Die arktische Kleidung (Hose, Jacke)

Es ist bereits gesagt worden, dass der Mensch, wie aus dem Beispiel der Pescherae ersichtlich ist, ein ganz bedeutendes Mass von Kälte ungestraft ertragen kann, und dass es weniger das Bedürfnis nach der warmen Umhüllung selbst als vielmehr die dadurch bezweckte Ersparnis an Nahrungszufuhr war, die den dauernd in kälteren und an Lebensmitteln ärmeren Ländern wohnenden Menschen veranlassten, seinen Körper möglichst vollständig zu bedecken.

Hunger ist der beste Koch, sagt das Sprichwort; dass er aber auch der beste Schneider und Schuster ist, geht daraus hervor, dass unter seinem Einfluss die Werke der Nadel und des ersten Pfriemens entstanden.


Die Erfahrung zeigte dem in kälteren Gegenden lebenden Menschen, dass die enganschließenden, den Formen des Körpers sich möglichst anpassenden Kleidungsstücke den besten Schutz vor den Unbilden der Witterung gewährten und die Körperwärme am besten bewahrten. Den örtlichen Umständen sich anpassend, hat sich allmählich eine größtenteils aus Fellen und Leder bestehende Kleidung gebildet, welche für beide Geschlechter die gleiche war und aus der eng anschließenden Ärmeljacke und der arktischen Fellhose bestand.

Bei der Verfertigung derselben mussten die dazu verwendeten Tierhäute nicht nur künstlich in einen weichen und schmiegsamen Zustand versetzt, sondern nachträglich auch in möglichst dauerhafter Weise in der gewünschten Form verarbeitet und befestigt werden.



Zu diesem Zwecke hat sich, dem Drang der gebietenden Verhältnisse folgend, bei den arktischen Völkern schon früh eine sehr kunstreiche Verarbeitung des Leders entwickelt, und mit der Befestigung der einzelnen Lederstücke durch die Naht wurde zugleich die Grundlage zur Schneiderei gelegt.

In seiner ursprünglichen, von ausländischer Kultur unbeeinflussten Form findet sich diese Tracht heute nur noch in den allernördlichsten Distrikten unserer Erde.

In reiner Form sieht man die arktische Kleidung bei einem grönländischen Ehepaar (Fig. 86), das zugleich den Beweis liefert, wie wenig die Tracht des (sitzenden) Mannes von derjenigen der (stehenden) Frau abweicht. Die letztere zeichnet sich nur durch eine reichere und buntere Verzierung aus. Die gleiche Tracht haben drei grönländische Mädchen (Fig. 87) bewahrt.

Fig. 086. Grönlander und Grönländerin. Arktische Kleidung.
Fig. 087. Drei Grönländerinnen; Arktische Kleidung.


Nicht ganz unbeeinflusst von südlicherer Kultur ist das Kleid einer Samojedin (Fig. 88), bei dessen Verfertigung statt Fell und Leder auch Wollstoffe in reichem Masse verwendet sind.

Fig. 088. Samojedin. Arktische Kleidung. (Coll. Blankenberg.)

Dasselbe ist der Fall mit einer Eskimofrau (Fig. 89), die mit einem rein arktischen Unterkörper eine höher kultivierte Bedeckung des Oberkörpers verbindet.

Fig. 089. Eskimofrau. Arktische Kleidung. (Coll. Gr. Fritsch.)

Trotz dieser Anklänge an fremde Einflüsse sind aber diese Bilder geeignet, als Vertreter einer im ganzen noch völlig den arktischen Prinzipien huldigenden Kleidungsart zu gelten.

