Die Volkstracht außereuropäischer Kulturvölker

Obgleich wir, wie aus den bisher angeführten Beispielen ersichtlich ist, sehr wohl im Stande sind, unter den heute noch lebenden Völkern alle Entwicklungsstufen der Frauenkleidung nebeneinander zurückzufinden, so ist es doch eine sehr schwierige, ja, in einzelnen Fällen ganz unmögliche Aufgabe, für alle bestehenden Volkstrachten den Entwicklungsgang in allen seinen Stufen wieder aufzubauen.

Wir sind dafür beinahe ausschließlich auf die Schätze der Kunst und der Literatur angewiesen, und wo diese uns im Stiche lassen, bleiben große, nicht ausfüllbare Lücken.


In einem Prachtwerke hat Racinet*) mit bewunderungswürdigem Fleiße alles vereinigt, was die zahlreichen, oft schwer zugänglichen Quellen bieten. Eine Fülle von sehr sorgfältig ausgeführten, farbigen Abbildungen gibt dem ausführlichen, sechsbändigen Texte einen noch grösseren Wert. Wenn man das Buch durchblättert, dann steigen daraus nackte und halbnackte Menschengestalten hervor, braune, weiße, rote und gelbe Frauen und Mädchen ziehen lächelnd und mit strahlenden Augen vorüber. Samt und Seide in allen Farben, goldene und silberne Zierate, Stiefelchen und Schuhe, Sandalen und bloße Füße, Schleier, Spitzen, Hauben, Kopftücher, Hüte von Stroh und Tuch, Perlen, Edelsteine, Blumen, Vögel und kostbare Pelzstoffe wechseln in bunter, farbenprächtiger Reihe und erfüllen die Phantasie mit einem Rausch von bunter Schönheit in tausenderlei Gestalten.



*) Racinet, Le costume historique. Paris. Firmin-Didot. 1888. Von deutschen, allgemeinen Kostümwerken sind die besten die von Weiss und von Falke; beide stehen aber in der Ausstattung und den Bildern weit hinter Racinet, während auch der Text nicht immer ganz einwandfrei ist.

Wenn auch durch die Fülle des Gebotenen das Verständnis erschwert wird, so steht doch das Racinetsche Werk als Nachschlagebuch und treuer Berater in seiner Art einzig, da.

Indem ich auf dieses Meisterwerk und den mannigfaltigen Reichtum seines Inhalts verweise, beschränke ich mich hier darauf, nur die wichtigsten Trachtenarten zu besprechen, welche die Grundlage der tausendfältigen Gestaltung weiblicher Zierkunst bilden und zum Verständnis derselben nötig sind.

Wir haben gesehen, dass die selbständige Entwickelung der Kleidung bei den Protomorphen und bei der schwarzen Rasse mit der primitiven Tracht abschließt.

Für die weitere Entwickelung der Frauenkleidung bei den Kulturvölkern kommen sie nicht mehr in Betracht, abgesehen von den Überresten primitiver Tracht, die sich noch hie und da erhalten haben.

Die eigentlichen Träger höherer Kultur sind die weiße und die gelbe Rasse. Beide Rassen haben nicht nur selbständig eine besondere Kleidung, die tropische und die arktische, entwickelt, sondern sind später in einen regen Austausch ihrer Kulturelemente getreten, sowie auch in eine ausgebreitete Rassenmischung.

Durch diese verschiedenen Einflüsse sind die seltsamsten Kombinationen entstanden, welche zu verstehen uns nur gelingt, wenn wir uns genau Rechenschaft geben, in welcher Weise sie eingewirkt haben.

Wo es sich nur um Kulturaustausch handelt, wie z. B. beim Eindringen der buddhistischen Kunst bis tief hinauf nach Tibet, China und Japan*), da wird die Grundform der Kleidung nur wenig beeinflusst, wo dagegen auch eine Rassenmischung eintritt, wie z. B. in Slam und Birma, da mischen sich auch die Elemente der dem ursprünglichen Rassencharakter angepassten Kleidung in viel ausgedehnterem Masse.

*) Vgl. Grünwedel, Buddhistische Kunst in Indien. Spemann, 1900.

Das Gebiet, welches von den wichtigsten außereuropäischen Kulturvölkern bewohnt wird, erstreckt sich von Asien und den dazu gehörigen Inselgruppen bis über die nördlichen Gebiete von Afrika.

Innerhalb dieses Gebietes liegen sowohl die Brennpunkte, in denen die beiden Rassen die ihrem Charakter entsprechende Kleidung unabhängig voneinander ausgebildet haben, als auch die wichtigsten Kulturzentren, die auf die späteren Kombinationen von Einfluss gewesen sind, sowie schließlich auch die Gebiete, in denen die Rassenmischungen in großem Stil stattgefunden haben.

Daraus ergeben sich für unsere späteren Ausführungen die folgenden leitenden Gesichtspunkte:

1. Rassencentren:
a) gelbes Rassenzentrum. China;
b) weißes Rassenzentrum. Indien.

Das gelbe Rassenzentrum ist der Brennpunkt der arktischen Kleidung; Grundprinzip: Verhüllung des Oberkörpers, Hose. Das weiße Rassenzentrum ist der Brennpunkt der tropischen Kleidung; Grundprinzip: Betonung des Oberkörpers, Rock.

