Oberkleider

Trotz zahlreicher geschichtlicher Umwälzungen ist Paris seit der Zeit Ludwigs XIV. die unumschränkte Herrscherin auf dem Gebiete der Mode geblieben, und das moderne Damenkostüm in seiner geschmackvollsten und vollendetsten Form findet man auch heute nur dort, wo die Gesetze für die übrige Welt gemacht werden. Der den Französinnen angeborene Geschmack ist durch eine jahrhundertlange Züchtung in einer Weise ausgebildet worden, die bisher von keinem anderen Volk erreicht worden ist.

Wie wird die Mode gemacht? Scheinbar sind es die großen Ateliers und Modegeschäfte, aus deren geheimnisvollen Werkstätten die alljährlich viermal sich erneuernden stets wechselnden Hüllen der Damenwelt hervorgezaubert werden; von dort gehen auch die Losungsworte für die elegante Welt des Auslandes aus. Wenn man aber sieht, dass trotz der aus Paris bezogenen Kleider nur wenige Damen im Stande sind, eine tadellose Toilette zu machen, wenn man in Paris selbst diesen tadellosen Gestalten auf Schritt und Tritt entgegenkommt, dann wird man gewahr, dass nicht nur die Kleider die Leute machen, sondern dass die Art und Weise, wie dieselben dem Individuum entsprechend ausgewählt und getragen werden, die Hauptsache ist.


Aus der uneingestandenen, gewissermaßen selbstverständlichen Mitwirkung der graziösesten unter seinen Landsmänninnen schöpft der Pariser Kleiderkünstler seine fruchtbarsten und schönsten Anregungen; mit ihnen gelingt es ihm, der Pariser Mode die herrschende Stellung zu erhalten. Seit es in Paris keinen Hof mehr gibt, sind es namentlich die Schauspielerinnen und bekannte Schönheiten aus den verschiedensten Kreisen, von denen die Gesetze der Mode gemacht werden.



Bei dem fortwährenden Wechsel, der gerade einen der Hauptreize in der luftigen Schönheit heutiger Verzierungskunst bildet, ist es unmöglich, alle die verschiedenen Formen vorzuführen, die der Sachverständige sofort nach einzelnen Jahren und Jahreszeiten chronologisch zu ordnen im Stande ist.

Statt dessen seien hier einige der wichtigsten Kostüme beschrieben in der Form, wie sie im Jahre 1900 getragen wurden.

Fig. 239 zeigt eine Frühjahrstoilette von 1900, bei der selbst im Bilde der ganze „Charme“ der Pariserin zum Ausdruck kommt.

Fig. 239. Pariser Straßentoilette. Frühjahr und Spätjahr. (Phot. Reutlinger.)

Auf dem zierlichen Haupte thront ein luftiges Gebäude von hellen duftig-weißen Geweben. Um die Schultern ist eine leichte Pelzboa geschlungen, die das schöne Mädchen abstreift, als ob sie damit das Fliehen des Winters andeuten wolle, und wie die erste Blume aus dem taufrischen Frühlingsboden taucht ihr schlanker Körper im hellen, enganliegenden Kleide aus der warmen Umhüllung empor. — Wir wollen aber lieber keine Poesie treiben, sondern das Bild für sich selbst sprechen lassen.

Fig. 240 stellt eine junge Pariserin in sommerlichem Straßenkostüm vor. Ebenso wie in dem vorigen Bilde sind die Formen des Oberkörpers scharf zur Geltung gebracht.

Fig. 240. Sommerkostüm aus Paris. (Phot. Reutlinger.)

Auch beim Winterkostüm (Fig. 241) ist dieses Prinzip trotz der wärmeren Hülle gewahrt geblieben, bei keiner der drei Gestalten zeigt sich aber eine Übertreibung der natürlichen Vorzüge durch zu starke Schnürung.

Fig. 241. Dame im Winterkostüm. (Phot. Reutlinger.)

Dieselbe Dame aus der Pariser Gesellschaft, die Fig. 241 im winterlichen Straßenkleide zeigt, ist in Fig. 242 in Balltoilette abgebildet, in der von der Mode für festliche Gelegenheiten vorgeschriebenen stärkeren Entblößung des Oberkörpers. An der Bildung von Armen und Schultern kann man den normalen Bau des Körpers erkennen, der sich unter der leichten Hülle verbirgt.

Fig. 242. Dieselbe in Balltoilette. (Phot. Reutlinger.)

