgelöst.

Der tropische Gürtel ist allmählich ersetzt worden durch das Korsett.

Die der arktischen Kleidung entnommenen Schuhe, Strümpfe und Strumpfbänder bilden eine durch das Klima gebotene Erweiterung der tropischen Frauenkleidung.

Eine an und für sich unbedeutende, in seiner Wirkung auf die Bekleidung des ganzen Körpers aber sehr wesentliche Neuerung ist der an der Fußbekleidung angebrachte Absatz.

Der Einfluss, den der Absatz auf die Gestaltung sämtlicher Körperhüllen ausübt, erklärt sich durch die Veränderung der Gleichgewichtslage und damit der Haltung des ganzen Körpers.

Wenn der Körper auf der ganzen Sohle ruht, so nimmt er im aufrechten Stand eine Haltung ein, in welcher er mit der geringst möglichen Muskelanspannung im Gleichgewicht bleibt, die schlaffe Haltung (Fig. 206). Die Schultern sinken zurück, der Kopf ist nach vorn übergesunken, der Bauch wird vorgestreckt und die Beine in den Knien leicht nach vorn durchgebeugt.

Fig. 206. Schlaffe Haltung ohne Absätze. Fig. 207, Gestreckte Haltung mit Absätzen.

Erhöht man jedoch die Ferse durch Absätze, dann wird der Oberkörper über dem hohlen Kreuz gewölbt, die Brust tritt heraus, der Kopf wird gehoben, die Beine gestreckt und der Bauch eingezogen, der Körper stellt sich in die gestreckte Haltung (Fig. 207).

Tritt schon am nackten Körper in natürlicher Gleichgewichtslage die schlaffe Haltung einerseits, die gestreckte militärische anderseits deutlich hervor, so ist dies bei dem mit Kleidern beschwerten Körper in noch viel höherem Masse der Fall, und zwar desto mehr, je schwerer die Kleider sind. Von den leichtbekleideten Körpern griechischer Frauen finden wir viele Abbildungen in der ersten Haltung dargestellt, die meisten Künstler jedoch haben es vorgezogen, durch Nachhintenschieben des Beckens und leichtes Vornüberbeugen des Oberleibs eine für ihr Fühlen schönere Gleichgewichtslage herzustellen, wie sie in der Aphrodite vom Vatikan, sowie in der Aphrodite von Medici besonders gut zum Ausdruck kommt. Bei gehenden oder schreitenden weiblichen Figuren ohne starke Aktion wird jedoch die typische schlaffe Haltung wieder eingenommen, so in der verschleierten Aphrodite.

Der Einfluss des Absatzes, je nachdem er höher oder niedriger war oder ganz fehlte, auf die Verteilung des Gewichts der Kleidung ist aus dem Gesagten leicht abzuleiten.

Ebenso wie die Volkstracht schließt sich auch die moderne Frauenkleidung in Europa eng an den überwiegend weißen Rassencharakter an. Was die Kultureinflüsse anbelangt, so müssen wir sie, um diese höchste Ausbildung der tropischen Kleidung in ihren verschiedenen Nuancen gut verstehen zu können, etwas ausführlicher besprechen, als in dem vorigen Abschnitt geschehen ist.

In der klassischen Zeit Griechenlands hat dort die Kultur der weißen Rasse eine in ihrer Art einzige Blütezeit erreicht, deren Erzeugnisse auf dem Gebiet der bildenden Kunst und der Literatur weit hinaus über die engeren Grenzen ihrer Heimat und weit hinaus über die verhältnismäßig kurze Zeit ihres Bestehens der künstlerischen Auffassung der weißen Rasse ihren unauslöschlichen Stempel aufdrückten. Wir haben gesehen, wie das griechische Rassenideal mit der buddhistischen Kunst bis weit in die entlegensten Gegenden Asiens hinausgewandert ist und mehr, als wir uns bewusst sind, lebt auch in unserer Gedankenwelt der griechische Geist, trotzdem er Jahrhunderte hindurch von christlichem Formalismus und Dogmatismus bekämpft und unterdrückt worden ist.

Damals mussten die ersten Jünger Christi die übermächtige klassische Götterwelt mit allen ihnen zu Gebote stehenden Mitteln bekämpfen, aber nicht um die Vernichtung der damaligen hohen Kultur der Schönheit war es ihnen zu tun, sondern um Bekämpfung der Missbräuche, die unter dem Deckmantel der heiteren griechischen Götterwelt in dem verderbten und verweichlichten Rom eingerissen waren. Nicht dem strahlenden Kern erhabener, reiner Menschlichkeit, sondern der schmutzigen Schale sinnlicher Verderbtheit galt der Streit. Aber als er sich zu Gunsten der Christen entschied, da vergaßen auch diese das reine Ziel der erhabenen Religion christlicher Liebe, für das ihre Vorgänger gekämpft hatten, aus den Märtyrern wurden in Dogmatismen erstarrte Tyrannen, die mit der schmutzigen Schale auch den strahlenden Kern ihrer Gegner zu vernichten suchten, dabei aber ihr eigenes Licht mit einer trüben Hülle verdunkelten.

Wie sich im Streit um die Wahrheit trotz zeitweiser Niederlagen im Laufe der Zeiten alles ausgleicht und zum Fortschritt drängt, so hat auch der kulturhemmende Einfluss des Christentums nur eine Zeit lang die schönen Formen und freien Gedanken der griechischen Blütezeit in Fesseln legen können, bis diese mit frischer Kraft und in veredelter Form zu neuem Leben erweckt wurden.

