Die Nacktheit

Wie der wohlerzogene moderne Europäer sich vor dem Gerippe fürchtet, das er beständig mit sich herumträgt, so schämt er sich des Körpers, der nackt in seinen Kleidern steckt.

Es gilt als selbstverständlich, dass beide Geschlechter im öffentlichen Leben nur Kopf, Hals und Hände nackt tragen, dass innerhalb des Hauses, bei festlichen Gelegenheiten die Frau auch die Arme, die Schultern und einen Teil der Brüste nackt zeigt; alles andere aber bleibt verborgen, und wer mehr von seinem Körper sehen lässt, gilt als unanständig und schamlos.


Dieselben wohlerzogenen Menschen aber, die ihren eigenen nackten Körper unanständig finden, bewundern — mit wenigen, besonders prüden Ausnahmen — den nackten Körper in der Kunst. Und schließlich schämt auch der wohlerzogenste Mensch sich nicht seines nackten Körpers, wenn er allein ist.



Schon aus diesen wenigen Tatsachen kann man schliessen, dass unser sogenanntes Schamgefühl mit der Nacktheit an und für sich gar nichts zu schaffen hat. Um aber ganz unparteiisch zu sein, wollen wir einige Vertreter entgegengesetzter Meinungen zitieren, die diesen Gegenstand ausführlicher behandelt haben.

Ratzel*) hält die Nacktheit für ein Zeichen sittlicher Entartung.

Schurtz**) drückt sich sehr apodiktisch aus. Das Schamgefühl ist nach ihm das Ursprüngliche. „Der beste Beweis dafür ist die Existenz einer Schamhülle, die aus anderen Gründen nicht genügend erklärt werden kann. Anderen Ursachen als Regungen des Schamgefühls ist das Entstehen der Kleidertracht nicht zuzuschreiben.“

*) Völkerkunde. I. pag. 87.
**) Urgeschichte der Kultur. (Grundzüge einer Philosophie der Tracht.) 1900.


Grosse*) ist entgegengesetzter Ansicht: „Die Entstehung des Schamschmuckes lässt sich nicht aus dem Schamgefühl herleiten; wohl aber lässt sich die Entstehung des Schamgefühls aus der Sitte des Schamschmuckes erklären.

Westermark**) sieht in der Kleidung „das mächtigste sexuale Reizmittel, das man sich verschaffen konnte“, findet also, im Gegensatz zur Nacktheit, die Kleidung nach modernen Begriffen unanständig.

Als letzter hat Havelok Ellis***) in seiner „Entwickelung des Schamgefühls“ in geistreicher Weise das Schamgefühl definiert als „eine instinktive Furcht, die zur Verheimlichung, zum Verbergen treibt, und die sich gewöhnlich auf die sexuellen Vorgänge bezieht. Diese instinktive Furcht ist durch die Kleidung verstärkt worden.“



Der allgemeinsten Anerkennung erfreut sich die von Schur tz vertretene Ansicht. Dass sie aber einer sachverständigen Kritik nicht standhält, hat Grosse in so schlagender Weise dargetan, dass ich mir nicht versagen kann, seine Worte hier ausführlich zu zitieren ****):

„Wenn die Existenz einer Schamhülle wirklich der beste Beweis für das Schamgefühl ist, so wäre dasselbe für die primitiven Völker herzlich schlecht bewiesen. Wir haben gesehen, dass bei den Feuerländern wie bei den Botokuden beide Geschlechter vollkommen nackt sind, dass die männlichen Mincopie ihre Blöße niemals bedecken, dass in Australien sowohl Männer als Weiber, mit der einzigen Ausnahme der unverheirateten Mädchen, gewöhnlich ohne jeden Schurz erscheinen — mit einem Worte, dass die Schamhülle nichts weniger als ein allgemeiner Besitz der primitiven Stämme ist. Und diese Nacktheit ist auf der niedrigsten Kulturstufe nicht etwa eine zeitweilige Ausnahme, sondern im Gegenteil, alles beweist, dass die Verhüllung der vorübergehende, die Entblößung aber der dauernde Zustand ist. Der Schurz wird in Australien nur bei feierlichen Gelegenheiten umgebunden, alltäglich begnügt man sich mit dem bloßen Gurte. Und wie hier, so erscheint die primitive Schamhülle beinahe überall lediglich als ein ornamentales Anhängsel des Hüftbandes; nicht als ein Kleid, sondern als ein Schmuck. Warum sollte der primitive Mensch das Bedürfnis fühlen, seine Genitalien zu verbergen? — Die Tiere kennen eine Scham in diesem Sinne nicht; woher hat sie der Mensch gelernt ? — Ein rechtgläubiger Philosoph würde die Frage mit der Bemerkung niederschlagen, dass jenes Schamgefühl jedem Menschen angeboren sei. Allein wenn der Philosoph recht hat, was wollen wir alsdann von unsern Kindern denken, die bekanntlich, bevor sie nicht durch den Erzieher darauf aufmerksam gemacht sind, ihre Geschlechtsorgane ohne die geringste Scheu zeigen und zunächst durchaus nicht verstehen, warum man es ihnen verbietet? — Wer nicht die angeborene Bescheidenheit besitzt, den Worten anderer mehr zu trauen, als seinen eigenen Augen, dem muss es vor dieser kindlichen Unschuld für seine Philosophie bange werden. In der Tat, uns erscheint das Dogma, dass jedem Menschen das Bedürfnis angeboren sei, seine Schamteile zu verbergen, ungefähr ebenso berechtigt, als die Behauptung, dass jedem Engländer das Bedürfnis angeboren sei, einen Zylinder zu tragen. Vor allen Dingen aber scheint man übersehen zu haben, dass es nicht ganz dasselbe ist, wenn ein europäischer Philosoph und wenn ein australischer Krieger seine Blöße zeigt.“

*) Die Anfänge der Kunst. 1894. pag. 95.
**) History of human Marriage.
***) Studies on the Psychology of Sex. Deutsch von Koetscher. 1900.
****) 1. c. pag. 92.


Mit anderen Worten: Schurtz und Genossen haben das moderne, beschränkte europäische Schamgefühl zum allgemeingültigen Gesetz gemacht, und sind dadurch dem Fehler verfallen, den alles Generalisieren mit sich bringt.

Übrigens möchte ich noch einen Schritt weiter gehen und behaupten, dass selbst in Europa das sogenannte Schamgefühl gar nicht überall in dem Schurtz’schen Sinne aufgefasst wird. In Künstler- und Ärztekreisen , in denen man an den Anblick des nackten Körpers gewöhnt ist, denkt man darüber ganz anders, und auch im südlichen Europa, wo die Kleidung in den unteren Volksklassen viel weniger bedeckt als bei uns, hat das Schamgefühl mit einer größeren oder geringeren Nacktheit des Körpers nichts zu tun.



Mit Recht hebt Ellis hervor, dass mit dem Wort „Schamgefühl“ eine ganze Reihe von Empfindungen von den verschiedenen Autoren verbunden werden, wie Sittsamkeit, Schüchternheit, Blödigkeit, Scheu u. s. w. — so dass man schließlich nicht weis, was dieser oder jener eigentlich mit Schamgefühl meint. Am schwierigsten dürfte es endlich wohl sein, jene berüchtigte Auffassung zu definieren, nach der ein Gegenstand, „ohne an und für sich unsittlich zu sein, doch im stände ist, das öffentliche Schamgefühl zu verletzen“.

Das sogenannte „öffentliche Schamgefühl“ ist eines der traurigsten Erzeugnisse unserer überfeinerten modernen Kultur.

Meine persönliche Auffassung über Nacktheit und Schamgefühl habe ich bereits a. a. O. *) in kurzen Zügen niedergelegt. Mit Rücksicht auf die verschiedenen herrschenden Ansichten ist es gerade in diesem Buche, das in seinem ersten Teil beweisende Dokumente bringen soll, besonders wichtig, darauf ausführlich zurückzukommen.

*) Siehe Schönheit des weiblichen Körpers. Kap. I.

Am meisten schließe ich mich auf Grund eigener Beobachtungen und Beurteilungen der Grosseschen Ansicht an, während ich mit Ellis zwar im großen ganzen übereinstimme, aber doch in einigem zu etwas abweichenden Resultaten gelangt bin.

Zunächst handelt es sich um die Bestimmung des Begriffs „Schamgefühl“. Es wird zusammengeworfen mit Sittlichkeit, Sittsamkeit, Scheu u. s. w., und sehr häufig auch mit der Nacktheit in Beziehung gebracht.