Wie bereits gesagt wurde, ist die Sitte des Dekolletierens, die scheinbar im Widerspruch mit der höheren Kultur steht und von vielen auch in solcher Weise empfunden wird, in der natürlichen Entwicklung der mittelländischen Frauenkleidung begründet und geradezu ein Zeichen eines höher entwickelten, verfeinerten Geschmackes. Die Frau ist sich wieder bewusst geworden, dass der schönste Schmuck, den sie besitzt, nicht das Beiwerk von Menschenhand, sondern ihr eigener, vollendeter Körper ist, und wenn sie ihn nur bei festlichen Gelegenheiten als schönsten Schmuck und nur so weit zeigt, als die herrschenden Vorurteile ihr gestatten, so verrät sie damit nur das zarte Gefühl für das Schickliche, der feinfühligen Frau eigen, die mit dem Besten und Kostbarsten, was sie hat, nicht vor der großen Menge prunken will.

Freilich sind auch die Augen der Männer, denen sie ihre Schönheit zeigt, nicht immer des Anblicks würdig und im Stande, die natürliche und höchste Schönheit ohne sie selbst erniedrigenden, profaneren Beigeschmack betrachten zu können. Aus diesem Grunde finden viele Frauen und Mädchen die Dekolletage mit Recht unpassend, vergessen aber, dass nicht die Sitte, sondern nur die Umgebung es ist, die das Unpassende in sich schließt.



Von rein ästhetischem Standpunkt aber ist es ebenso unpassend, wenn ein schönes Mädchen sich vor den Augen von ungebildeten oder unanständigen Männern, beziehungsweise Herren dekolletiert zeigt, als anderseits, wenn eine Frau, sei es auch nur vor berufenen Augen, durch die Sitte gezwungen wird, Körperteile zu entblößen, die viel besser verhüllt blieben. Wer jemals einen Hofball mitgemacht hat, bei dem die vergilbtesten Folianten verwitterter Frauenreize aus Tand, und Flitter emportauchen, der wird sich mit Schaudern gestehen müssen, dass selbst die schönste Sitte ihre Schattenseiten haben kann, wenn sie urteilslos angewandt wird.

Auch hier greift aber die moderne Verzierungskunst den armen Opfern von „Vanity fair“ hilfreich unter die Arme und weiß alle gewünschten Körperteile durch künstliche zu ersetzen. Außerdem aber sind auch in der Dekolletage die Hilfsmittel der Kosmetik so reichhaltig, dass trotz der Entblößung der Körper viel schöner erscheinen kann, als er wirklich ist.

Durch Bedeckung des Halsausschnitts mit Spitzen oder Gaze können viele Fehler der Büste verborgen, anderseits aber auch deren Vorzüge hervorgehoben werden, ohne den Eindruck der absichtlichen Entblössung hervorzurufen, wie dies in Fig. 243 zu sehen ist.

Ein hübsches Bild der Tänzerin Saharet (Fig. 244) zeigt einen viel stärkeren Grad der Dekolletage, bei dem auch die Schultern unbekleidet geblieben sind.

Diese drei Bilder (242, 243, 244) bezeichnen die üblichen Grenzen, innerhalb deren sich die Dekolletage heutzutage bewegt ; dieselben werden jedoch häufig genug überschritten, ohne dass zugleich auch die Grenzen der Schönlieit und des Anstandskodex überschritten zu werden brauchen. Wie gesagt, hängt alles davon ab, dass die gewählte Kleidung mit den körperlichen Eigenschaften der Trägerin und mit den moralischen Eigenschaften der Beschauer im Einklang steht.

Fig. 243. Bedeckte Dekolletage. (Phot. Reutlinger.)
Fig. 244. Offene Dekolletage. (Nach einer Phot. von O. Mayer, Hofphot., Dresden-A.)


Wir können die Dekolletage nur als ein den körperlichen Eigenschaften der mittelländischen Rasse völlig entsprechendes, durch die Kunst verfeinertes Entwicklungsstadium weiblicher Kosmetik betrachten, das seine heftigsten Gegnerinnen gerade bei den Frauen hat, die davon keinen Gebrauch machen können.