„Das Echte bleibt der Nachwelt unverloren“, sagt der Dichter.

Dieser jahrhundertlange Streit zwischen den beiden höchsten Kulturmächten der europäischen weißen Rasse, Christentum und Hellenentum, dieser Streit, der noch lange nicht entschieden ist und dessen Ende — so Gott will, in nicht zu langer Zeit — zu einer Verschmelzung der idealen Güter nach Entfernung aller Schlacken führen muss, dieser Streit hat im kleinen auch auf die Frauenkleidung seinen nachhaltigen Einfluss ausgeübt.

Begeben wir uns von dem Schauplatz der Weltgeschichte in das bescheidene Ankleidezimmer der Frau, und sehen wir, wie von dort aus der Gang der menschlichen Entwicklung sich ansieht.

Die Grundformen der griechischen Frauenkleidung waren der dorische Peplos und der ionische Chiton.



Als die älteste ursprüngliche Form ist der Peplos zu betrachten*) Er besteht aus einem oblongen, nicht genähten viereckigen Stück Wollstoff. Das Anlegen des Peplos verdeutlichen die Figuren 208 — 211. Der plaidartige Peplos wird in der Weise um den Körper gelegt, dass die geschlossene Seite links zu liegen kommt (Fig. 208). Die beiden offenen Seiten werden auf der rechten Schulter mit einer Spange in der Weise befestigt, dass vorn und hinten ein Ueberschuss der oberen Ränder, jeweils von X bis XX, frei herabhängt (Fig. 209). Die Befestigung auf der linken Schulter geschieht gleichfalls durch eine Spange, so dass der Ueberschuss als Bausch unter der Achsel herabhängt (Fig. 210 XXX). Nun wird das Gewand heraufgezogen und in der Taille gegürtet, wodurch der Bausch über der Brust, der Kolpos, entsteht (Fig. 211). Zur größeren Deutlichkeit ist in den vier Figuren der obere gerade Rand des Tuches mit einer roten Linie bezeichnet.

Denkt man sich das Tuch länger, so bildet der Überschlag an der oberen Seite das Diploidion; die Befestigung geschieht dann nicht am oberen Rande des ganzen Tuches, sondern an der zum oberen Rande gewordenen Umschlagsfalte in derselben Weise.

Das Gürten war nur bei längerem Peplos nötig, der kürzere Peplos der spartanischen Mädchen konnte auch ungegürtet getragen werden. Bei lebhaften Bewegungen war demnach in der Ansicht von rechts beim gegürteten Peplos das Bein, beim ungegürteten das ganze Körperprofil sichtbar. Nach dieser Eigentümlichkeit der Tracht wurden die spartanischen Mädchen die Nacktgliedrigen, genannt.

Abgesehen von der Befestigung über den Brüsten statt auf der Schulter finden wir den spartanischen Peplos im Tamein der Birmaninnen wieder.

Der Chiton unterscheidet sich im Prinzip vom Peplos nur dadurch, dass er statt aus Wolle aus Leinwand bestand und an der offenen Seite zu einer weiten Röhre durch die Naht vereinigt war.

*) Vgl. Studnitzka, Beiträge zur Geschichte der alten griechischen Tracht. Abhandlungendes archäologisch-epigraphischen Seminars. Wien. VI. 1. Gerold. 1886.

Fig. 212 gibt eine schematische Darstellung von Peplos und Chiton. Der Chiton ist seiner Form nach der an den freien Enden, bei X zusammengenähte Peplos. Die Befestigung auf den Schultern erfolgt in gleicher Weise bei XX und bei XXX; jedoch bilden sich nun unter beiden Schultern die gleichen Verhältnisse im Faltenwurf, wie sie beim Peplos an der linken, geschlossenen Seite sich fanden.

Fig. 212. Schema von Peplos und Chiton.

Wie der Peplos kann auch der Chiton einen Überschlag haben, der vorn herüberfällt. Nun kann man sich aber auch den Chiton in weiterer Entwickelung als eine schmälere Röhre denken, die von oben her an beiden Seiten gespalten ist, um die Arme durchzulassen, und dann an seinen beiden Eckpunkten über den Armschlitzen auf den Schultern mit Spangen zusammengesteckt wird. In dieser Form entspricht der Chiton völlig dem modernen, durch Knöpfe auf den Schultern befestigten Frauenhemd.

Der kurze, geschürzte, nur auf einer Schulter festgesteckte Chiton, der die rechte Brust freiließ, war das vorgeschriebene Gewand der Heraläuferinnen (Fig. 213).

Aus diesen Grundformen erklären sich leicht die sämtlichen Zusammenstellungen der altgriechischen Frauentracht. Die dadurch verursachte stärkere Verhüllung des Körpers ist nur eine scheinbare, da wegen der Schmiegsamkeit und halben Durchsichtigkeit der benutzten dünnen Stoffe nicht nur bei der Bewegung, sondern auch in der Ruhe sämtliche Körperformen sich geltend machten. Diese Kleidung betonte die Körperbildung, statt sie zu verbergen.

Das Grundprinzip der griechischen Kleidung ist eine strenge Anlehnung an die Körperform, die entweder in ihrer natürlichen Schönheit oder nur leicht verhüllt gezeigt wurde.

Haben wir hier eine künstlerisch veredelte und vereinfachte Form der tropischen Kleidung vor uns, so zeigt sich der Einfluss des christlichen Formalismus auf die tropische Tracht in ganz entgegengesetzter Weise.