In Wirklichkeit ist das Schamgefühl eine sehr wechselnde, völlig individuelle Empfindung, die weder mit Sittlichkeit noch mit Nacktheit irgend etwas gemein hat.

Das Schamgefühl, das sich körperlich ganz allgemein zunächst im Erröten und Niederschlagen der Augen äußert, tritt unter den verschiedensten Umständen auf.

Bei uns überfeinerten Europäern findet es sich in unendlich komplizierter Form. Eine Dame errötet, wenn sie im Nachtkleid überrascht wird, wenn sie unter dekolletierten Freundinnen die einzige im hohen Kleide ist, wenn sie ein wirklich oder scheinbar unpassendes Wort hört, wenn ihr Schoßhund ein natürliches Bedürfnis befriedigt, wenn ihr Tischnachbar den Fisch mit dem Messer isst u. s. w.

Es handelt sich hier, wie Ellis treffend sagt, um ein „in sozialen Gebräuchen versteinertes Schamgefühl“.

Diesem selben Gefühle entspricht das Bedürfnis, gewisse Dinge auch in der Sprache nicht beim Namen zu nennen, zu umschreiben, wovon die klassischen „inexpressibles“ das beredteste Zeugnis ablegen.

Ellis berichtet von dem Ladies Home Journal in Philadelphia, das im Jahre 1898 beschloss, jeden Hinweis auf Damenunterwäsche zu vermeiden, weil „die Besprechung dieser Gegenstände im Druck minuziöse Einzelheiten nötig macht, die feinfühligen und gebildeten Frauen verzeihlicherweise außerordentlich peinlich sind“.

Im selben Jahre verbot der Bürgervater von Dinxperloo in Holland das Aufhängen weiblicher Leibwäsche längs den öffentlichen Wegen, „weil es unsittlich wirke und für die unverheirateten männlichen Einwohner üble Folgen haben könne“1).

Weit wichtiger als diese und ähnliche Beobachtungen bei den komplizierten höheren Kulturvölkern sind die Erfahrungen, die bei den primitiven Völkern gesammelt sind.



Hier zeigt sich, dass auch bei völlig nackten Völkern ein oft sehr entwickeltes Schamgefühl besteht. Bartels2), Ellis3), Lippert4), Rudeck5) u. a. haben mit großem Fleiß einschlägige Beobachtungen gesammelt.

Eines der interessantesten, stets zitierten Beispiele beschreibt von den Steinen6), vor dem die Weiber der Bakaïri ohne irgend welches Zeichen von Schamgefühl das spärliche Uluri, ihr einziges Kleidungsstück, ablegten, dagegen tief beschämt waren, als von den Steinen sich anschickte, in ihrer Gegenwart einen Fisch zu verzehren.

1) In Tageblättern 1898 veröffentlicht.
2) Das Weib in der Natur- und Völkerkunde. (Ploss-Bartels.) 6. Aufl. 1899.
3) 1. c.
4) Kulturgeschichte der Menschheit.
5) Geschichte der öffentlichen Sittlichkeit.
6) Unter den Naturvölkern Urbrasiliens. II. Aufl. 1897. pag. 69.


Ellis zitiert ähnliche Beobachtungen von Vaughan Stevens bei Malaien, von Cameron bei den Warrua in Zentralafrika u. a., die alle ganz oder größtenteils nackt sind, dagegen Scham zeigen, wenn ein anderer in ihrer Gegenwart isst.

Ganz allgemein findet sich auch bei den meisten primitiven Völkern das Schamgefühl, dass das Verrichten natürlicher Bedürfnisse in Gegenwart anderer verbietet.

Übereinstimmend berichten die meisten Forschungsreisenden, dass die Sittlichkeit der verschiedenen Primitivvölker ganz unabhängig ist von größerer oder geringerer Bekleidung, ja im allgemeinen mit dem Umfang der Bekleidung eher abnehme.

Diese oft widersprechenden Ansichten erklären sich sehr einfach aus den verschiedenen Begriffen, die mit dem Wort „Schamgefühl“ verbunden werden; und es ist nicht zu leugnen, dass alle möglichen Vorstellungen hierbei so ineinander übergreifen, dass im einzelnen Falle eine Trennung oft schwer möglich ist.

Mir scheint am richtigsten, zunächst zwei Begriffe scharf zu trennen, nämlich das Sittlichkeitsgefühl und das Anstandsgefühl (Sittsamkeit).

Das Sittlichkeitsgefühl ist jedem Menschen angeboren, bald mehr, bald weniger entwickelt, und ist die individuelle Äußerung des Gewissens. Das Sittlichkeitsgefühl, das allein über den moralischen Wert des Individuums entscheidet, kann durch die Erziehung und das Leben mehr oder weniger beeinflusst werden; jedoch verleugnet sich die natürliche gute oder schlechte Anlage niemals. Ein Beweis dafür ist, dass zwei Kinder trotz völlig gleichartigen Erziehungsbedingungen sich in der allerverschiedensten Weise entwickeln können.

Die individuelle Sittlichkeit zu beurteilen ist unmöglich; so manche Frau, die von ihrer Umgebung verachtet und mit Füßen getreten wird, steht sittlich unendlich höher, als eine andere, die als der Inbegriff alles Guten und Hohen verehrt wird.

Das Anstandsgefühl hingegen ist lediglich das Endergebnis der sozialen Zustände, in denen ein gegebenes Individuum lebt. Alle die Sitten, Gebräuche und Herkommen, die meist in sklavischer Nachahmung an die Überlieferung gehandhabt werden, oder sich allmählich unter dem Einfluss der Mode umwandeln, bilden zusammen den Anstandskodex, nach dem sich der wohlerzogene Mensch zu richten hat. Der sittsame Mensch ahmt getreulich die von Vätern und Zeitgenossen ererbten und anerzogenen Umgangsformen nach.

Wer sich gegen die Sittlichkeit versündigt, ist schlecht, wer den Anstand verletzt, ist ungezogen (unanständig). Die Menschen vergeben aber im allgemeinen viel lieber eine Schlechtigkeit, als eine Unanständigkeit.

Das Anstandsgefühl nun wird, insofern es sich auf den Körper und seine Funktionen bezieht, zum Schamgefühl.

Eine Verletzung des Schamgefühls ist jede Betätigung des Körperlichen am Menschen, insoweit sie mit den herrschenden Sitten und Gebräuchen im Widerspruch steht.

Es wurde bereits hervorgehoben, dass alle die Ernährung betreffenden Funktionen des Körpers in erster Linie zur Erweckung des Schamgefühls Veranlassung geben: sowohl die Einnahme der Nahrung als die Entfernung der übrigbleibenden Bestandteile wird schon früh als etwas Unanständiges angesehen und in der Einsamkeit vorgenommen.

Die erstere Auffassung findet sich auch heute noch in Europa bei manchen wohlerzogenen jungen Mädchen, die es für unpassend halten, in Gegenwart anderer viel zu essen; abgesehen davon werden die gemeinschaftlichen Mahlzeiten bei den meisten Menschen heutzutage nicht für unanständig gehalten. Ganz allgemein werden jedoch die exkretorischen Funktionen der Öffentlichkeit entzogen. Doch auch hier gibt es Ausnahmen. Ellis*) erwähnt eine solche bei den Eskimos, Hildebrandt**) bei den Chinesen.

*) 1. c. pag. 49.
**) Reise um die Erde.


In zweiter Linie sind es die Funktionen der Fortpflanzungsorgane, der Beischlaf und die Geburt, die sich der Öffentlichkeit entziehen. Das Bedürfnis, unter solchen Umständen allein und ungestört zu sein, findet sich schon bei den meisten Tieren so ausgeprägt, dass wir mit Sicherheit annehmen dürfen, dass es auch bei unverdorbenen Menschen von jeher bestanden hat. Widersprechende Beobachtungen mancher Reisenden bei Naturvölkern sind wohl größtenteils dem demoralisierenden Einfluss europäischer Individuen niederster Sorte zuzuschreiben.



Die Nacktheit an und für sich hat das Schamgefühl niemals verletzt. Das ist ebensowenig bei den primitiven Völkern als bei unseren Kindern der Fall gewesen. Ja bis in unsere Tage gilt die Nacktheit, wo sie von der Sitte erlaubt oder gefordert wird, wie beim Baden, bei der Untersuchung des Arztes, beim Modell des Künstlers und den danach gefertigten Kunstwerken als etwas Selbstverständliches, vor dem man sich nicht zu schämen braucht.