Namentlich bei den Grönländerinnen überrascht die sorgfältige Ausführung der Kleidungsstücke, die umso mehr Bewunderung verdient, wenn man bedenkt, mit welch einfachen Hilfsmitteln der spröde Stoff bewältigt werden muss. Die Nadeln sind erst in letzter Zeit in der arktischen Zone eingeführt , vorher benutzten die Frauen Fischgräten zum Nähen und noch heute kauen sie mit ihren Zähnen die zähe Renntier- oder Seehundshaut, um daraus dünne, brauchbare Fäden zu machen.

Dass die Eskimos an allen Teilen ihres Körpers tätowiert sind, wurde bereits erwähnt. Sie zeigen dadurch trotz ihrer sehr vollständigen Kleidung außerhalb des Hauses ihre Zugehörigkeit zu den Naturvölkern.

Mit besonderer Vorliebe wird bei den Frauen, ähnlich wie bei den Dajak, den Birmanen u. a., der Oberschenkel tätowiert.

Dementsprechend besteht die Sitte, dass die Frauen der grönländischen Eskimos während der kurzen Sommermonate nicht, wie unsere Damen, den Hals, sondern die Oberschenkel dekolletieren. von den Steinen war so liebenswürdig, mich im Berliner ethnographischen Museum auf das Modell einer derartigen Eskimoschönheit aufmerksam zu machen, welche dieses Frühlingskostüm trägt.

Innerhalb des Hauses sind die Eskimos, Männer sowohl als Frauen, wie schon mehrfach erwähnt wurde, völlig nackt.

Einen stärkeren Gegensatz kann man sich gar nicht denken. In dieser trostlosen Öde, die den Menschen zwingt, bei jedem Schritt außer dem Hause beinahe das ganze Jahr hindurch jeden Zoll seines Körpers mit dicken Fellen zu beschützen, lebt der Naturmensch in seiner ärmlichen dunklen Hütte tief unter Schnee und Eis in seiner ursprünglichen Nacktheit.

Mit zwingender Notwendigkeit ergibt sich daraus der Schluss, dass die arktische Kleidung zum Schutz des Körpers außer dem Hause unentbehrlich ist, aber keineswegs den Zweck hat, ihn zu verhüllen.



Dass das Bedürfnis nach Schmuck auch bei den arktischen Völkern ebenso wie bei den tropischen besteht, dafür spricht einerseits die auch bei Eskimos übliche Tätowierung, anderseits die kunstvollen bunten Stickereien, mit denen die Frauen ihre eintönige Kleidung verzieren.

Die bescheidenen Anfänge weiblicher Eitelkeit sind an den verzierten Lederstiefeln der Eskimofrau (Fig. 089) zu erkennen. Noch unverfälschter und mannigfaltiger tritt sie an den Kostümen der vier Grönländerinnen (Fig. 087 und 088) hervor.

Die arktische Kleidung in ihrer ursprünglichen Form ist nach dem Gesagten dadurch gekennzeichnet, dass sie in der Hauptsache aus der enganliegenden Ärmeljacke und Hose besteht, und dass sie ausschließlich aus tierischen Bestandteilen, Leder und Fellen, hergestellt wird. Sie hat sich ganz unabhängig von der tropischen Kleidung direkt aus der primitiven Kleidung und dem Mantel entwickelt.

Ebenso wie die Entwickelung der tropischen Kleidung zur Ausbildung der textilen Künste geführt hat, so hat die arktische Kleidung die Ausbildung der Schneiderei und der Lederarbeiten ins Leben gerufen.

Auf der Karte (Fig. 013) sehen wir die Verbreitung der arktischen Kleidung auf ein großes, nördliches Gebiet beschränkt, das infolge der Projektion noch größer erscheint, als es wirklich ist. In Asien dringt ihr Einfluss in China östlich und mit dem Islam westlich tief in die Zone der tropischen Kleidung ein. In diesen Gegenden haben wir aber nicht mehr die reine Form, sondern die vielfach durch allerlei Kultureinflüsse veränderte Gestalt der arktischen Kleidung vor uns, auf die wir später noch wiederholt zurückkommen müssen.