Auch hier ist das Prinzip gewahrt, aber aus dem Gürtel, der die Taille, den Rassenvorzug der mittelländischen Rasse markiert, entwickelt sich das Mieder und der Schnürleib oder die Schnürbrust.

Wenn auch schon die Frauen der Griechen und Römer sich des Strophions, eines breiten, unter den Brüsten befestigten Bandes bedienten, um die sinkenden Brüste emporzuheben und ihnen eine jugendlichere Form zu verleihen, so ist die starke Einschnürung der Körpermitte durch die Schnürbrust, diese künstliche Übertreibung des Rassenmerkmals erst auf dem Boden der christlichen Kultur entstanden.

Bei der wenigstens im öffentlichen Leben streng kirchlichen Richtung des Mittelalters verlangte die herrschende asketische Auffassung die größtmögliche Bedeckung des weiblichen Körpers, und das Abtöten des Fleisches erheischte, dass namentlich diejenigen Körperteile dem Anblick der sündhaften Menschheit entzogen wurden, die als besondere Kennzeichen des weiblichen Geschlechtes gelten.

Während die Männer durch möglichste Verbreiterung von Schultern und Brust ein kräftigeres, kriegerisches Äußere vorzutäuschen suchten, finden wir bei den Frauen im 12. bis 16. Jahrhundert das Bestreben, die Brust möglichst platt und kindlich, engelhaft schmal zu gestalten, und zu diesem Zwecke, zum Zusammenpressen, zum Verschwindenlassen der Brüste diente der Schnürleib, die älteste Form des Korsetts.

Wie Bartels berichtet, haben auch heutzutage noch die Dachauer und Tiroler Bäuerinnen, sowie die Tscherkessinnen*) kleine oder gar keine Brüste, weil von Jugend an deren Wachstum durch drückende Mieder unmöglich gemacht wird.

Das möglichste Wegschnüren der Brüste zusammen mit dem Ruhen des Körpers auf ganzer Sohle drückt dem weiblichen Ideal des Mittelalters sein Gepräge auf, das wir in den zahlreichen Miniaturen und plastischen Darstellungen an kirchlichen und Profanbauten jener Zeit durch die bildende Kunst verewigt finden: schmalbrüstige, langarmige Gestalten mit vorgestreckten Bäuchen und abfallenden, nach hinten hängenden Schultern, Bilder der Askese, des Märtyrertums und der Schwindsucht.

*) Vgl. Fig. 140. [/b]

Dass natürlich trotz des von der Kirche ausgeübten Zwanges die angeborene Gefallsucht des Weibes fortwährend danach strebte, die lästigen Fesseln abzuwerfen, bedarf wohl keiner weiteren Erklärung, ebenso wie gerade infolge des öffentlichen Druckes die eigentliche Sittlichkeit nicht erhöht, sondern vielmehr erniedrigt wurde. Die Bücher von Alwin Schultz*) und Rudeck**) geben ein beredtes Zeugnis dafür, dass die menschliche Natur sich nicht zwingen lässt, und dass die Sittenverderbnis um so grösser war, je mehr mit Frömmigkeit geprunkt wurde.

Trotz vereinzelter Versuche von Auflehnung war aber der klerikale Einfluss im allgemeinen so stark, dass erst im 16. Jahrhundert der Schmetterling wieder aus der Larve zu kriechen, die Frau ihrem angeborenen tropischen Rassencharakter die Zügel schießen zu lassen wagte. Der seit Jahrhunderten eingebürgerte Gebrauch des Schnürleibs dient allmählich weniger dazu, die Brüste verschwinden zu lassen, als vielmehr, sie unter dem tiefer und tiefer sinkenden oberen Rand des Gewandes desto deutlicher hervortreten zu lassen. Der Schnürleib hält die Brüste klein, drückt sie aber zu gleicher Zeit nach oben.

Aus dieser Entwicklungsperiode der weiblichen Kleidung hat die Kunst uns zahlreiche Werke hervorragender Meister, wie der Brüder van Eyck, der Holbeins, Dürers u. a. überliefert.

Eine Tuschzeichnung von Holbein dem Jüngeren (Fig. 214) kann als sprechendes Beispiel dieser Zeit gelten. Es stellt eine vornehme Baseler Patrizierfrau in festlichem Schmuck vor.

Fig. 214. Baselerin im Jahre 1520. (Nach einer Tuschzeichnung von Holbein dem Jüngeren im Museum zu Basel.) Fig. 215. Körperumrisse von Fig. 214.

Von den Händen sind nur die Fingerspitzen zu sehen, das reiche Haar ist mit einer kostbaren, gestickten Haube bedeckt und verrät nur durch eine Flechte vor dem Ohr seine Anwesenheit, dagegen haben sich Hals, Schultern und Brust, wenn auch zum Teil von Schmuckgegenständen verdeckt, wieder ans Tageslicht gewagt. Die ganze Gestalt zeigt die schlaffe Haltung, das Hintenüber sinken des Oberkörpers und das Hervortreten des Unterleibs in ausgeprägtester Form, welche, außer in den flachen Schuhen, in der schweren Last der reichen, faltigen Gewänder seine genügende Erklärung findet.

*) Geschichte des Mittelalters.
**) Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit.


Im Musée Cluny in Paris und an anderen Orten sind Schnürleiber aus dem 16. Jahrhundert bewahrt geblieben. Sie machen den Eindruck von Panzern und bieten einen sehr beschränkten Raum für die Brüste; viele dieser Folterwerkzeuge tragen an ihrer Vorderseite eine stark vorspringende Schneppe, die den Zweck hat, die Last der Kleider zu verteilen, dabei aber das Vorspringen der Bauchpartie noch übernatürlich steigert.