Wohl aber wird unser modernes europäisches Gefühl durch die Nacktheit verletzt, wenn dieselbe unter außergewöhnlichen Umständen auftritt; aber dann ist es nicht eigentlich die Nacktheit, die unanständig wirkt, sondern die Entblößung. Nicht der nackte Körper erregt unser Schamgefühl, sondern die fehlende Kleidung.

Dass sich aber damit für die moderne Auffassung auch ein sittliches Moment verbindet, werden wir weiter unten sehen.

Bei nackt lebenden Völkern besteht ein auf den nackten Körper als solchen bezügliches Schamgefühl nicht.

Man muss selbst unter nicht oder wenig bekleideten Völkern gelebt haben, um dann auf einmal gewahr zu werden, dass es noch Menschen gibt, die natürliche Dinge natürlich finden, und in dieser Beziehung oft höher stehen, als so mancher in der überreifen Kultur vermoderte Europäer.

Livingstone*) gab sich alle Mühe, den völlig nackten Frauen der Bawe am Sambesi seine Begriffe von Schamgefühl einzuimpfen, aber, schreibt er, „da weder Spott noch Scherz den Sinn für Schamhaftigkeit erwecken konnte, so ist es wahrscheinlich, dass Kleidung allein das schlafende Gefühl aufregen würde“. Der Missionar wusste nicht, dass für den Bawe Nacktheit keine Schande ist.

Lippert**) und Bartels***) haben zahlreiche ähnliche Erfahrungen von Forschungsreisenden zusammengestellt, die auch darum von so großer Wichtigkeit sind, weil sie beweisen, dass dem Naturmenschen nicht Verhüllung, sondern Verzierung seines Körpers die Hauptsache ist.

*) Neue Missionsreisen.
**) Kulturgeschichte der Menschheit, pag. 364 ff.
***) Ploss-Bartels. Das Weib. pag. 395 ff.


Einige der sprechendsten Berichte seien hier angeführt. Der Forschungsreisende Philip schenkte den völlig nackten Australnegerinnen in der Botanybai roten Flanell, um ihre Blöße zu bedecken. Die unschuldigen Naturkinder schlangen sich das bunte Zeug kunstvoll um das Haupt.

Cook schenkte einer nackten Australierin ein Hemd, und sah es anderen Tages als Kopfschmuck wieder.

Als Cook zu den Feuerländern kam, waren einige wegen der großen Kälte erfroren. Sie trugen nichts als ein loses Tierfell über dem Rücken und kleinere Tierfelle an die Füße gebunden. Cook bot ihnen Kleider an, die nackten Feuerländer aber baten um Glasperlen.

Schon im Jahre 1584 schrieb der Jesuitenpater Cardieu*) von den Eingeborenen Brasiliens: Alle gehen nackt, so Männer wie Weiber, und haben keinerlei Art von Kleidung und für keinen Fall haben sie körperliches Schamgefühl, vielmehr scheint es, dass sie in diesem Teil sich im Zustand der Unschuld befinden.

Von den Steinen**) schreibt über seinen Eindruck von der Nacktheit der Bakaïri:

„Diese böse Nacktheit sieht man nach einer Viertelstunde gar nicht mehr; und wenn man sich dann ihrer absichtlich erinnert und sich fragt, ob die nackten Menschen: Vater, Mutter und Kinder, die dort arglos umherstehen oder gehen, wegen ihrer Schamlosigkeit verdammt oder bemitleidet werden sollen, so muss man entweder darüber lachen, wie über etwas unsäglich Albernes oder dagegen Einspruch erheben, wie gegen etwas Erbärmliches. Vom ästhetischen Standpunkt hat die Hüllenlosigkeit ihr Für und Wider, wie alle Wahrheit; Jugend und Kraft sahen in ihren zwanglosen Bewegungen oft entzückend, Greisentum und Krankheit in ihrem Verfall oft schauderhaft aus. Unsere Kleider erschienen den guten Leuten so merkwürdig, wie uns ihre Nacktheit.“

*) Zitiert bei von den Steinen: Unter den Naturvölkern Zentralbrasiliens, pag. 190.
**) Ebenda pag. 67.


Denselben Eindruck wie von den Steinen bekam ich, als ich mich im Jahre 1890 in wenig von Fremden besuchten Gegenden im Innern Javas aufhielt. Eines Morgens sah ich eine große Anzahl Frauen zum Markte von Singaparna ziehen, die alle bis zum Gürtel nackt waren. Trotzdem ich als Arzt an den Anblick des nackten Körpers gewöhnt war, so machte doch im ersten Augenblick diese Massennacktheit unter freiem Himmel einen etwas peinlichen Eindruck. Nach wenigen Minuten aber ritt ich gleichgültig zwischen den halbnackten Gestalten weiter, und wenn mir auch hier und da ein besonders schön gebauter Mädchentorso oder ein außergewöhnlich hässliches altes Weib auffiel, so war ich doch schon so an den Anblick gewöhnt, dass ich ihn ganz natürlich fand. Ich wäre nach einer Stunde, darüber befragt, außer stände gewesen, zu sagen, ob und inwieweit diese oder jene Frau bekleidet ge- wesen sei.

Ganz Ähnliches berichtet Ehrenreich*) von den völlig nackten Botokuden am Rio Pancas.

*) Zeitschrift für Ethnologie 1887. XIX.

Wenn nun schon vorurteilslose Europäer, wie von den Steinen, Ehrenreich u. a., nach ganz kurzer Gewöhnung die nackte Umgebung in keiner Weise anstößig finden, dann darf man als sicher annehmen, dass die betreffenden Völker selbst ihre Nacktheit, die sie tagtäglich vor Augen haben, gar nicht sehen und noch weniger als etwas Ungehöriges, Unpassendes empfinden.

Wir können diese ursprüngliche Auffassung als die naive oder natürliche Nacktheit bezeichnen.

Nun könnte allerdings ein europäischer Moralist den von seinem Standpunkt aus berechtigten Einwand machen: Das ist alles recht schön und gut unter kindlichen Menschen; aber wie steht es denn mit der Nacktheit des Weibes; erweckt die denn keine sinnlichen Gedanken beim Manne?

Aber auch in diesem Punkte lässt uns die einseitige europäische Auffassung im Stich.

Zunächst ist der Geschlechtstrieb ja an und für sich etwas ganz Natürliches, sogar, vom wissenschaftlichen Standpunkt betrachtet, Erhabenes. Sein Endzweck ist die einzige selbstlose Handlung, deren das Individuum fähig ist: einen Teil seiner eigenen Daseinskraft aufzuopfern zur Erhaltung der Art, und die gütige Natur hat ihm diese Aufgabe erleichtert, indem sie der Arbeit die Schaffensfreude, den sinnlichen Reiz hinzugesellte.



Nun ist aber bei den nackten Naturvölkern, wie Ellis überzeugend nachgewiesen hat, der Geschlechtstrieb neben dem viel schwereren Kampf ums Dasein viel weniger entwickelt als bei den besser situierten Kulturvölkern und ist außerdem einer regelmäßigen Periodizität unterworfen. Dabei übt der nackte Körper des Weibes an und für sich gar keinen sinnlichen Reiz aus, sondern einzig und allein der Geschlechtsakt. Dieser allein erregt das Schamgefühl und wird darum verborgen; die Geschlechtsteile dagegen nicht.

Für die literarischen Belege verweise ich auf Ellis.

Sehr charakteristisch ist ferner ein aus Palmstroh geflochtener Tanzanzug der Bakairi, den von den Steinen aus Brasilien mitbrachte und mir im ethnographischen Museum in Berlin zeigte. An demselben, der die einzige, nur bei Festen gebrauchte Verhüllung der nackten Bakaïri darstellt, sind außen, aus Stroh geflochten, die männlichen Geschlechtscharaktere angebracht.

Abgesehen von dem Wesen der natürlichen Nacktheit selbst, erhellt aus den angeführten Tatsachen, dass die Kleidung keinesfalls dem Bedürfnis nach Verhüllung des Körpers oder speziell der Geschlechtsteile entsprungen ist. Dieses Bedürfnis, das körperliche Schamgefühl, besteht bei den nackten Völkern nicht.

„Es ist merkwürdig,“ schreibt von den Steinen*), „wie man gegenüber diesen und anderen Erfahrungen an Naturvölkern auf der Meinung beharrt, dass die Kleidung kein sekundärer Erwerb sein könne, sondern dass es ein primäres, aus den frühesten Tagen der Menschheit ererbtes sexuelles Schamgefühl gebe — was nicht einmal von Moses gefordert wird.“

*) 1. c. pag. 190.