Neben diesen hat die moderne Entwicklung eine Reihe von Kleiderformen gezeitigt, die nur zu bestimmten Zwecken getragen werden. Zu diesen fakultativen Bildungen gehört das Reitkleid (Fig. 245), das Radfahrkostüm, bei dem aus praktischen Gründen vielfach statt des Rocks eine weite Hose getragen wird (Fig. 246), und der Badeanzug (Fig. 247). Noch weitere Formen finden sich für Tennis, Rudern, Segelboot, Reisen, Bergsteigen, Turnen, und schließlich kommen noch die zahlreichen Abwechslungen des Negligé und des Hauskleides hinzu, die nach dem jeweiligen Geschmack der Trägerin die beliebigste Gestaltung annehmen können. In letzter Zeit hat der japanische Kimono auch in Europa vielfach Eingang gefunden und erfreut sich überall einer stets zunehmenden Beliebtheit.

Fig. 245. Dame im Reitkleid. (Pliot. Reutlinger.)
Fig. 246. Dame im Radfalukleid.
Fig. 247. Badeanzug. (Phot. Ellis & Walery, London.)


Ich unterlasse es, die angeführten Beispiele durch weitere zu vermehren. Sie haben zur Genüge gezeigt, dass auch das moderne europäische Frauenkostüm nichts weiter ist als eine durch die Kultur verfeinerte, durch neue Hilfsmittel reicher gewordene Entwicklungsstufe der ursprünglichen, der mittelländischen Rasse eigentümlichen tropischen Frauenkleidung.

In der Hauptsache hat sie deren Grundgedanken, den verhüllenden Rock und die Betonung der Formen des Oberkörpers, namentlich aber auch die Enthüllung desselben zu festlichem Schmuck beibehalten. Sie bietet ausserdem in ihren Formen so viel Abwechslung, dass dem jeweiligen individuellen Geschmack die weitesten Grenzen gesteckt sind und dass eine weit größere Anzahl von Frauen in der Lage ist, auch mit geringeren Naturgaben vorteilhaft auszusehen, als früher mit primitiveren Mitteln möglich war.

Nirgends springen die Vorzüge der modernen Ausbildung der Frauenkleidung mehr in die Augen als in Paris. Der Fremde ist erstaunt über die Fülle schöner Gestalten, die dort unter den höchsten Ständen sich ebenso häufig finden, als in den niederen Kreisen. Und dieser Eindruck wird noch erhöht, wenn man bedenkt, dass gerade unter den Pariserinnen sich verhältnismäßig viel weniger schöngebaute Körper finden, als in andern Ländern. In Paris zeigt sich trotz des ungünstigeren Menschenmaterials die Kunst der Mode in ihrer höchsten Vollendung, welche von anderen Städten und Ländern trotz der grösseren Zahl schöner Frauenkörper niemals erreicht worden ist.

Dass trotz dieser vielen Vorzüge der heutigen Frauenkleidung ein nachteiliger Einfluss auf Leben, Gesundheit und Körperschönheit so vieler Frauen sich bemerkbar macht, liegt nicht in der Mode, sondern in dem Missbrauch, der damit getrieben wird. Nicht jede Frau hat Geschmack, nicht jede Frau versteht, sich gut zu kleiden, nicht jede hat Urteilskraft genug, um von ihrem Körper nicht mehr zu verlangen, als er bieten kann, und die meisten wollen lieber Qualen erdulden, als hinter den von der Natur mehr Begünstigten zurücktreten. So kommt es, dass Taillen fabriziert werden, wo sie nicht sind, dass normale Körper einem falschen Geschmack zuliebe durch Schnüren verunstaltet und verdorben werden, und dass die Vernunft zum Unsinn, die Wohltat zur Plage wird.

Ebenso ungerecht aber, als es ist, dieser Missbräuche wegen die heutige Mode in Bausch und Bogen zu verurteilen, ebenso unrichtig ist es anderseits, dieselben zu leugnen und nicht auf sie aufmerksam zu machen.

In dem folgenden Abschnitt soll dieser Missbrauch der modernen Kleidung und sein Einfluss auf den Körper die gebührende Würdigung finden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
239. Pariser Straßentoilette. Frühjahr und Spätjahr

239. Pariser Straßentoilette. Frühjahr und Spätjahr

240. Sommerkostüm aus Paris

240. Sommerkostüm aus Paris

241. Dame im Winterkostüm

241. Dame im Winterkostüm

242. Dieselbe in Balltoilette

242. Dieselbe in Balltoilette

243. Bedeckte Dekolletage

243. Bedeckte Dekolletage

244. Offene Dekolletage

244. Offene Dekolletage

245. Dame im Reitkleid

245. Dame im Reitkleid

246. Dame im Radfahrkleid

246. Dame im Radfahrkleid

247. Badeanzug

247. Badeanzug

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