Denken wir uns in die Holbeinsche Gestalt die Körperumrisse (Fig. 215) eingezeichnet, dann tritt die eigentümliche, für die damalige Zeit charakteristische Stellung noch deutlicher hervor. Es ist die oben (Fig. 206) angegebene schlaffe Haltung in übertriebenster Form; der Schnürleib presst den unteren Teil des Brustkorbs bis zur Brustwarze stark zusammen.

Mit derartigen Idealen weiblicher Schönheit vor Augen sind die Künstler der damaligen Zeit auch bei Darstellungen nackter Frauengestalten nicht von der ihnen bekannten und natürlich scheinenden Haltung abgewichen. Alle Evas des Mittelalters haben schmale Schultern, kleine Brüste und einen vorspringenden, stark gewölbten Bauch. Natürlicherweise ist diese Haltung der Frau in schwangerem Zustande eigen. Daraus erklärt sich, warum der künstlerische Geschmack damaliger Zeit selbst vor der Darstellung der schwangeren Frau in nacktem Zustand nicht zurückschreckte. Die Eva von Hans Memling in der k. k. Gemäldegalerie in Wien ist schwanger, die von van Eyck im Museum in Brüssel ist es in noch viel höherem Masse, und selbst Tizians nackte Schöne von Urbino in den Uffizi zu Florenz, ein Nachklang jener Zeit, ist in demselben Zustande gemalt. Man fand nicht die Schwangerschaft als solche schön, sondern man erkannte sie einfach nicht und malte auch diese, weil sie mit dem damals herrschenden Ideal bekleideter weiblicher Schönheit in Übereinstimmung zu bringen war.

Etwa hundert Jahre später war durch die Renaissance, durch den infolge der kolonialen Besitzungen stark zunehmenden Wohlstand namentlich in Italien, in Spanien und den Niederlanden ein vollständiger Umschwung im Geschmack und damit auch in der Kleidertracht eingetreten. Die Edelsteine und Geschmeide, die kostbaren Spitzen, Samt und Seide, die den Körperschmuck bildeten, verlangten eine große Ausdehnung, und der Schwerpunkt der Frauenkleidung liegt weniger in der scharfen Umgrenzung der oberen Körperhälfte, als vielmehr in der Ausbreitung der kostbaren Stoffe auf großer Fläche und in der harmonischen Farbenstimmung des Gesamtbildes.

Fig. 216. Reiche Niederländerin im Jahre 1630. (Nach einem Kostümbild von Adriaan Bosse.) Fig. 217. Körperumrisse von Fig. 216.

In einer Zeichnung von Adriaan Bosse (Fig. 216) sehen wir in einer reichen Niederländerin den Typus weiblicher Schönheit im 17. Jahrhundert am schärfsten charakterisiert. Perlenschnüre umsäumen die faltigen Oberärmel und den schwerseidenen Unterrock, schlingen sich um Hals und Haare. Eine Brillantagraffe hält die Feder des Hutes, und auf dem Plastron, dem vorderen, sichtbaren Teil des Mieders, sind Edelsteine und kostbares Geschmeide in verschwenderischer Fülle befestigt. Die wertvollsten Spitzen umschließen den Halsausschnitt des Kleides und die inneren Ärmel.

Zugleich mit dieser Ausbreitung der übrigen Kleidung finden wir an den kostbaren, von seltenem Leder, von Samt und Seide gearbeiteten Schuhen den Absatz.

Beim Rekonstruieren des zu dieser stattlichen Erscheinung gehörigen Körpers (Fig. 217) ist zunächst festzustellen, dass er durch den hohen Absatz die oben beschriebene gestreckte Haltung (Fig. 207) einnimmt. Außerdem aber ist daraus ersichtlich, dass das am seidenen Leibchen befestigte Plastron in keiner Weise die natürliche Form des Körpers beeinflusst, so dass in dieser Hülle unverdorben die normalsten Gestalten untergebracht werden können.

Aber nicht nur in der Kleidung und der behaglichen Gestaltung der Wohnräume, sondern auch in der Lebensweise und Körperernährung äußerte sich der erhöhte Wohlstand jener Zeiten.

Statt der engen Taille und den schmalen Schultern fand man gefüllte Formen und runde Schultern schön, und auch diese damals moderne Auffassung weiblicher Schönheit übertrug sich in der zeitgenössischen Kunst auf den bekleideten und von ihm auf den nackten Körper. Die üppigen, für unsere Begriffe oft übervollen Formen, wie sie die späteren Venezianer, van Dyck, Rubens, Jordaens u. a. in ihren lebenswarmen Frauendarstellungen festgehalten haben, geben dafür ein beredtes Zeugnis.

Im 18. Jahrhundert hat Frankreich unter Ludwig XIV. endgültig die Weltherrschaft in der Mode erobert. Das Korsett und die hohen Absätze feierten damals ihre höchsten Triumphe und forderten ihre meisten Opfer.

In seinem Monument du costume physique et moral de la fin du XVIIIme siècle zeichnet Moreau le jeune u. a. eine französische Marquise (Fig. 218), die im Begriffe ist, ihre Loge im Theater zu betreten.

Fig. 218. Französische Hofdame im Jahre 1750. (Nach einem Stich von Moreau le jeune.)