Mit dem gewohnheitsmäßigen Gebrauch von Schmuck, Zierrat und Kleidern bildete sich allerdings eine neue Form des Schamgefühls heraus; das Fehlen des Schmuckes wurde als etwas Beschämendes, Erniedrigendes, Entehrendes empfunden, und dabei war ganz gleichgültig, ob dieser Zierrat von größerem oder geringerem Umfang war.

Auch hierfür kann ich auf die von Lippert, Bartels und Ellis gesammelten Beobachtungen hinweisen und mich damit begnügen, einige davon hier anzuführen.

Bei den Australnegern, bei manchen Indianerstämmen von Mittel- und Südamerika, bei vielen afrikanischen Völkern sind die Frauen völlig nackt, während die Männer sich nur kleiden, wenn sie zur Ratsversammlung oder in den Krieg ziehen.

Am Hofe des prachtliebenden Königs Mtesa bei den Ugandas müssen alle Männer vom Kopf bis zu den Füssen verhüllt erscheinen.

Die Hofdamen gehen völlig unbekleidet umher.

Dass die Frau nackt bleibt, ist ein Zeichen der geringen Achtung, die sie genießt. Der Mann darf die Zeichen seiner Würde anlegen, die Frau muss das Natürliche, Alltägliche, ihren nackten Körper unverhüllt zur Schau tragen.

Erst wo die Frau höher geschätzt wird, darf auch sie ihren Körper schmücken, und dann hält sie an dem Zierrat mit noch größerer Zähigkeit fest als der Mann.

Die Feuerländerinnen waren mit Ausnahme eines kleinen Stückchens Fell, das die Geschlechtsteile bedeckte, völlig nackt. Eine derselben, die mit einem Offizier der französischen Expedition von Hyades und Denikes sehr intim war, sollte ohne dieses Deckchen photographiert werden, aber sie war nicht zu bewegen, ihre rechte Hand von der entblößten Stelle zu entfernen.

Fig. 001 zeigt dies Mädchen, namens Kamana, mit einer Freundin in der landesüblichen spärlichen Hülle, Fig. 002 ohne dieselbe. Die tiefe Beschämung über die Entblößung kommt deutlich zum Ausdruck.

Fig. 001. Die Feuerländerin Kamana bekleidet. (Phot. Hyades u. Deniker.)
Fig. 002. Kamana entblößt. (Phot. Hyades u. Deniker.)


Die Bewohner von Rotuma in Polynesien sind außerordentlich sauber, schreibt Roth, und auch die Weiber baden täglich zweimal in der See; aber öffentlich zu baden ohne das Sulu (Lendenschurz) wäre etwas ganz Unerhörtes und würde im höchsten Grade verachtet werden (Ellis).

Bei einzelnen Negervölkern bedecken die Weiber nur das Hinterteil; nimmt man ihnen den Schurz, so werfen sie sich mit dem Rücken auf die Erde, um diesen Teil nicht sehen zu lassen
(Bartels).



Mit dem Auftreten der Kleidung wird der bedeckte Teil des Körpers zum Sitz des Schamgefühls, der je nach Sitte und Gewohnheit wechseln kann.

In den angeführten Beispielen sind es die Geschlechtsteile und das Gesäß, Jagor*) fand, dass bei Bewohnern der Philippinen der Nabel der Sitz des Schamgefühls wurde.

*) Zitiert bei Peschel. Völkerkunde, pag. 177.

Je ausgedehnter die Kleidung den Körper bedeckt, desto größer wird auch meistens die Zone des körperlichen Schamgefühls, trotzdem in vielen Fällen ein bestimmter Körperteil gewissermaßen den Brennpunkt darstellt; so bei den chinesischen Frauen der Fuß, bei den orientalischen das Gesicht und bei den Europäerinnen die Brüste und die Geschlechtsteile.

Außer der Entblößung an und für sich kommt aber noch ein weiteres Moment hinzu, welches das weibliche Schamgefühl erhöht. Für den Mann bekommt der verhüllte Körper des bekleideten Weibes in allen seinen Teilen einen sinnlichen Reiz. An Stelle der früheren Gleichgültigkeit für das alltägliche Nackte tritt eine Neugierde nach dem verhüllten Körper, eine Reizung der Phantasie, die sich das Unbekannte, Verborgene in lebhafteren Farben ausmalt, und der bei seltenen Gelegenheiten ganz oder teilweise entblößte Körper des Weibes erregt seine Aufmerksamkeit in erhöhtem Masse und macht auf ihn einen rein sinnlichen Eindruck. Aber auch das Weib fühlt, dass es seinen Körper nicht mehr in aller Unschuld zeigen darf, weil er sinnliche Gedanken erregt, und darum verbirgt es ihn.

Es gehorcht damit einem allgemeinen Naturtrieb, der sich bei weiblichen Tieren in gleicher Weise findet. Das Weibchen entzieht sich instinktiv allen Äußerungen des männlichen Begehrens, es fürchtet sich davor und bietet ihnen Widerstand. Die Hündin beißt, die Stute schlägt aus, das Weib errötet, senkt die Augenlider und verbirgt vor dem lüsternen Blick diejenigen Teile ihres Körpers, die ihn hervorrufen. Auf dieser Stufe sind Mann und Weib des Anblicks des nackten Körpers völlig entwöhnt, sie sehen nur die Entblößung, und diese wirkt nur noch sinnlich.

Besonders charakteristisch für die veränderte Auffassung ist der sinnliche Reiz, den die weiblichen Brüste ausüben. Während alle Naturvölker dafür völlig gleichgültig sind, während selbst die völlig bekleideten Chinesen und Japaner der Weiberbrust keine sinnliche Bedeutung abgewinnen, ist sie bei den höher kultivierten Völkern kaukasischer Rasse zum Inbegriff' weiblicher Anziehungskraft geworden und gilt, gut entwickelt, als schönste Zierde des weiblichen Körpers.

Noch merkwürdiger ist jedoch, dass durch die Kleidung der sinnliche Reiz auch auf die von ihr nicht bedeckten Teile des Körpers übertragen wurde, hauptsächlich auf das Gesicht und in diesem wieder auf den Mund. Die Berührung der weiblichen Lippen, der Kuss, ist den Naturvölkern völlig unbekannt und, ebenso wie der Händedruck, ein Erzeugnis spätester Kultur.

Alwin Schultz*) definiert den Kuss: „Kuss oder Mäulgen, auch Schmätzgen und Heitzgen genannt ist eine aus Liebe herrührende und entbrannte Zusammenstoßung und Vereinigung derer Lippen, wo der Mund von zwey Personen so fest aneinander gedrücket wird, dass die Lippen bei dem Abzug einen rechten und deutlichen Nachklang zum Zeichen des Wohlgeschmacks von sich geben.“

In dem altindischen Kamasutram**) findet sich eine ausführliche Anweisung für das Küssen, die mit den Worten beginnt: „Auf die Stirn, das Haar, die Wangen, die Augen, die Brust (des Mannes), den Busen (der Frau), die Lippen und den Innenmund drückt man Küsse; — so lehrt V?tsy?yana.“

Hier genügt, festzustellen, dass der Kuss sehr viel später als die Kleidung und auch dann nicht allgemein aufgetreten ist.

Diese zweite, durch Entblößung hervorgerufene Form der Nacktheit können wir im Gegensatz zu der natürlichen die sinnliche Nacktheit nennen.

Neben derselben besteht jedoch, trotz ausgedehntester Kleidung, die natürliche Nacktheit fort, und zwar oft mitten in der höchsten Kultur.

Kane berichtet, dass die Eskimos in ihren Wohnungen alle Kleider ablegen. Im ethnographischen Museum in Berlin ist ein von Eskimos gefertigtes Modell des Spielhauses aufgestellt, in dem alle Zuschauer völlig nackt sind. Dabei fehlt jeder sinnliche Beigeschmack, wie denn überhaupt das Geschlechtsleben bei den Eskimos sehr wenig entwickelt ist. Der Grund dafür ist der außerordentlich schwere Kampf ums Dasein, die Folge und zugleich der Beweis die geringe Seelenzahl, die nur mühsam auf dem laufenden erhalten wird.

*) Alltagsleben einer deutschen Frau im 18. Jahrhundert. 1890. pag. 13.
**) Deutsche Übersetzung von Schmidt.