Es lässt sich ja schon von vornherein annehmen, dass die Völker, die ihren Körper im kalten Norden in jahrhundertelangem, hartnäckigem Streit mit der kargen Natur gestählt hatten, bei einem nachträglichen Zurückweichen nach dem Süden einen schwerwiegenden Einfluss auf die Kultur der dort zurückgebliebenen weniger widerstandsfähigen Völker ausüben mussten, und diese Vermutung wird durch die Geschichte bestätigt.

Aber auch die arktische Kleidung ist ebenso wenig an die kalte Zone gebunden, als die tropische an die warme, wohl dagegen, ebenso wie diese, an eine bestimmte Rasse.

Sämtliche heute noch der reinen arktischen Tracht huldigenden Völker sind Mongolen, und dasjenige Volk, bei dem die arktische Tracht trotz aller kulturellen Einflüsse sich nicht verdrängen Hess, sondern vielmehr durch und mit ihnen zu seiner höchsten Ausbildung gelangte, nämlich das chinesische, ist auch mongolischer Abkunft.

Wie die tropische Kleidung bei der weißen Rasse, so ist die arktische Kleidung bei der gelben Rasse als die ursprüngliche Tracht anzusehen.

Diese Tatsache findet ihre natürliche Erklärung darin, dass die Mongolen durch ihre südlich vom Himalaja begrenzten Stammsitze sehr bald darauf angewiesen waren, bei zunehmender Bevölkerungszahl mehr und mehr nach dem Norden zu sich auszubreiten, und so schon sehr früh in die Lage kamen, ihre Lebensweise und ihre Kleidung dem nördlichen Klima anzupassen. Neben der Kleidung sind dadurch auch schon frühe die Geduld und Zähigkeit, diese Haupttugenden der mongolischen Rasse, zu hoher Ausbildung gelangt.

lieber die Entwicklungsgeschichte der arktischen Völker wissen wir nichts. Die ersten Spuren der in den nördlichen Regionen entstandenen Kleidung finden wir zu der Zeit, als einige arktische Stämme sich wieder den südlichen Gegenden näherten, und dort mit den nach dem Norden ziehenden Völkern in Berührung kamen.

Die ersten geschichtlich beglaubigten Zeichen des arktischen Einflusses auf die Kleidung finden wir bei den Skythen, den Assyriern und den Phrygiern, die, ebenso wie die älteren Amazonendarstellungen, mit Hose und Ärmeljacke abgebildet werden. Später sind mit Hunnen, Tartaren, Türken u. a. aufs neue mongolische Einflüsse aufgetreten.

In der chinesischen Kultursphäre tritt uns die arktische Kleidung in bereits sehr weit vorgeschrittener und ziemlich abgeschlossener Form entgegen, und da unsere heutige Kenntnis von der Entwickelung der Kultur auch im Reiche der Mitte ein Gewebe von Lücken ist, so müssen wir uns mit dieser Tatsache begnügen, ohne nach der allmählichen Ausbildung dieser Tracht zu forschen.

Zusammenfassend lässt sich sagen: Die arktische Kleidung in ihrer ursprünglichen Form besteht aus lederner genähter Hose und Ärmeljacke und ist die eigentümliche Tracht der mongolischen Rasse.

Mit ihr ist die Schneiderkunst und die Lederbearbeitung entstanden.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
086. Grönländer und Grönländerin. Arktische Kleidung

086. Grönländer und Grönländerin. Arktische Kleidung

087. Drei Grönländerinnen. Arktische Kleidung

087. Drei Grönländerinnen. Arktische Kleidung

088. Samojedin. Arktische Kleidung

088. Samojedin. Arktische Kleidung

089. Eskimofrau. Arktische Kleidung

089. Eskimofrau. Arktische Kleidung

013. Verteilung der Frauenkleidung um 1900 n. Chr

013. Verteilung der Frauenkleidung um 1900 n. Chr

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