Die stärkere Entblößung von Armen, Hals und Brust bildet ein Zurückkehren zur tropischen Urform; im übrigen ist der Oberkörper in eine seidene, straff gespannte Umhüllung gepresst, die jede menschliche Form verleugnet. Der Rock ist durch künstliche Unterlagen zur mächtigen Montgolfiere aufgebauscht, die in unserem Jahrhundert in der Krinoline ihre Wiederholung gefunden hat. Die Absätze sind noch höher geworden.

Es ist uns nicht möglich, in dieses Kostüm eine natürliche menschliche Gestalt hineinzudenken. Wenn wir den Versuch machen (Fig. 219), dann erscheint der Oberkörper von den Schultern abwärts bis vorn oberhalb des Nabels in einer Weise zusammengepresst, wie wir sie ähnlich nur bei den Füssen der Chinesinnen zurückfinden.

Fig. 219. Körperumrisse von Fig. 218.

Die Form des Korsetts selbst ist in verschiedenen Bildern französischer Künstler im 18. Jahrhundert bewahrt worden, unter anderen in dem Bild von Wille „L'essayage du corset“ (Fig. 220). Ein junges Mädchen betrachtet im Spiegel die Wirkung des neuen Korsetts auf ihre jugendlichen Formen, während zwei ältere Herren, von denen der eine offenbar der Verfertiger des Marterinstruments ist, sie mit wohlgefälligen Blicken mustern.

Denkt man sich auch hierzu einen entsprechenden Körperumriss (Fig. 221), dann zeigt sich, dass selbst bei den bescheidensten Ansprüchen an eine noch so schlanke natürliche Gestalt der Umriss des Korsetts weit innerhalb der normalen Grenzen des Körpers zu liegen kommt, so dass derselbe vom Nabel bis unter die Schultern beinahe ein Viertel seines ihm gebührenden Umfangs eingebüßt hat.

Dass eine derartige Vergewaltigung des weiblichen Körpers nicht ungestraft geschehen konnte, ist selbstverständlich. Die schwere Störung des Blutkreislaufs machte sich in der verschiedensten Weise geltend, und die Migräne, die Vapeurs und andere Modekrankheiten danken dieser Zeit ihren Ursprung; auch die Schwindsucht nahm in erschreckender Weise zu.



Dass die damalige Sitte des Puderns der Haare jedenfalls auch das ihre dazu beitrug, die Lungen durch Einatmung des Staubes schwer zu schädigen, darf nicht vergessen werden. Immerhin aber hat die gerade damals auf ihr höchstes Mass gesteigerte Schnürung die bekannte Schrift gegen das Korsett von Sömmering veranlasst, die bis auf den heutigen Tag noch immer als Muster angeführt wird.

Im 16. Jahrhundert war das Hemd und der Unterrock zum bleibenden Bestandteil der weiblichen Kleidung geworden, das ursprünglich aus Italien stammende Beinkleid wurde jedoch erst in der letzten Hälfte des 18. Jahrhunderts mehr allgemein gebräuchlich und hat eigentlich erst im 19. das allgemeine Bürgerrecht erworben. Die Strümpfe bestanden bereits vor dem Hemd und wurden durch das ganze Mittelalter hindurch mit Strumpfbändern unterhalb der Knie befestigt.

Fig. 220. Junges Mädchen im Negligé aus dem Jahre 1750. (Stich von Wille: L'essayage du corset.) Fig. 221. Körperumrisse von Fig. 220.

So sehen wir denn gegen Ende des 18. Jahrhunderts zuerst alle Bestandteile der weiblichen Kleidung in der Weise vereinigt, wie sie heute noch bestehen, und zwar in einer Form, die namentlich durch die Enge des Korsetts die Gesundheit und Schönheit des weiblichen Körpers aufs schwerste beeinträchtigt.

Die französische Revolution, die so viele althergebrachten Sitten und Gebräuche über den Haufen warf, brachte auch in der weiblichen Kleidung einen völligen Umschwung zu Stande. Ein fesselndes und hemmendes Kleidungsstück nach dem anderen wurde abgeworfen, und aus dem wilden Chaos der Incroyables und der nachgemachten Römerinnen entwickelte sich im Beginn des neuen Jahrhunderts das Empirekostüm (Fig. 222).

Fig. 222. Empirekostüm im Jahre 1800. (Kostümbild aus dem Figaro illustre.) Fig. 223. Körperumrisse von Fig. 222.

Napoleon hat mit Erfolg so manche der zertrümmerten royalistischen Traditionen und Gebräuche an seinem Hofe wieder eingeführt, Männer beugten sich vor seiner mächtigen Persönlichkeit, der weiblichen Kleidung gegenüber aber war er machtlos, und Madame Sans Gene bewegte sich ungezwungen an seinem Hofe, wie und wo sie wollte. Das freie, lose, den Körper nirgends beengende Gewand, das nur mit einem schmalen Band unter der Brust festgehalten wurde, hat die Revolution überdauert.

Das Empirekostüm entspricht in der Tat allen Anforderungen, die man an eine kleidsame und möglichst gesunde Frauentracht stellen kann. Denken wir uns in das Kostümbild den zugehörigen Körper hinein (Fig. 223), dann sehen wir, dass das Kleid sich ohne irgend welchen Zwang der normalen Form anschmiegt; das Korsett ist ersetzt durch ein schmales, unter den Brüsten verlaufendes Band ; da dies jedoch an einer nach unten schmäler werdenden Stelle des Rumpfes angebracht ist, so müssen als weitere Stütze die schmalen Achselbänder hinzukommen.