In den Tropen sind die Kinder bis zur Geschlechtsreife immer nackt, aber auch die Erwachsenen legen innerhalb des Hauses häufig alle Kleider ab; ich habe als Arzt Gelegenheit genug gehabt, dies bei Javanen und auch bei europäischen Mischlingen in den Tropen zu beobachten. Ja sogar in Berlin habe ich während meiner poliklinischen Tätigkeit in den Achtzigerjahren in den ärmeren Kreisen erwachsene Mädchen im selben Zimmer mit ihren Eltern und Brüdern während der wärmeren Jahreszeit völlig nackt im Bette liegen sehen. In keinem dieser Fälle hatten die nackten Personen untereinander oder mir als Arzt gegenüber das Gefühl der körperlichen Beschämung über ihre Blöße, sondern bewegten sich ganz unbefangen, ohne mich zu beachten, aber auch ohne sich gegenseitig durch aufdringliche Blicke zu belästigen. Trotz der durch die Armut gebotenen Entblößung bestand bei den meisten ein streng sittliches Verhalten untereinander.

In einigen Gegenden Norwegens, in Island, in Jütland und bei den Tschuktschen ist es nach Berichten von Lippert noch heute unter dem Volke allgemeine Sitte, dass beide Geschlechter sich beim Schlafengehen völlig entkleiden, ohne dass irgend jemand etwas Anstößiges darin findet.



Auch in Italien scheint das nackte Schlafen nach Ellis unter dem Volke noch ziemlich allgemein verbreitet zu sein.

Über Dänemark findet sich in Tröls Lund eine von Lippert*) angeführte Beobachtung aus dem Jahre 1658.

„Ein polnischer Offizier, welcher mit dem Hilfskorps seiner Landsleute dorthin kam, erzählt, wie alle in diesem Lande nackt zu schlafen pflegten. Auf die Frage, ob sie sich doch nicht schämten, ohne Rücksicht auf das Geschlecht sich in seiner Gegenwart zu entkleiden, antworteten sie: dessen, was Gott geschaffen, brauche sich niemand zu schämen; außerdem könne das Leinen, das den ganzen Tag über dem Leib treulich gedient habe, es wohl bedürfen, dass es wenigstens des Nachts geschont würde.“

Derselbe Autor zitiert das im Jahre 1613 in Nürnberg erschienene Reysbuch von Hans Wilden, der sich darüber wundert, „wie denn die Teutschen sich also können im Zaum halten, obwohl Mann und Weib in einer Badstuben, darzu nebeneinander auf der Bank sitzen, beinahe gar nackt und bloß, dass doch keine Leichtfertigkeit vermerket wird“.

Als ich mich in Japan aufhielt, erzählte mein Dragoman, dass er in der Lage wäre, mich in einer Stadt im Inneren Japans im Hause eines angesehenen Beamten einen Nationaltanz sehen zu lassen, der im allgemeinen nicht gern einem Europäer vorgeführt wird, und den er Dschonkina nannte.

Nach den üblichen Förmlichkeiten wurde ich zu einem echt japanischen Gastmahl eingeladen, das auf niedrigen lackierten Tischen serviert und in sitzender Stellung genossen wurde. Der Herr des Hauses, einige Gäste und ich hatten jeder seinen besonderen Tisch, mein Dragoman saß abseits und die Damen des Hauses, die bedienten, bewegten sich ehrerbietig im Hintergrund.

Nach dem Essen traten vier nach japanischen Begriffen auffallend hübsche Mädchen ein, von denen die hübscheste, wie mir der Dragoman versicherte, die jüngste Tochter des Hausherrn war, knieten vor uns nieder und beugten sich mit der Stirn auf die Erde. Sie waren in reiche faltige Kimonos gekleidet, mit kostbaren, schwer seidenen Obis.

Auf ein Zeichen des Hausherrn erhoben sie sich und traten nach der gegenüberliegenden Wand zurück. Zum Klange der Samisen, der japanischen Gitarren, bewegten sie sich in langsamem rhythmischen Tanze, den sie mit Gesang begleiteten.

Der Tanz stellte ein Rätselspiel vor. Nach einer stets sich wiederholenden Figur mit Gesang blieben die vier Mädchen plötzlich stehen, eine Pause trat ein, und beim Weitertanzen knüpfte eines der Mädchen seinen Obi ab und legte ihn vor sich nieder. Nach der nächsten Pause legte ein anderes Mädchen den Obi ab. Das Spiel, einem europäischen Pfänderspiel vergleichbar, wiederholte sich, ein schimmernder Kimono nach dem anderen fiel in malerischen Falten vor den Tänzerinnen auf den Grund, und über der bunten Masse schwebten mit stets denselben abgemessen zierlichen Bewegungen die schlanken Mädchengestalten.

Bald war erst eine, dann alle vier allein mit dem grellroten Untergewand bekleidet, wie es „alle Japanerinnen auf dem bloßen Leibe tragen; auch diese Hüllen fielen, eine nach der anderen, und in der letzten Pause standen die vier zierlichen Körper nackt nebeneinander.



In diesem Zustand tanzten sie noch eine Weile, ohne die geringste Verlegenheit zu zeigen, mit denselben sorgfältig abgemessenen Bewegungen weiter und verhüllten sich dann in gleicher Weise, bis sie schließlich, völlig gekleidet, auf uns zuschritten, kniend mit der Stirn die Erde berührten und schweigend das Zimmer verließen.

Während dieser Szene hatten sämtliche Zuschauer mit schweigender Aufmerksamkeit dagesessen. Keine einzige Bemerkung wurde laut und kein Mund verzog sich zum Lachen.

Als die Mädchen gegangen waren, wendete sich mein Gastgeber durch Vermittelung meines Dragomans zu mir und wünschte meine Meinung zu hören. Es stellte sich heraus, dass er, ebenso wie ich und die anderen Gäste, das Schauspiel von rein künstlerischem Standpunkte auffasste und in dem Sinne besprach. Ob die einzelnen Figuren mit der nötigen Vollendung getanzt waren, ob diese Neigung des Kopfes, diese Beugung des Armes in Übereinstimmung mit den Regeln der Kunst ausgeführt war, darüber entspann sich die Unterhaltung, und der Gastgeber meinte lächelnd, dass die Schwierigkeit dieses Tanzes gerade darum so groß wäre, weil man bei nacktem Körper auch den kleinsten Fehler in der Bewegung bemerke, der unter den Kleidern leichter verborgen werden könne. Über die Körperform der Mädchen wurde kein Wort gesprochen; es galt als selbstverständlich, dass nur ein Mädchen mit völlig tadellosen Formen diesen Tanz ausüben durfte.

Mitford*) bemerkte in einem Gespräche mit einem Herrn aus Japan, „dass wir es für unanständig hielten, wenn beide Geschlechter ihre Bäder und Waschungen gemeinsam vornähmen“. Der Japaner zuckte die Achseln und antwortete: „Ach, die westlichen Leute haben solch geile Gedanken.“

*) Tales of Old Japan. 1871.

Im Jahre 1892 habe ich häufig nackte Japanerinnen im Bade gesehen und nie bemerkt, dass sie vor mir irgendwelche Scheu oder Verlegenheit zeigten. Reisegenossen erzählten mir aber, dass vor ihnen die nackten Mädchen geflüchtet seien und ihre Blöße zu bedecken suchten. Ein Japaner fixiert niemals ein nacktes Weib, ebensowenig tat ich es, der ich durch meinen Beruf, sowie durch längeren Aufenthalt in den Tropen die Umgangsformen mit entblößten Menschen kannte; der unerfahrene Europäer aber betrachtet entweder den entblößten Körper mit begehrlichen Blicken oder er gerät selbst durch den ungewohnten Anblick in Verwirrung und erregt in beiden Fällen damit das schlummernde Schamgefühl und bringt die vor seinen Augen ungebührliche Entblößung zum Bewusstsein. Mit den angeführten Tatsachen dürfte hinreichend bewiesen sein, dass die natürliche Nacktheit trotz ausgiebigster Bekleidung noch heute in den verschiedenartigsten Formen fortbesteht, dass das Bewusstsein der Nacktheit weder heutzutage noch früher jemals ein so allgemeines und so intensives gewesen ist, dass man aus dem Bedürfnis der Verhüllung den Ursprung einer Bekleidung abzuleiten berechtigt ist, und dass endlich auch die sinnliche Nacktheit, die Entblößung, lediglich im Zusammenhang mit den herrschenden Gebräuchen das Schamgefühl zu verletzen im stände ist; das Verletzende ist aber in solchen Fällen in erster Linie das Auge des Zeugen.