2. Rassenmischungen:
a) östliche weißgelbe Mischung;
b) westliche weißgelbe Mischung.

Die östliche weißgelbe Mischung verbreitet sich über Hinterindien bis auf die großen asiatischen Inselgruppen, die westliche zieht sich bis nach Kleinasien und tief nach Europa hinein.

3. Kulturzentren:
a) chinesisches Kulturzentrum China-Japan;
b) gräkobuddhistisches Kulturzentrum Indien;
c) religiöses monotheistisches Kulturzentrum Kleinasien;
d) moderne europäische Einflüsse.

In den Rassenzentren können wir nach dem Gesagten erwarten, die reinste Form der entsprechenden Kleidung zu finden, während in dem Gebiete der Rassenmischung sich auch Mischformen in der Kleidung entwickeln müssen. Hätten wir nur mit diesen Gesichtspunkten zu rechnen, so wäre unsere Aufgabe nicht so schwierig.

Nun kommen aber noch die Einflüsse der Kulturzentren dazu, die sich weit schwieriger verfolgen lassen, und überall in die mehr konzentrischen Ausbreitungen der Rassenmischung eingreifen.

Das chinesische Kulturzentrum trägt außer seiner Kleidungsform auch gewisse Industriezweige, die Schneiderei, die Lederbearbeitung, die Seidenweberei u. a. weit hinaus in die entferntesten Gegenden.

Die gräkobuddhistische Kultur hat namentlich in der Kunst in Griechenland ihre höchste Entwickelung erlangt, und von dort aus ist die ursprünglich indische Formenwelt in veredelter Gestalt mit dem Buddhismus wieder nach Asien zurückgeflossen und hat es bis weit in die entferntesten Ecken von China, Japan und den Sundainseln mit seinen Idealgestalten überschwemmt^), ohne jedoch auf die Tracht einen tiefer eingreifenden Einfluss zu üben.

Aus dem religiösen Kulturzentrum in Kleinasien ist die mosaische Lehre und im Anschluss an sie das Christentum und der Islam hervorgegangen, und namentlich der letztere hat in Kleinasien und Afrika durch seine Vorschriften über die Verhüllung des Weibes einen schwerwiegenden Einfluss ausgeübt.



Endlich sind mit der Ausbreitung der Kolonisation, hauptsächlich durch Engländer und Russen, auch die modernen europäischen Kleiderformen und Industrieerzeugnisse vom Rande her eingedrungen, um sich den anderen kulturellen Einflüssen beizumischen.

Mit allen diesen Momenten haben wir nur die allerwichtigsten Punkte genannt, die einen Einfluss auf die außereuropäische Volkstracht ausübten. Eine ganze Masse kleinerer, wie örtliche Vorschriften, Standesabzeichen u. a. sind der Übersicht halber nicht näher berücksichtigt worden.

Denken wir uns die spiegelblanke Oberfläche eines stillen Sees, in den ein Knabe eine Hand voll Steine hineinwirft. Alle diese Steine werden an dem Punkt, an dem sie das Wasser berühren, kreisförmige Wellen erzeugen, die sich in immer weiteren Kreisen ausbreiten, durcheinander schlingen und verschmelzen, bis der glatte Spiegel in eine unruhig wogende Masse verwandelt ist. Je größer die Steine sind, desto höher sind die Wellen, die sie aufwerfen, je kleiner, desto rascher verschwindet ihre Spur in dem bewegten Wasser.

*) Vgl. Grünwedel, 1. c. und idem, Mythologie des Buddhismus in Tibet und der Mongolei. F. A. Brockhaus. Leipzig 1900.

Gerade so verschlingen sich die Einflüsse, die wir nannten, in dem bunten Spiegel menschlicher Geschichte, und nur die allergrößten Steine sind es, denen wir hier auf ihrem Wege folgen können.

Wir können somit vier grössere Gruppen außereuropäischer Volkstrachten unterscheiden :

1. Chinesische Gruppe:
China und die Shan, Korea und Japan.
Gelbe Rasse. Chinesische Kultur mit ihren Ausläufern.

2. Indische Gruppe:
Vorderindien und Ceylon.
Weisse Rasse. Gräkobuddhistische Kultur.
Europäische Einflüsse.

3. Indochinesische Gruppe:
Birma. Siam. Java.
Mischrasse. Chinesische und gräkobuddhistische Kultur.
Europäische Einflüsse.

4. Islamitische Gruppe:
Persien. Kurdistan. Kleinasien. Türkei. Nordafrika.
Weiße Rasse mit gelber und schwarzer Mischung.
Sämtliche Kulturen mit Überherrschung durch den Islam.


Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
123. Birmanisches Mädchen in chinesischer Jacke

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150. Tunesisches Judenmädchen

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132. Srimpi am Hofe des Sultans von Solo

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136. Parsifrauen

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144. Araberin mit verschleiertem Gesicht

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166. Mädchen von der Insel Marken

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127. Javanisches Küchenmädchen im Sarong. Batavia

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