Das Kostüm ist in Anlehnung an den griechischen Chiton entstanden; in einzelnen Fällen wurde auch der an der Seite offene Peplos in dem Kostüm ä la belle Helene, das in den Offenbachschen Operetten verherrlicht wurde, nachgeahmt.

Trotz seiner Schönheit und Zweckmäßigkeit hat sich indessen das damalige Empirekostüm nicht lange gehalten, und zwar aus zwei Gründen.

Zunächst verlangt diese Kleidertracht, dass, um die Falten nicht zu brechen, die Unterkleider auf das Allernotwendigste beschränkt werden mussten. In der Tat wurden eine Zeitlang auch außer den sehr dünnen, fleischfarbigen Trikots gar keine Unterkleider getragen und selbst das Hemd wurde weggelassen. Dadurch war diese Kleidertracht in einem kalten und wechselnden Klima außer dem Hause überhaupt für die Dauer unmöglich und im Hause nur bei besonderen Vorsorgsmaßregeln statthaft. Ein zweiter Grund aber, der den Untergang des schönen Kostüms mit absoluter Sicherheit herbeiführte, war, dass nur ein in jeder Beziehung vollendeter Körper darin vorteilhaft aussah. Bei der leisesten Bewegung verriet diese sich den Formen völlig anschmiegende Kleidung jeden auch noch so geringen Fehler ; darum war es nur wenigen Frauen gegeben, damit zu prunken, und darum wurde der Stab darüber gebrochen. Die Mode will eine Tracht, die jedem erlaubt, schön zu scheinen.

Im 19. Jahrhundert wurden denn auch bald die vergessenen Kleidungsstücke früher Zeiten aus der Rumpelkammer geholt und für den jeweiligen Gebrauch zurecht gestutzt.

Wir wollen aus der Fülle der Verwandlungen, die die Frauenmode im 19. Jahrhundert vorschrieb, nur eine herausgreifen aus dem Jahre 1830.

Ein Modebild aus dem Journal des dames (Fig. 224) zeigt uns eine jener zarten, ätherischen Gestalten mit Wespentaille, wie sie die Meisterhand Gavarnis u. a. festgehalten hat.

Fig. 224. Kostümbild aus dem Jahre 1830. (Journal des dames.) Fig. 225. Körperumrisse von Fig. 224.

Die hohen Absätze sind verschwunden, und mit ihnen die militärische Haltung, dabei hat aber das Korsett, wenn auch in schwächerer Form, seine alte Tyrannei wieder in vollstem Masse geltend gemacht, und durch den Einfluss desselben ohne Absätze wird der Körper in eine vornübergebeugte, ängstliche, gewissermaßen hilfsbedürftige Haltung gebracht, wie sie das Kennzeichen damaliger Frauenideale geworden ist.

Noch deutlicher tritt diese schon in der Haltung ausgedrückte Unselbständigkeit am entkleideten Körper (Fig. 225) hervor, der uns außerdem darüber belehrt, welche Verwüstung in der natürlichen Körperform das Korsett wieder angerichtet hat. Alles Gute, was die französische Revolution gebracht hat, ist wieder verloren, mit Ausnahme der niedrigen Absätze, die jedoch bald darauf ebenfalls den hohen Stöckelschuhen das Feld räumen müssen.

Mit Tunique, Krinoline und anderen Auswüchsen hat das im allgemeinen durch große Geschmacklosigkeit sich auszeichnende 19. Jahrhundert alle Untugenden früherer Jahrhunderte in sich vereinigt, bis schließlich in den allerletzten Jahren sich eine mächtige Bewegung Bahn brach, die neue Formen schuf.

Wir müssen darauf später noch etwas ausführlicher zurückkommen und können uns hier damit begnügen, einige charakteristische Formen zu betrachten, die im letzten Jahre des 19. Jahrhunderts nebeneinander bestehen.

In der Nouvelle revue vom Januar 1900 findet sich ein Kostümbild (Fig. 226), das die Traditionen des Empirekleides von vor 100 Jahren wieder aufnimmt. Die langen, gefällig dem Körper sich anschmiegenden Falten, die hochgehobene Taille, die leichte Bedeckung der Brust, die bloßen Arme machen auf den ersten Anblick einen sehr günstigen Eindruck.

Fig. 226. Empirekostüm im Jahre 1900. (Nouvelle revue, Janvier.) Fig. 227. Körperumrisse von Fig. 226.

Wenn wir aber versuchen (Fig. 227), den dazu gehörigen Körper herauszuschälen, dann steht vor uns ein Wesen, wie es die überreizte Kultur der letzten Jahrzehnte nur zu oft gezeitigt hat, eines jener nervösen und ungesunden, gemacht ätherischen, asexuellen Zwitterwesen mit knabenhaftem, beinahe kindlichem Körper und mit verdorbener Seele, der Typus der demi-vierge, und demi-vierge nicht nur in moralischem, sondern auch in körperlichem Sinn. Ein normal gebautes Mädchen, das Hüften und Brüste hat, kann in ein solches Kostüm nicht hinein, es sei denn, dass es die letzte Errungenschaft der Mode, das Corset Sylphide benutzt, welches nicht nur Brust und Bauch, sondern auch die Hüften durch künstliche, elastische Schenkelbänder so viel als möglich wegdrückt.

Eine derartige moderne Idealfigur zeigt uns Fig. 228, dem Soleil illustré du dimanche entnommen. Das Ballkleid, ganz in Weiß und Mauve, wird daselbst in begeisterten Tönen beschrieben; eine Vergleichung mit der Fig. 229 lehrt uns aber, dass eine auch noch so schlanke Gestalt sich in dieser Hülle niemals verbergen könnte.