Charakteristisch für den Unterschied der natürlichen und sinnlichen Nacktheit, der Nacktheit und Entblößung nach unserer europäischen Auffassung sind die Fig. 3 und 4. Die erste stellt ein 18jähriges javanisches Mädchen dar, das sich in voller Unschuld, die nichts zu verbergen hat, vor dem Photographen und mir nackt zeigte und in dieser natürlichen Stellung photographiert wurde.

Fig. 003. Natürliche Stellung eines nackten Weibes. Javanisches Mädchen von 18 Jahren.

Fig. 004 zeigt ein 19jähriges Mädchen in der typischen Stellung, die eine Europäerin einnimmt, wenn sie entkleidet überrascht wird. Neben dem Erröten und dem Niederschlagen der Augenlider äußert sich das Schamgefühl in einer unwillkürlichen Bedeckung derjenigen Teile, die nach unseren Begriffen den größten sinnlichen Reiz ausüben. Die Brüste werden mit den gekreuzten Armen und Händen bedeckt, die Geschlechtsteile durch das Zusammenpressen und Übereinanderschieben der Oberschenkel. Dabei werden die Schultern emporgezogen und der Rücken leicht gekrümmt, um dadurch die Oberfläche der vorderen Rumpfseite möglichst zu verkleinern.



Fig. 004. Typische Stellung eines entkleideten Weibes. Italienerin von 19 Jahren. (Phot. von Plüschow.)

In seltenen Fällen wird auch das Gesicht mit den Händen bedeckt, wobei dann die gebogenen Arme die Brüste verhüllen.

Diese Stellungen, die ich häufig genug beobachtete, halte ich für die in Europa normalen Typen der Schamhaftigkeit.

Ellis*) ist, wie die meisten, überzeugt, dass nicht diese, sondern die Stellung der Venus von Medici die natürliche sei.

Reinach**) hat bereits früher angenommen, dass die Stellung der Venus ursprünglich eine symbolische gewesen sei, indem die eine Hand nicht die Brust bedeckte, sondern Milch aus derselben presste, während die andere auf die Geschlechtsteile hinwies als zweites Symbol der Fruchtbarkeit.

*) 1. c. pag. 47.
**) L'Anthropologie Nr. 5. 1895. La Sculpture en Europe. [/b]

Als Stütze seiner Ansicht führt er ein analoges Figürchen aus Cypern an, das 2000 Jahre vor Christus gemacht wurde. Erst die Epigonen, die die symbolische Bedeutung nicht mehr kannten, haben den Ausdruck des Schamgefühls hineingelegt, der aus der Mediceerin spricht.

Trotzdem Ellis dieselbe Stellung auch auf babylonischen Figürchen gesehen hat, will er Reinachs Auffassung nicht gelten lassen.

Für Reinach und gegen Ellis sprechen die folgenden Tatsachen:

1. Zur Zeit, als die alten Astartestatuen gemacht wurden, war das körperliche Schamgefühl in unserem Sinne noch gar nicht bekannt, namentlich aber war ein Bedecken der Brüste damals ganz undenkbar.

2. Zwei sehr wichtige Symptome des Schamgefühls, das Krümmen des Rückens und das Einziehen der Beine, finden sich bei der Mediceerin. An den alten Statuen aber ist der Rücken gerade und die Beine gestreckt.

3. Die Erfahrung lehrt uns, dass bei allen, durch, heftige Affekte veranlassten Bewegungen beide Extremitäten dieselben unwillkürlichen Bewegungen machen; beim Zorn ballen sich beide Hände zu Fäusten, beim Schreck sinken beide Arme schlaff am Körper nieder, während beide Knie sich beugen, und bei der Überraschung hebt die entkleidete Frau beide Arme in gleicher Weise nach oben, drückt unten beide Knie ein. Die komplizierte Bewegung, eine Hand nach oben, die andere nach unten, ist nicht natürlich.

Diese letztere findet sich nicht einmal, wenn der Überraschung ein Angriff von Seiten des Mannes folgt. Auch dann bedeckt die eine Hand nicht die Geschlechtsteile, sondern sie stößt die Hand des Mannes zurück, während der Körper sich noch stärker beugt und einzieht.

Die Mediceerin ist ein schönes Weib, welches mit seinem nackten Körper kokettiert. Unsere moderne Schamhaftigkeit hat Canova in seiner Aphrodite aus dem Palazzo Pitti viel richtiger zum Ausdruck gebracht. (Fig. 5 und 6.)

Fig. 005. Venus von Medici. Uffici. Traditionelle Stellung des entblößten Weibes. (Phot. Brogi.)
Fig. 006. Venus von Canova im Palazzo Pitti. Natürliche Stellung des entblößten Weibes. (Phot. Brogi.)


Die Stellung ändert sich aber, wenn der plötzlichen Überraschung in entblößtem Zustand eine längere Betrachtung seitens des Mannes folgt. Dann wendet das verlegene Weib den Kopf ab, senkt oder schließt die Augen, und bedeckt mit ängstlicher Hand bald diesen, bald jenen Körperteil, auf den der Mann die Blicke richtet, oder den das Weib am meisten seinen Blicken ausgesetzt glaubt.

Aus diesen erst später auftretenden Bewegungen lassen sich verschiedene Ausdrücke des Schamgefühls ableiten. Einer davon ist in Fig. 7 wiedergegeben. Die Beschämung ist aufs Höchste gestiegen und dem Erröten werden die Tränen folgen.

Fig. 007. Entkleidetes Mädchen. Sekundärer Ausdruck des Schamgefühls. (Phot. F. Schmidt, Wien.)

Die bildenden Künstler ziehen im allgemeinen die Darstellung dieser sekundären Äußerungen des Schamgefühls vor, weil dabei mehr Abwechselung möglich ist und ein größerer Teil der Körperoberfläche, namentlich aber ein Teil der Brüste, sichtbar wird.

Ebenso wie in stehender, so ist auch in kauernder Haltung trotz der durch das Knien selbst veranlassten stärkeren Bedeckung des Rumpfes der Nacktheit gegenüber die Entblößung deutlich in derselben Weise gekennzeichnet. (Fig. 8 und 9.)

Fig. 008. Kauernde nackte Aphrodite. (Vatikan.)
Fig. 009. Kauerndes entkleidetes Mädchen. Italienerin. (Phot. von Plüschow.)


Wir haben bereits darauf hingewiesen, dass sich für unser europäisches Empfinden mit der Entblößung unter gewissen Umständen auch, ein sittliches Moment verbindet, das mit dem natürlichen Empfinden im Widerspruch steht.

Dies beruht darauf, dass bei uns hier die Religion ins Spiel kommt.

In den Büchern Mosis finden sich eine ganze Reihe von Bestimmungen, die offenbar nur den Zweck haben, die Fruchtbarkeit des Volkes möglichst zu befördern.

Der ehrwürdige jüdische Gesetzgeber war ein ganz hervorragender Menschenkenner und benutzte alle ihm zu Gebote stehenden Mittel, um seinen Zweck zu erreichen.



Inmitten der ihm an Zahl unendlich überlegenen Nachbarvölker konnte das kleine jüdische Volk nur durch eine ganz besondere Fruchtbarkeit zu Macht und Ansehen gelangen. Diesem Zwecke diente die Erhöhung der väterlichen Macht, die Heiligung der Familienbande, die zahlreichen Enthaltungsvorschriften, die den Beischlaf seltener und darum fruchtbarer machten, und endlich die Vorschriften zur Verhüllung des Körpers.

Gekleidet erschien auch das alternde Weib dem Manne noch begehrenswert, und da er nicht Vergleichungen machen konnte, fanden auch die weniger schönen Weiber Gnade vor seinen Augen. Mit der Verhüllung gewannen neben den Geschlechtsteilen auch alle übrigen Merkmale des anderen Geschlechts, die Brüste, die langen Haare, der weiche Mund, die runderen Formen, die kleineren Hände und Füße einen erhöhten Reiz für das Verlangen des Mannes. Die dadurch erzielte Erhöhung des Geschlechtstriebs war aber für Moses nur ein Mittel zur Erreichung des höheren Zieles, der größeren Fruchtbarkeit. Und um die Kraft der Vorschriften zu erhöhen, verlieh er ihnen Gesetzeskraft und erhob sie sogar zur religiösen Satzung. Wie wir aus der Geschichte wissen, hat er seinen Zweck völlig erreicht, denn die Juden waren fruchtbar, vermehrten sich und wurden zahlreich wie der Sand am Meer.