Fig. 228. Ballkleid mit Corset sylphide. 1900. (Illustré Soleil du dimanche.) Fig. 229, Körperumrisse von Fig. 228.

Dies Mädchen im eleganten Ballkleid ist trotz dem erbrachten Beweis der Unmöglichkeit ihrer Daseinsberechtigung die typische Figur für die heutzutage beim größeren Publikum anerkannte moderne Idealgestalt der bekleideten Frau.

Neben der nervösen Überreizung, als deren Folge wir gewissermaßen dieses Kostüm nebst seinem Inhalt betrachten können, hat das sterbende Jahrhundert eine andere und bessere Frucht gezeitigt, und das ist die mehr und mehr um sich greifende Teilnahme des heranwachsenden weiblichen Geschlechts an körperlichen Übungen. Außer Schwimmen, Reiten und Turnen sind es namentlich das Tennisspiel und das Fahrrad, die diesen Umschwung von klösterlicher Abgeschiedenheit zu körperlicher Freiheit für unsere Mädchen verursacht haben, und damit auch einen tiefgehenden Einfluss auf die weibliche Kleidung ausübten.

Das Strandkostüm aus der Vie parisienne (Fig. 230) ist ein vortreffliches Beispiel für diese Wandlung im Geschmack. Der kürzere, fußfreie Rock, der die Bewegungen keineswegs hindert, die lose Jacke, das um die Taille geschlungene Band mit dem der männlichen Kleidung entnommenen losen Hemdformen zusammen eine geschmackvolle und doch zweckmäßige Kleidung.

Fig. 230. Sportkostüm aus der Vie parisienne. Fig. 231. Körperumrisse von Fig. 230.

Wir können uns in diese Umhüllung ohne Zwangsmaßregeln einen völlig normalen Körper hineindenken (Fig. 231), dessen natürlichen Formen sich ein gutsitzendes, leichtes Corset ceinture völlig anpasst. Hier spielt das Korsett wieder seine ursprüngliche Rolle als Schmuckträger, und die geringe Last der Kleider, durch das Korsett noch auf eine breitere Fläche verteilt, übt nirgends einen Druck aus. Gutgebaute Gestalten können überdies mit einem solchen Kostüm des Korsetts völlig entraten, ohne die schöne Form der Umrisse irgendwie einzubüßen.

Bei allen den Betrachtungen über die Frauenkleider früherer Jahrhunderte haben wir uns nur an künstlerische Wiedergaben halten können, und haben dies auch der einheitlichen Darstellung wegen für das moderne Kostüm getan.



Bei der Verwertung derartiger Darstellungen als Beweisstücke müssen wir uns aber erst die durch künstlerische oder andere Zwecke veranlassten Modifikationen vergegenwärtigen und sie ausschalten.

Zunächst macht jede Umrisszeichnung, verglichen mit einer genau in demselben Räume plastisch ausgeführten Zeichnung, einen plumperen Eindruck. Man kann sich davon leicht überzeugen, wenn man die Konturen irgend einer photographierten Statue nachzieht und mit dem Original vergleicht. Um diesen Eindruck der Plumpheit wegzunehmen, macht der Künstler unwillkürlich jede im Umrisse gezeichnete Figur schlanker, als sie wirklich ist. In noch höherem Masse ist dies der Fall bei allen Darstellungen, die nicht künstlerischen, sondern industriellen Zwecken dienen, nämlich bei Modebildern. Diese Bilder sind auf wenig geübte Augen berechnet, welche den schlanken Körper noch schlanker, in der Übertreibung, um nicht zu sagen Karikatur vor sich sehen müssen, um den von den Zeichnern beabsichtigten Eindruck zu erhalten.

Von den in bekleideter Umgebung lebenden Künstlern haben wir bereits gesehen, dass sie, mit wenigen Ausnahmen, so sehr in dem Banne der Mode stehen, dass sie sogar die nackten Körper von der Gestalt der bekleideten Frau ableiten und uns damit die Möglichkeit geben, auch an dem nackten Bilde sofort das Jahrhundert seines Entstehens zu erkennen. Bei ihnen haben wir also eine bis auf den nackten Körper sich übertragende Beeinflussung des künstlerischen Blickes durch die herrschende Mode auszuschalten; und diese Beeinflussung ist gerade bei denjenigen Künstlern am stärksten, die sich hauptsächlich mit der Darstellung der Trachten ihrer Zeit befasst haben. Gerade diese sind es aber auch, die wir für unsere Zwecke nötig haben.

Durch die Handschrift des Künstlers erhält das Bild ein individuelles seiner Zeit angepasstes Gepräge. Alle Eigentümlichkeiten des herrschenden Ideals treten in markanter, das Gesamtbild bedeckender Deutlichkeit in den Vordergrund und geben uns zwar ein scharfes Bild des damals herrschenden Ideals, aber nicht eine absolut objektive Auffassung des Menschen an und für sich.

Dieser Mangel wird einigermaßen ausgeglichen durch die jetzt noch in Museen aufbewahrten Kleidungsstücke, an deren Hand wir wenigstens für die letzten Jahrhunderte nachweisen können, dass die Bilder mit Abzug der durch die Technik gebotenen Übertreibung der Wirklichkeit ziemlich entsprechen.

Bei den Modebildern aber haben wir stets eine gewisse Karikatur, ein Zerrbild vor uns, welches das Ideal für die große Menge in übertriebener Weise zum Ausdruck bringt.