Der einzelne erkannte natürlich den höheren Zweck des Gesetzgebers nicht, für ihn war nur die Wirkung des Gesetzes auf sein eigenes Dasein von Bedeutung. Zunächst also gewann für den Mann der verhüllte Körper des bekleideten Weibes in allen seinen Teilen einen sinnlichen Reiz.

Nun ist aber die Verhüllung nicht nur einfache Vorschrift, sondern ein religiöses Gesetz, und darum wird mit der Verhüllung mehr und mehr der Begriff der Sittlichkeit, mit der Entblößung der Begriff der Unsittlichkeit verbunden. Den Nachkommen ist das Nackte nicht mehr etwas Selbstverständliches, es ist das von den religiösen Satzungen Verbotene, das Sündhafte; und so hat sich im Laufe der Zeiten die Auffassung gebildet, dass Nacktheit unsittlich sei, und man hat vergessen, dass nur die Entblößung den Charakter des Unsittlichen in sich schließt, und auch diese nur, wenn sie vor lüsternen Zuschauern des anderen Geschlechts mit sinnlichen Nebengedanken vorgenommen wird.

Das Christentum und der Islam haben das altjüdische Prinzip der Körperverhüllung übernommen, ohne sich von dem ursprünglichen Zweck derselben die geringste Rechenschaft zu geben. Oder haben vielleicht beide Religionen die große Weisheit des Moses erkannt und stillschweigend auch für ihre Zwecke benutzt? Gerade den ersten Bekennern des Christentums war ja die Verhüllung im Kampf mit der in nackter Herrlichkeit verklärten Gotteswelt der Griechen und Römer eine besonders willkommene Waffe. Mit zunehmender Herrschaft des Christentums bildete sich mehr und mehr der auch heute noch in breiten Kreisen herrschende Begriff heraus, dass Nacktheit nur sinnlich und darum unsittlich sei.

Aber über dem allen schwebt in himmlischer Hoheit am Kreuze der nackte Körper des Heilands.

Unter seinem Schutze hat sich allmählich aus der Verwirrung der Begriffe auch bei uns eine neue, verklärte Form der Nacktheit in langem Kampfe wieder frei gemacht, die ich die künstlerische Nacktheit nennen möchte; denn wie sie durch die Kunst von den alten Griechen verewigt wurde, so ist sie auch bei uns durch die Kunst zuerst zu neuem Leben erweckt worden.

Das Wesen der künstlerischen Nacktheit steht viel höher und ist von der natürlichen wie von der sinnlichen Auffassung gleich weit entfernt.

Der naive Naturmensch sieht die Nacktheit überhaupt nicht, der bekleidete Mensch sieht am entblößten Körper nur den sinnlichen Reiz, auf diesem höchsten Standpunkt aber kehrt der Mensch mit Bewusstsein zur Natur zurück und erkennt, dass unter den mannigfaltigen Hüllen von Menschenarbeit das herrlichste Geschöpf verborgen ist, das Gott geschaffen hat. Der eine bleibt in stiller, anbetender Bewunderung davor stehen, den anderen aber treibt es, das Gesehene nachzubilden, es in seinem Werke den Mitmenschen so zu zeigen, wie er es in heiligen Augenblicken gesehen hat. Beide aber gemessen den Anblick nackter menschlicher Schönheit mit vollem Bewusstsein und in geklärter Reinheit der Gedanken.

Ein Beispiel von künstlerischer Auffassung der Nacktheit ist die oben beschriebene japanische Tanzszene.

In sehr schöner Weise ist der Gedanke, dass der nackte Körper schöner ist als Schmuck und Geschmeide, in einem Lied der Bilitis*) ausgedrückt:

Mit weißem Linnen, farbigen Gewändern,
Mit Gold und Edelsteinen, Blumen, Bändern,
Bedecken andre Mädchen ihren Leib. —
Ich, Liebster, ich entkleide mich und löse
Die Bänder auf: — Nimm mich in meiner Blöße:
Kein Kleid, kein Schmuck, kein Schuh, ein nacktes Weib.

Rot ist mein Mund, und meine goldnen Haare
Umflattern mich gleich einem Flügelpaare,
Mein junger Leib lacht schimmernd draus hervor.
Nimm mich, so nackt, wie mich die Mutter machte,
Da in entschwundener Nacht ihr Liebe lachte. —
Gefall ich dir, sag' es mir leis ins Ohr.

Ende 1893 bekam ich den Auftrag, die Leitung des Frauenhospitals Pegirian in Soerabaia zu übernehmen. Ein junger Schreiber des Residenten sollte mir dabei behilflich sein. Außer etwa 200 ständigen Kranken mussten allwöchentlich 400 jüngere Frauen und Mädchen zur ärztlichen Untersuchung sich dort einfinden. Mein Vorgänger erwartete mich in einer offenen kleinen Halle, die in einen rings von hohen Mauern umschlossenen geräumigen Hof eingebaut war. Neben ihm standen die Untergebenen, zwei javanische Ärzte, ein alter Türhüter und einige weibliche Wärterinnen.



Nach kurzer Begrüßung legte sich mein Schreiber hinter dem Tisch alles zurecht, und auf den Wink des Arztes wurden nun die zur Untersuchung bestellten Frauen und Mädchen in den Hof hereingelassen. Es war ein langer Zug von farbigen Gestalten, in der malerischen Landestracht, im bunt gemusterten, bis an die Knöchel reichenden Sarong, und der taillenlosen, meist seidenen Kabaia mit langen Ärmeln. Auf der schillernden Seide, dem glänzend schwarzen Haar, das einige mit Blumen verziert hatten, brach sich das helle Sonnengold in tausend farbigen Lichtern, während sich die Weiber in langen Reihen, leise flüsternd, im Hofe aufstellten.

[i]*) Pierre Louis, Chansons de Bilitis. Nr. 38. Die Übersetzung aus dem Französischen habe ich sehr frei gestaltet.


Als der alte Sergeant die Namen abrief, konnte ich mir die Gestalten näher ansehen. Alle hatten die lässige, gemessene Grazie in Gang und Haltung, die die südlichen Völker kennzeichnet; schlanke, ebenmäßig gebaute Körper, feine Hände und Füße; viele trugen kostbare silberne Spangen, die die Kabaia über der Brust schlossen.

Mein Kollege machte mir einzelne kurze Bemerkungen ärztlicher Art, als die Namen genannt wurden.

Mariem — will sich verheiraten, kommt heute zum letzten Male — Muakidja — ein hübsches Mädchen, ist noch nie krank gewesen — Saridja, Manissa — Tänzerin, strengt sich zu sehr an — Kassida — bleichsüchtig — Mina Rombjo, Samira, Djamsina, Ramten, Joni, Sarinten, Lasima, Kasmi, Daramedja u. s. w.

Der alte Türhüter legte die Liste vor mich hin und rief: „Ankat pakeian“ — zieht die Kleider aus.

Einen Augenblick nestelten die geschäftigen Hände an den silbernen Spangen, dann flatterten zahllose rote, gelbe, blaue, grüne und weiße Gewänder wie leuchtende Schmetterlinge in der Luft die Gürtel lösten sich, und die bunte Pracht von Seide und Linnen sank in kleinen schillernden Päckchen auf dem Boden zusammen, während aus dem farbigen Glanz, wie in Erz gegossen, die prächtigen nackten Gestalten der Javaninnen emportauchten. Alle Farben vom zartesten Gelbweiß bis zum dunkelsten Blaubraun waren vertreten, das Tageslicht goss eine warme Glut über die satten Farben der weichen Haut und hob die Wohlgestalt der schlankgebauten Leiber doppelt schön hervor. Nackt bewahrten die Frauen dieselbe lässige Haltung, die Hände hingen am Körper herab oder spielten in den Haaren, einzelne flüsterten und kicherten miteinander oder steckten sich gegenseitig die Blumen im Haar zurecht. Mit derselben abgemessenen Ruhe, derselben natürlichen Grazie trat nun eine nach der anderen zu uns heran, um sich ebenso nach stattgefundener Untersuchung zu entfernen. Da ich als müßiger Zeuge dabeistand, so hatte ich wiederholt Gelegenheit, die besonders ebenmäßig gebauten Körper in ihren zierlichen, ungezwungenen Bewegungen zu beobachten und die natürliche Schönheit des Weibes in tausenderlei Gestalt zu bewundern. Zugleich aber beobachtete ich auch den Eindruck, den all die nackten Mädchen und Frauen auf die anderen machten.

Mein Kollege war ganz in seinem Fache, er sah nur die Krankheitserscheinungen, die javanischen Doktoren sahen gelangweilt und gleichgültig aus, der alte Türhüter stand in unbeweglicher Diensthaltung, nur der kleine Schreiber, der zum ersten Male hier war, rückte unruhig auf seinem Stuhle hin und her und musste oft wiederholt angerufen werden, um eine Bemerkung niederzuschreiben.



Als nach beendigter Untersuchung die Frauen zu ihren Kleidern zurückkehrten, und ein Bronzefigürchen nach dem anderen wieder unter der farbigen Hülle verschwand, wies ich meinen Kollegen auf das liebliche Schauspiel und sagte: „Ich wollte, dass ich das malen könnte.“ „Ja, 's ist ja ganz hübsch,“ meinte er, „aber auf die Dauer ist es eine langweilige Geschichte.“

Als ich mit meinem Schreiber nach Hause fuhr, sagte dieser ganz erstaunt: „Ich begreife nicht, dass Sie dabei so ruhig bleiben konnten.“

Hier sind alle drei Auffassungen der Nacktheit vertreten. Die Frauen und Mädchen selbst, die javanischen Doktoren und mein Kollege sahen nur die natürliche, selbstverständliche Nacktheit, auf den Schreiber hatte sie rein sinnlich, auf mich rein künstlerisch gewirkt; der beste Beweis, dass derselbe Anblick, je nach dem Standpunkt des Beschauers, den allerverschiedensten Eindruck hervorrufen kann.

Fassen wir alle die gegebenen Tatsachen zusammen, so ergibt sich, dass die Nacktheit in dieser oder jener Form aus der ältesten Zeit bis in unsere Tage neben der Kleidung bestanden hat, und dass weder heute noch früher das Bedürfnis nach Verhüllung, weder physisch noch psychisch, ein so allgemeines gewesen ist, dass daraus das Entstehen der Kleidung abgeleitet werden kann.

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Heutzutage findet sich völlige Nacktheit noch bei den Australiern 1) 2), bei den Papuas in Neuguinea 3), auf einigen Inseln des malaiischen Archipels 4) 5) 6), bei verschiedenen Stämmen der Sudan und Bantuneger in Afrika 7) 8) 9) und bei einzelnen Indianerstämmen Südamerikas 10) 11).

Bei allen diesen Völkern sind Männer sowie Frauen nackt, nur bei den Upotos, den Niamnjams und den Bawes schmücken sich die Männer zum Streite und bei feierlichen Gelegenheiten, während die Frauen stets nackt bleiben. Auf einige mittelafrikanische Stämme, bei denen die Männer nackt sind, während die Frauen sich kleiden, brauchen wir hier nicht einzugehen.

Fig. 010 stellt eine Gruppe von Botokudenfrauen dar, die Ehrenreich am Rio Pankas selbst aufgenommen hat, und deren Wiedergabe er mir freundlichst gestattete. Es ist ein vortreffliches Vorbild der unbewussten, natürlichen Nacktheit.

Fig. 010. Nackte Botokudenfrauen. (Phot. Ehrenreich.)

Die eine Frau links steckt den Zeigefinger in den Mund, die am meisten rechts stehende den Daumen, genau dieselben Bewegungen, welche unsere Kinder ausführen, wenn ein Erwachsener nach ihnen blickt oder sie anspricht; eine ähnliche Verlegenheit äußert sich in der verschränkten Stellung des kauernden Mädchens und im gesenkten Blick der hinter ihm stehenden Frau mit dem Kinde, während die fünfte nur Neugierde zur Schau trägt.



Verlegenheit und Neugier vor dem photographischen Apparat und vielleicht auch vor dem weißen Mann daneben ist in Haltung und Mienen der fünf Frauen ausgedrückt, in keiner Weise aber das Bedürfnis, irgend einen Teil des Körpers zu verbergen. Ein besseres Argument gegen das sogenannte angeborene Schamgefühl kann man sich nicht wünschen.

1) Spencer und Gillen. Native tribes of Central Australia.
2) Roth. Ethnolog. Studien unter den Eingeborenen Queenslands.
3) Schellong. Zeitschr. für Ethnologie. 1889.
4) Tautain. L'Anthropologie. 1896. Tasmanien.
5) Sommerville. Journal of Anthrop. institute. 1894. Neu-Hebriden.
6) Graf Pfeil. Studien und Beobachtungen aus der Südsee.
7) Th. Parke. My personal experiences in Equatorial Afrika (Upoto).
8) Schweinfurth. Im Herzen von Afrika. Bongo. Njamnjam.
9) Livingstone. Missionsreisen. Bawe am Zambesi.
10) von den Steinen. Unter den Urvölkern Zentralbrasiliens.
11) Ehrenreich. Unter den Botokudos. Zeitschr. f. Ethnolog. 1887.


Ein weiterer photographischer Beweis von heute noch bestehender natürlicher Nacktheit ist das von Parkinson angefertigte Bild von zwei Mädchen von der Gazellenhalbinsel, die zum Markt gehen (Fig. 011). Graf Pfeil*) bringt dasselbe Bild und schreibt dazu: „Noch heutigestags erscheinen die Weiber, welche den am Strande eingerichteten Markt besuchen, vollkommen unbekleidet. — Die Männer haben nicht das geringste Bedürfnis, ihre Person zu verhüllen, in ihren Wäldern gehen sie völlig nackt wie die Weiber; an der Küste jedoch hat das Machtwort der Weißen eine Art Kleidung eingeführt.“

*) Studien und Beobachtungen an der Südsee. pag. 48.

Fig. 011. Nackte Mädchen von der Grazellenhalbinsel. (Phot. Parkinson.)

Ein ähnliches Bild von nackten Niamniamfrauen, die Mehl bereiten, hat R. Buchta aufgenommen*); im ethnographischen Museum in Berlin sind eine ganze Reihe analoger Beweisstücke aufbewahrt.

Bei den Upotos sind die Männer geschmückt, die Frauen aber völlig nackt. Als Ward**) einen Häuptling nach der Ursache fragte, antwortete er: „Das Verbergen gäbe nur der Neugierde Nahrung“***).

Mit der in den letzten vierhundert Jahren sich stark ausbreitenden europäischen Kultur hat sich die Zone der absoluten natürlichen Nacktheit zwar sehr stark verkleinert, verschwunden aber ist sie noch nicht.

*) Hutchinson. Living Races of Mankind. pag. 340.
**) Zitiert bei Ellis, Studien, pag. 23.
***) Der Ausspruch dieses trefflichen Negerfürsten, der von tiefer Menschenkenntnis zeugt, ist die beste Antwort auf die abenteuerliche Behauptung Ratzels, der die nackten Völker für sittlich heruntergekommene Proletarier hält, weil die natürliche Nacktheit nun einmal in sein kulturhistorisches Schema nicht passen will. (Vgl. Ratzel. Völkerkunde. Bd. I, pag. 87 und 88.)



Dieses Kapitel ist Teil des Buches Die Frauenkleidung und ihre natürliche Entwicklung
001. Die Feuerländerin Kamana bekleidet

001. Die Feuerländerin Kamana bekleidet

002. Kamana entblößt

002. Kamana entblößt

003. Natürliche Stellung eines nackten Weibes. Javanisches Mädchen von 18 Jahren

003. Natürliche Stellung eines nackten Weibes. Javanisches Mädchen von 18 Jahren

004. Typische Stellung eines entkleideten Weibes. Italienerin von 19 Jahren

004. Typische Stellung eines entkleideten Weibes. Italienerin von 19 Jahren

005. Venus von Medici. Uffici. Traditionelle Stellung des entblößten Weibes

005. Venus von Medici. Uffici. Traditionelle Stellung des entblößten Weibes

006. Venus von Canova im Palazzo Pitti. Natürliche Stellung des entblößten Weibes

006. Venus von Canova im Palazzo Pitti. Natürliche Stellung des entblößten Weibes

007. Entkleidetes Mädchen. Sekundärer Ausdruck des Schamgefühls

007. Entkleidetes Mädchen. Sekundärer Ausdruck des Schamgefühls

008. Kauernde nackte Aphrodite. Vatikan

008. Kauernde nackte Aphrodite. Vatikan

009. Kauerndes entkleidetes Mädchen. Italienerin

009. Kauerndes entkleidetes Mädchen. Italienerin

010. Nackte Botokudenfrauen

010. Nackte Botokudenfrauen

011. Nackte Mädchen von der Gazellenhalbinsel

011. Nackte Mädchen von der Gazellenhalbinsel

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