Es geht darum nicht an, wie von manchen Reformenthusiasten beliebt wird, gerade diese extremen Bilder als Beweise für eine wirklich bestehende systematische Körperverunstaltung durch die herrschende Mode ins Feld zu führen. Sie haben nur insofern Wert, als sie einen Vergleich zwischen dem jeweils herrschenden Modeideal und dem natürlichen Ideal gestatten.

Dass durch die Übertreibung der Mode in der Tat Körperverunstaltungen vorkommen, und dass namentlich solche Frauen, die von der Natur weniger begünstigt sind und schöner scheinen wollen, als sie sind, alle Mittel benutzen, um es ihren bevorzugteren Schwestern gleichzutun, und sich darum verunstalten müssen, ist ja bekannt genug; den absoluten, wissenschaftlichen Beweis hierfür liefern uns aber nur Photographien des nackten Körpers, wie die oben abgebildeten Figuren 046 und 047, nicht aber Modebilder und Gemälde.

Alle Idealgestalten der Birmanen zeigen zum Beispiel die übertriebensten Wespentaillen, die man sich denken kann; die Birmaninnen selbst aber schnüren sich gar nicht und sind zufrieden mit ihrer meist auffallend schönen, natürlichen Taille*).

[i]*) Max und Berta Ferrars, Burma.


Wenn man das oben benutzte Prinzip statt auf Zeichnungen und Stiche auf die Photographie einer nach der letzten Mode des Jahres 1900 gekleideten Gestalt anwendet, welche die schlanke Taille in sehr ausgeprägter Form zur Geltung bringt (Fig. 232), so sieht man, dass sich in die Umrisse ein völlig normaler Körper hineinbringen lässt, dass also für schlanke, gutgebaute Frauen eine derartige Kleidung keineswegs einigen Zwang auf die natürliche Gestaltung auszuüben braucht. Es wäre ebenso unrichtig, aus diesem Beispiel die Schlussfolgerung zu ziehen, dass die moderne Kleidung vortrefflich ist, als wenn man umgekehrt aus den Figuren 228 und 229 schließen wollte , dass dieselbe in Bausch und Bogen zu verurteilen sei.

Fig. 232. Straßentoilette im Sommer 1900 nach Photographie mit eingezeichneten Körperumrissen.

Das große Geheimnis, warum die mit so viel Aufwand von Mühe, Kosten und Überlegung hergestellte moderne Frauenkleidung stets mehr und mehr Feld gewinnt und die Volkstracht verdrängt, liegt in dem Umstand, dass die moderne Tracht in weit höherem Maße als die natürlich sich entwickelnde Volkstracht gestattet, Fehler zu verbergen und es dadurch einem weit größeren Prozentsatz von weiblichen Wesen möglich macht, schön zu scheinen. Dadurch werden zunächst die weniger gut gebauten Frauen veranlasst, ihren Körper, der doch unter der Kleidung verborgen bleibt, noch stärker zu verformen, um das Ideal wenigstens scheinbar zu erreichen, dann aber entsteht auch unter den gutgebauten Frauen ein Wettstreit, einander gegenseitig zu übertreffen, und in diesem Streite schießen eben viele über das Ziel hinaus, übertreiben durch starkes Schnüren die natürliche Schlankheit ihrer Taille, erhöhen die Weiße ihrer Haut durch künstliche Farbe, verbreitern die Wölbung ihrer Hüften und anderer von der Natur gerundeten Körperteile durch fremde Unterlagen und zwängen so ihren Körper in die übertriebene Idealform der herrschenden Mode.

Diese Übertreibungen, diese Missbräuche der Verzierungsmittel des Körpers sind es, die denselben verunstalten, und nur diese sollten vermieden und wo möglich bestritten werden.

Gleichwie bei der Volkstracht, können wir uns auch bei der modernen Frauenkleidung nur durch die Photographie ein richtiges Urteil über die Kleidung und ihre Unterteile, sowie deren Beziehung zu der Körperform verschaffen.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
206. Schlaffe Haltung ohne Absätze und 207. Gestreckte Haltung mit Absätzen

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208. bis 211. Prinzip des dorischen Peplos

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212. Schema von Peplos und Chiton

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213. Heraläuferin in kurzem Chiton

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214. Baselerin im Jahre 1520 und 215. Körperumrisse von Fig. 214

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216. Reiche Niederländerin im Jahre 1630 und 217. Körperumrisse von Fig. 216

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218. Französische Hofdame im Jahre 1750

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219. Körperumrisse von Fig. 218

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220. Junges Mädchen im Negligé aus dem Jahre 1750 und 221. Körperumrisse von Fig. 220

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222. Empirekostüm im Jahre 1800 und 223. Körperumrisse von Fig. 222

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224. Kostümbild aus dem Jahre 1830 und 225. Körperumrisse von Fig. 224

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226. Empirekostüm im Jahre 1900 und 227. Körperumrisse von Fig. 226

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228. Ballkleid mit Corset sylphide. 1900 und 229. Körperumrisse von Fig. 228

228. Ballkleid mit Corset sylphide. 1900 und 229. Körperumrisse von Fig. 228

230. Sportkostüm aus der Vie parisienne und 231. Körperumrisse von Fig. 230

230. Sportkostüm aus der Vie parisienne und 231. Körperumrisse von Fig. 230

232. Straßentoilette im Sommer 1900 nach Photographie mit eingezeichneten Körperumrissen

232. Straßentoilette im Sommer 1900 nach Photographie mit eingezeichneten Körperumrissen

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